Sonntag, 8. November
- Mai Buko
- 8. Nov. 2020
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Nov. 2020
Am 5. November ist es plötzlich saukalt und verdammt neblig: 3 Grad.
Vor wenigen Tagen war noch der heißeste Tag der seit Menschengedenken im November gemessen wurde: 24 Grad.
Der klamme Nebel setzt sich gefühlt auf der Arbeit fort, die vielen neuen Regeln, die allergrößte Achtsamkeit nonstop, das ist alles enorm anstrengend und ungemütlich.
Um es dennoch warm und liebevoll zu gestalten, machen wir bei einer Aktion mit: anstatt der Laternenzüge zu St. Martin, die ja wegen Corona abgesagt wurden, hängen wir Laternen in unsere Fenster.
Die Idee ist mal wieder ganz süß, die Umsetzung bleibt natürlich an mir hängen. Ich kaufe also zig batteriebetriebene Lichterketten und ein Dutzend Laternen, den Rest werden wir aus Butterbrottüten basteln, ich muss so auf circa 72 Laternen kommen, damit wenigstens die Fenster an der Front und der rechten Seite des Hauses auf drei Etagen beleuchtet werden können, dazu noch die 6 Gruppenräume, damit unsere Bewohner auch was davon haben.
Eine nervige Angelegenheit, weil die in Plastikblister verpackten Lichterketten entpackt und dann mit ebenfalls in Verpackungen zusammengeschweißten Batterien bestückt werden müssen. Meine arthritischen Finger schmerzen dabei, sind schon ganz rauh und die offene Brandblase am linken Zeigefinger macht es auch nicht gerade angenehmer.
Durchfall ohne Ende.
Tja, Stress ist grad halt echt nicht zu leugnen.
Ich freu mich schon auf das Anbringen der Laternen, die ich über Kopf auf einem Hocker stehend an die Wand tackern muss, damit sie schön im Fenster baumeln. 72 mal.
Mein Nacken freut sich auch schon.
Anouk möchte mich deswegen ein bisschen aufheitern. Da ich eigentlich Meisterin im Spiel „Wer bin ich?“ bin, also im Nachahmen einzelner Bewohner oder Kollegen, kommt diesmal sie spitzbübisch auf mich zu und fragt: „Wer bin ich?“
Sie hebt theatralisch die Hände in die Höhe, setzt einen resignierten Blick auf und sagt:
„Wisst Ihr was? Ich mache das jetzt eben genau so wie ihr wollt! Aber es wird nicht funktionieren!“
Die Empfangskraft um die Ecke meldet sich laut lachend und sagt, dass sie mich sofort erkannt hat.
Wie bitte? Ich habe mich noch nie diesen Satz sagen hören!
Scheine ich aber offensichtlich hin und wieder zu sagen, den jeder dem Anouk das vormacht, erkennt sofort mich.
Als ich das Malte später in einer Raucherpause immer noch verblüfft erzähle, meinte er:
„Nee, ich würde dich so darstellen:“
Er stellt sich wie ein kleines Mädchen mit liebem Blick vor mich und schaukelt seinen Oberkörper hin und her:
“ Sag mal, hast du oben im Gruppenraum schon die Dekoration gesehen? Ist die nicht schön geworden?“
Okay, das ist zwar auch etwas peinlich, aber ich erkenne mich wieder. Fishing for Compliments ist meine selbstentwickelte gut laufende Strategie wenn ich Zuwendung und Lob brauche, und es wieder keiner von allein auf die Schnur kriegt, mich zu tätscheln.
Wenn ich bei Anouk fischen gehe, sagt sie sofort immer:"Prima!" und zieht das i dabei in die Länge. Manchmal brauch ich gar nicht erst was zu sagen, sie sieht schon an meinem Blick, dass ich jetzt ein "Priiiima!" brauche.
Mit den Wahlergebnissen geht es auch nicht richtig voran, die Auszählung der Briefwahl dauert an. Biden ist zwar knapp vorne, aber ich hab schon Pferde kotzen sehen. Die Prognosen sind allerdings weltweit recht optimistisch.
