Freitag, 13. November
- Mai Buko
- 13. Nov. 2020
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Nov. 2020
Am Montag ist es, wie die letzten Tage, weiterhin mild.
Gott sei Dank ist mittlerweile Adele aus ihrem Urlaub zurück, so dass wir uns nun die Aufgaben besser aufteilen können. Sie hilft beim Butterbrottüten-Laternen basteln und noch besser, beim anschließenden nervigem Reinfummeln der Lichterketten.
Nach Feierabend wie üblich mit Tommy auf der Bank Kaffee schlürfen. Polizei fährt im Schritttempo vorbei.
Ich: „Pass auf jetzt! 'Sie werden verhaftet, Sie sitzen nur 1 Meter auseinander!'“
Tommy: „Nein, Herr Wachtmeister, das hat alles seine Ordnung, wir sitzen exakt 2 Penislängen auseinander.“
Nachricht des Tages: Pfizer und Biontech haben einen Impfstoff gefunden, der nun auf den Markt gehen kann. Natürlich ist jetzt nicht alles vorbei. Das muss erstmal in phantastillionen Dosen produziert werden. Und wenn man in Deutschland genügend Impfstoff hätte, und es schaffen könnte 100.000 Menschen am Tag zu impfen, dann bräuchte man immer noch ein Jahr um die Hälfte der Einwohner zu impfen oder so viele dass eine Herdenimmunität entsteht.
Ich brauche noch mehr Trost und tätige bei Ebay zwei Einkäufe. Ein neues grünes Wildlederportemonnaie und eine kleine Handtasche. Beides spottgünstig, aber natürlich völlig unnötig.
Wir befinden uns an einem Dienstag im Jahre 2020 n.Chr. In ganz Deutschland beträgt die Temperatur 7 Grad. Ganz Deutschland? Nein! Eine von unbeugsamen Personen bevölkerte Stadt hört nicht auf, dem Klima Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die anderen. Aber in Köln sind es 17 Grad! Yay!
Da macht das Radeln zur Arbeit wieder richtig Spaß. Ich muss erst um 12 Uhr da sein, damit ich noch Dienst habe wenn es dunkel wird, damit Adele mit mir durch das Haus läuft, jede mit einer Laterne in der Hand die Zimmer betreten und kurz ein Martinslied ansingen, wir dürfen ja nicht wirklich singen, und dann einen Weckmann überreichen. Das ist voll niedlich weil die meisten mitsingen oder zumindest gerührt sind. Unter den 80 Bewohnern, die wir besingen, sind nur zwei die weder einen Weckmann haben wollen noch unsere Anwesenheit schätzen. Und das obwohl diese Weckmänner abgrundtief hässlich sind, manche sind an den Beinen zusammengebacken, manche haben kurze Arme, alle haben unterschiedlich lange Arme und Beine, alle haben einen Wasserkopf und viele haben nicht mal Rosinenaugen, eine Pfeife fehlt sowieso, das ist wirklich so auffallend schlimm, dass ich ein Foto von ein paar Weckmännern mache und Tommy schicke. Der fragt, ob die unter Contergan leiden.
Am Mittwoch ist Beginn der Karnevalssession. Aber natürlich ist alles verboten, an dem Tag sind alle Alkoholika in den Supermärkten zugehängt, denn es darf nichts verkauft werden. Feiern ist ein absolutes No-go. Aber eine Scheiß Querdenker-Demo lässt es sich nicht nehmen mit ein paar Idioten um 11:11 Uhr am rechten Rheinufer zu starten.
Frühmorgens ist der Chlodwigplatz und sicherlich auch andere Hotspots der üblichen Feierei von Security-Menschen besetzt. Tatsächlich sehe ich auf dem Weg zur Arbeit nur drei, vier versprengte kostümierte Einzelgänger.
Ich kann gar nicht beschreiben, wie glücklich ich bin, dass dieser Scheiß dieses Jahr verboten ist. Letztes Jahr musste ich am 11.11. schon vormittags um betrunkene, kotzende halbnackte, laut grölende Menschen Parcours fahren. Auf dem Rückweg am Nachmittag war schon fast kein Durchkommen mehr und aus jedem noch so schäbigen Loch brüllte bekackte Karnevalsmusik, kreischende Mädchen stolperten bei Rot über Kreuzungen, Glassplitter überall und der Geruch von Urin und Erbrochenem in meiner Strasse.
Dieses Jahr: Ruhe und Sauberkeit. Herrlich. Was bin ich hur für eine verknöcherte Spießerin geworden.
Ich muss heute schon bei Aldi etwas für unsere Weihnachtsdeko einkaufen. Ich hatte zwar etwas Bauchweh, aber es ging noch.
Als ich mich jedoch in die Schlange vor der Kasse einreihe, spüre ich, dass ich sehr, sehr bald auf eine Toilette muss. Mir tritt der Schweiß auf die Stirn, es sind noch bestimmt 6 Leute vor mir dran. Dass die mich hier auf ihre Toilette lassen, kann ich mir abschminken, und rege mich, mittlerweile schon halb ohnmächtig, innerlich darüber auf, wie bescheuert streng die Supermärkte bei sowas sind. Und wenn ich ihnen als Antwort hier vor die Kasse einen Durchfall-See setze? Natürlich werde ich das nicht tun, aber ich überlege weiterhin schwer atmend was ich denn jetzt machen soll. Ich lass den Einkaufswagen einfach hier stehen und renne raus. Hier im Industriegebiet ist hinter dem Laden doch wohl irgendeine Stelle wo ich mich hinhocken kann, ohne dass man mir vom Parkplatz aus zuschauen kann. Aber vielleicht auch nicht. Ich kann jetzt sowieso nicht weglaufen, weil wenn ich mich jetzt bewege geht es auf der Stelle los. Konzentration. Backen zusammenkneifen. Ich sehe Sternchen. Ok. Ich schaffe das. Ich bleibe in der Schlange und bewege mich nur zentimeterweise nach vorne, wenn es ein wenig voran geht. Ich lass vielleicht doch besser den Wagen stehen und gehe ganz langsam raus. Aber jetzt habe ich es bald geschafft, nur noch eine Frau vor mir. Ojeh! Jetzt muss die Kassenrolle gewechselt werden. Das gibt es doch nicht. Und die Alte sammelt umständlich ihre Centstücke zum bezahlen aus ihrem Portemonnaie, oh nein, sie hat sich verrechnet. Es fehlen noch 27 Cents. Ich zahl für dich mit, aber hau jetzt ab, mach voran, schreie ich sie in Gedanken an. Ich halt es nicht aus. Aber äusserlich geb ich nicht einen Funken meiner inneren Panik preis, soll keiner sagen, er habe es kommen sehen, ich hätte so rumgewackelt oder nervös in die Runde geschaut. Was ich natürlich trotzdem mache. Durchhalten. Als ich endlich, endlich bezahlt habe, muss ich kurz hinter der Kasse stehen bleiben und mich völlig darauf konzentrieren alle Schleusen geschlossen zu halten. Also nicht bewegen. Puh, geht wieder. Was die Leute von mir denken ist mir jetzt doch einigermaßen egal. Na und, dann steh ich da halt mal kurz im Weg rum. Ich hab schon ganz andere Irre gesehen. Weiter geht's. In Hühnerschritten. Jetzt Fahrrad aufschließen. Oh Gott, es kommt, oder? Schnell hinter das Haus? Backen zusammenkneifen!!! Schwindelattacke aushalten, Schweiß von der Stirn wischen, Mundmaske abreißen. Und drauf auf den Sattel, das scheint die Lösung zu sein, der Sattel hilft. Schnell zurück radeln. Als ich am Hintereingang ankomme steht die Tür offen und ich fahre kurzentschlossen mit dem Rad ins Haus rein, vorbei an des Pflegeleiters Büro, bis kurz vor die Toilette, schnell den Ständer runter, Tasche und Jacke auf den Boden schmeißen, schnell in die Toilette gesprintet, keine Zeit zum Türe verschließen, runter mit den Klamotten und sofort, aber wirklich in allerletzter Sekunde, geschafft. Lieber Gott, ich bin Dir dankbar. Ich werde ein guter Mensch, ich werde nicht mehr böse über andere reden, ich versuche altruistisch und demütig zu sein. Danke, danke, dass du mir diese Katastrophe erspart hast.