Als ich mich mit Tommy auf dem Severinsplatz treffe, hat er eine Decke zum draufsetzen dabei, herrlich. Kaffee von Van Dyck. Der Strassenmusikant spielt auf dem Akkordeon „I've seen that face before“. Hätte ich nicht so unfassbare Bauchschmerzen könnte man das jetzt hier mal grad echt genießen.
Ich kaufe mir beim Türken wieder frische Erbsen, weil Erbsen pulen das Schönste ist.
Bevor ich schlafen gehe ist Biden immer noch unter 270 Wahlmännerstimmen, aber ganz nah dran: 264.
Am nächsten Tag ist es noch anstrengender weil wir jetzt nur noch zu zweit im Sozialen Dienst arbeiten, alle anderen sind krank oder im Urlaub. Die zweite Kraft ist auch noch ausgerechnet die Feist. Die ist seit dem Krisengespräch mit der Heimleitung nicht besonders zuvorkommend, trotzdem komplett verändert, weil sie einfach normal ist. Bisher lässt sie mich ausreden, hört zu, gibt keine patzigen Antworten, verdreht nicht die Augen und macht auch keine blöden Sprüche, die sie ans Nichts richtet, und deren fiesen Aussagen sich zwischen den Zeilen verstecken.
Bin gespannt, wie lange sie das aushält so normal zu bleiben.
Mit Tommy wieder am Severinsplatz getroffen, der Akkordeonmusikant spielt "Billy Jean". Großartig! Kaffee bei Ludari geholt, dann in das kleine Kopfsteinpflastergässchen hinter der Severinskirche auf das Mäuerchen, auf dem wir schon beim ersten Lockdown manchmal saßen. Hier steht die Zeit echt still. Es könnte 1898 sein, oder 1972, aber kaum vorstellbar, dass wir im Jahre 2020 sind und eine Pandemie das große Thema ist.
Im Wahlkampf steht immer noch nicht fest wer es geschafft hat obwohl mittlerweile alle davon ausgehen dass es Biden geschafft hat. Trump feuert Tweets raus, verklagt sämtliche Wahlbezirke. Er ist ziemlich durchgeknallt. Als er eine Rede hält schalten ABC, CBS und NBC ihre Live-Übertragung einfach ab, weil er zuviel unhaltbaren Blödsinn verzapft.
Seine Lemminge protestieren jetzt auch überall gegen dieses "Stehlen der Wahl". Es ist alles so offensichtlich dumm, richtig peinlich.
Nervzustand: Postfaktische Politik.
Weil ich den Glauben an dieses Volk hoffnungslos verloren habe, verteidigt Tommy die guten Amerikaner, die Demokratie und die Demokraten, und einzelne Kämpfer, die es schon richten werden. Aber ich bleibe fassungslos bei dem Fakt, dass immerhin fast die Hälfte der Amis Trump wollen. Ich kann es einfach nicht begreifen.
Am Samstag gibt es in der Wahl immer noch kein Ergbnis, es wird immer noch ausgezählt, herrje. Die Briefwahl ist aufgrund von Corona halt extrem hoch ausgefallen. Aber wie lange kann denn sowas dauern?
In Deutschland gibt es derweil einen Höchststand an Neuinfizierten: über 23.000!
200 Menschen sind in Dänemark von einem mutierten Corona Virus infiziert, der sich über Nerze, die da millionenfach jetzt getötet worden sind, verbreitet hat. Dänemark ist der größte Nerzfell Exporteur der Welt. Das hätte ich ja nie vermutet.
Diese Nachricht ist ziemlich bizarr und verleitet mich dazu ein neues Endzeitzenario zu entwickeln.
Seit dem Sommer ist dieses Problem ja anscheinend schon bekannt. Die Dänen haben zwar jetzt gerade ein Landesteil total abgeriegelt, aber ist das nicht vielleicht auch schon wieder viel zu spät? Der-die-das Virus mutiert also, ein möglicher Impfstoff für den jetzigen Corona-Virus würde doch dann da gar nicht wirken. Und diese 200 Dänen können das längst auch schon verbreitet haben. Und wenn sich Nerze infizieren, der Virus dann mutiert und wieder auf den Menschen geht, bedeutet das ja dass auch jedes noch so absurde Tier (Nerze!) genauso infiziert werden kann und sich diese Mutationen dann auch wie wild verbreiten, das alles immer so weiter geht, Nerze aus Dänemark, Giraffen aus Südafrika, Gnus aus Simbabwe, Feldmäuse aus Moldavien usw., wir einfach unser Leben lang in einer einzigen Pandemie leben, und über Generationen niemals wieder ein normales Leben führen können. Im Jahre 2086 wird sowieso jeder ganz normal mit Atemgerät rumlaufen.
Endlich, Biden hat es geschafft. Trump erkennt es nicht an und plärrt wieder von Wahlbetrug. Twitter markiert seine Posts jetzt als „potentiell irreführend“. Unglaublich, wie absurd dieser Typ ist - das kann man sich nicht ausdenken.
Tommy nennt mich nun Vice President Elect und er ist natürlich President elect.
Nervwort der Woche: Narrativ.
Am nächsten Tag, am Sonntag stehe ich um 5:30 Uhr auf, weil ich sowieso andauernd wach werde, weil ich Angst habe zu spät zum Frühdienst zu kommen, der heute besonders früh anfängt, weil ich für eine Hauswirtschaftskraft einspringe, die das Frühstück und später das Mittagessen macht. Um halb 8 soll ich da sein. Fange ich halt um 7 Uhr an, dann habe ich auch früher frei. Allerdings schafft mich dieser Frühdienst enorm. Um 10 Uhr bin ich so müde, dass ich fast umkippe, und es sind noch nicht mal alle durch mit Frühstück. Manche kommen erst kurz vor 11, da muss ich eigentlich schon langsam die Tische für den Mittagstisch eindecken. Herrje!
Dann nerven zwei Bewohnerinnen so dermaßen, dass ich der einen am liebsten mal den Marsch blasen würde. Die ist nämlich nicht dement, und weiß genau was sie da tut, nämlich mich we eine Leibeigene behandeln, mich schikanieren, die Butter ist im verkehrten Töpfchen, die Frischmilch ist falsch, sie möchte Dosenmilch wie allgemein bekannt, die Wurst ist ekelhaft, sie will lieber Schinken, und warum habe ich ihre Brötchen in einen Korb mit den anderen Brötchen (für die anderen Bewohnerinnen an ihrem Tisch) gelegt? Alles in einem fürchterlichen Ton.
Um halb 11 heule ich fast, will nur noch ins Bett und alleine sein.
Später, nachdem ich mich nachmittags ins Bett gelegt hatte, und völlig desorientiert wieder aufwache, schaue ich mir die Rede von Kamala Harris, der neuen Vizepräsidentin, an, und heule wirklich wie ein Schlosshund vor Ergriffenheit.
Dann in den Tagesthemen ein Bericht über die Querdenker-Demo in Leipzig, die gestern völlig aus dem Ruder geraten ist. 20.000 Irre, darunter Nazis und Fußball-Holligans die auf Krawalle aus waren und nachts durch die Innenstadt randalierten, Journalisten und Beamte attackierten. Die Polizei war machtlos, der Mob wäre nur mit körperlicher Gewalt aufzuhalten gewesen, deshalb seien sie dem nicht nachgegangen. Unfassbar.
Um mich zu trösten für diesen verkackten Tag und für die schrecklichen Menschen, die es überall gibt, denen ich zuschauen muss, bestelle ich mir bei Dior einen Lippenstift.
Einen der die Lippen richtig einfärbt, er nennt sich „Lip Tatoo“ und färbt hoffentlich nicht in die Mundnasenmaske ab, der Grund weshalb ich kaum noch Lippenstift trage, obwohl ich Lippenstifte über alles liebe und ungefähr 5000 Lippenstifte in „Berrie“ -Tönen besitze.
Als ich Pipi letztens traf, zeigte sie sich verwundert, dass ich einen Chanel Lippenstift dabei hatte. Dabei sind wir beide früher gestorben für ein Teil von Dior oder Chanel.
Jetzt, wo sie es sich wirklich locker leisten könnte, kauft sie Lippenstifte nur noch bei dm.

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