Am Donnerstag muss ich wieder einkaufen gehen, wieder in diesem Industriegebiet wo es auch einen Drogeriemarkt gibt.
- Kennt einer eigentlich noch originale Drogerien? Das waren immer feine kleine Läden, ich kam mir als Kind jedenfalls immer sehr vornehm vor, wenn ich in unsere Drogerie musste.-
Nur heute ging es mir weitaus besser als gestern. Nach meiner Durchfall-Panik-Attacke war ich so geschwächt, und spürte wieder all meine schmerzenden Knochen und meinen verspannten Nacken vom Laternen aufhängen, dass Marie mir gestern für nach der Arbeit eine Massage anbot, die ich gerne unter dankbaren Tränen annahm.
Weil ich wegen der fehlenden Durchfallangst erleichtert war, geriet ich in Spendierlaune. Im Drogeriemarkt holte ich fast alles was das Sortiment für Schwangere hergab. Beinelixier für geschwollene Beine, Nippelsalbe, Mami-Feuchttücher, Mami-Body-Öl, Babyobstbrei (schmeckt ja auch werdenden Mamis gut) Entspannungsbadezusatz usw. Die Sachen verpackte ich alle schön am Geschenkverpackungsstand, verzierte das Ganze mit Schleifchen und Löckchen aus dem Geschenkband. Alles für Anouk. Sie soll nicht denken, dass ich mich nicht gebührend freue, dass sie schwanger ist. Ausserdem ist sie heute nicht so gut drauf, deshalb darf sie sich ab heute jedesmal wenn sie nicht gut drauf ist, ein Geschenk aussuchen. Aber sie darf es nicht abtasten um möglicherweise zu erkennen was da drin ist. Und wenn sie besonders lieb zu mir ist, bekommt sie auch eins. Jammern oder schleimen. Als erstes zieht sie das Beinelixier.
Heute, am Freitag den 13. kommen mich meine beiden Kinder besuchen, Marie kocht für uns alle ein herausragendes Abendessen: Hühnerfrikassee.
David reist nämlich morgen mittag nach Zypern, er will bis Weihnachten dort zu seiner Freundin, die da seit einem Monat einen Job als Brokerin hat.
Ich finde diese Idee überhaupt nicht gut, er befindet sich gerade aufgrund von Corona in einem finanziellen Loch, wäre dann von ihr abhängig, und deren Beziehung würde ich als nicht gerade stabil bezeichnen, dazu die Corona-Situation, die sich jeden Tag ändern kann, und zu Quarantänen oder Abreiseaufforderungen führen kann, und überhaupt, alles viel zu riskant, viel zu viel „mal schauen was wird“. Auf der anderen Seite verstehe ich ihn gut. Er vermisst sie, sie vermisst ihn, Köln und Deutschland nervt und bremst ihn, da am Meer ist es warm und schön. Wir thematisieren das also nicht und verbringen einen lustigen letzten Abend zusammen.
Als sie weg sind schaue ich mir die Tagesthemen in der Mediathek an: Bataclan ist tatsächlich schon 5 Jahre her, Trump hat plötzlich keine gelben Haare mehr, in den Niederlanden wird es an Silvester kein Feuerwerk geben, damit sich die medizinischen Notdienste nicht auch noch um Verletzungen durch Feuerwerkskörper kümmern müssen. Leuchtet ein.
Wegen mir können die das hier genauso machen. Denn natürlich nervt mich an Silvester diese Knallerei enorm. Ich liebe Feuerwerk, wirklich, aber nur schön choreografiert. Von Italienern oder Chinesen oder so. Aber nicht diese stupide Abfackelei die hier in den Strassen gezündet wird.
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