Dienstag, 24. November
- Mai Buko
- 24. Nov. 2020
- 14 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Nov. 2020
Beim beliebten Gedächtnistrainingsspiel „Stadt, Land, Wort“ habe ich die Rubrik „ein schönes Geschenk für Mai Buko“ eingefügt, die Bewohner überlegen sich bei jedem Buchstaben schöne Geschenke für mich, Gold, Pelzmantel, Jasmin und Marzipan. Nur Herr R., den ich beim letzten Mal gerügt hatte, weil er Frau W. immer so blöd nachäffte, schenkt mir einen „Maulkorb“. Frau W. gibt bei einer Stadt mit „G“ Geruhsalem an.
Frau R. bleibt beim Klassiker, der immer wie aus der Pistole geschossen kommt, egal welcher Buchstabe gerade dran ist: „Was ist rund“ und fängt mit „G“ an?:
"Ball!"
Mit J., unserem geistig und körperlich behinderten Bewohner, der gerade noch Urlaub hat, gehe ich los ein Geschenk für Anouk kaufen.
Er hat endlich auch erfahren, dass sie schwanger ist, und will ihr jetzt unbedingt ein Geschenk machen. Zuerst ist er besorgt, weil er nicht weiß, ob wir ein blaues oder rosafarbenes Geschenk kaufen sollen, da wir ja noch gar nicht wissen, was das Baby überhaupt wird. Ich überzeuge ihn, dass es Anouk sicherlich egal wäre, sie würde ihrem Jungen bestimmt auch etwas rosanes anziehen oder einem Mädchen etwas blaues.
Aber er würde ja jetzt nichts zur Geburt schenken wollen, sondern etwas für Anouk als Glückwunsch zur Schwangerschaft.
Wir finden für sie eine kuschelige Wärmflasche und für ihren Mann gebrannte Mandeln in Zimt.
Dann bummeln wir noch etwas und schauen uns einen „Unverpackt“-Laden an, das kannte J. noch nicht. Er bestaunt lautstark die ganzen transparenten Rohre mit Mehl, Nudeln und was man sonst noch so da in kleinen Portionen abzapfen kann. Das Konzept mit der Verpackung von zuhause gefällt ihm. Den beiden Verkäuferinnen gefällt, dass es J. gefällt.
Es ist immer wieder bezaubernd, wie ein 59jähriger Mann in seiner Verzückung wie ein Kind reagiert und alle mitreißt.
Als ich ihm ganz unspektakulär Tee „für Männer“ zeige, bricht er fast zusammen vor Lachen, er glaubt offenbar, das wäre etwas Anzügliches und hält sich die Hand vor den Mund, ruft lustig empört meinen Namen, schaut sich um, ob jemand diesen frechen Kracher von mir noch mitbekommen hat. Die Verkäuferinnen amüsieren sich natürlich auch, aber über ihn. Er denkt nach, über diesen Tee für Männer, und setzt jetzt noch einen drauf:
„Dann muss es ja auch einen Tee für Frauen geben!“
und wieder fällt er fast hin vor Lachen, kriegt kaum noch Luft. Dabei kommt er an den Gemüsestand und Mangold fällt runter. Er entschuldigt sich tausendmal, aber das macht doch nichts, dann bedankt er sich und fragt mich, ob wir bald wieder herkommen, er mit einem leeren Marmeladenglas, das er dann mit Tee befüllen will. Aber na klar.
Auf dem Rückweg muss ich ihm leider nochmal erklären, warum ich dieses Jahr nicht mit ihm seine Geburtstagsfeier machen kann. Die letzten Jahre hatte ich meinen Dienst immer so gelegt, dass ich an seinem Geburtstag am 6. Dezember bis spät abends da bin, damit ich für ihn und seine geladenen Gäste, ein paar Bewohner aus seinem Wohngruppenbereich, etwas koche, einen Tisch festlich decke, Wein besorge und Helene Fischer im Hintergrund läuft. Dieses Jahr können wir das wegen der Corona-Regeln bei uns im Haus nicht so richtig umsetzen. Das wollen wir dann im Sommer, wenn es sehr wahrscheinlich wieder einfacher ist, im Garten nachholen. Denn er wird immerhin 60.
Wieder zurück stoße ich auf die aufgelöste Frau K.. Sie erzählt mir sofort von Rudi, der eben noch da war, und jetzt weg ist, er habe sich doch bei ihr entschuldigt, dafür, dass er sie damals allein gelassen hat, und das Kind, das die 15-Jährige aus der Nachbarschaft bekommen hat, war gar nicht von ihm, das war nur ein Gerücht. Jetzt wollen sie morgen heiraten und sie findet ihn nicht. Mann müsste doch noch Einiges vorbereiten. Und ausserdem, jetzt bricht sie völlig in Tränen aus, habe man ihr gestern erst gesagt, dass ihr Papa gestorben sei. Schon vor drei Wochen, und niemand hat ihr Bescheid gesagt, sie konnte nicht mal auf die Beerdigung gehen. Und wo ist Rudi nur?
Mit aller Kraft versucht die 97jährige ihren Rollstuhl zu bewegen, um ihn zu suchen. Es dauert eine Zeit, bis ich sie beruhigen kann, komplett in die reale Welt zurück holen kann ich sie nicht, deshalb hatte ich ein validierendes Gespräch mit ihr geführt, ihre Traurigkeit wahrgenommen, ihre Enttäuschung und Verwirrtheit, darüber kamen wir dann ins Gespräch über ihr sehr gutes Verhältnis, das sie zum Vater hatte, und sie konnte mir lächelnd von Erinnerungen erzählen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Oder über die Liebe ganz allgemein, wie schön es ist, verliebt zu sein, und wie schmerzhaft Sehnsucht sein kann. Als sie wieder ruhiger war und Kaffee trinken konnte ohne ihren Rudi zu suchen, ging ich auf die nächste Etage, wo mir fröhlich Frau Z. entgegenkam. Sie hat richtig gute Laune, bestätigt mir das auch, als ich sie frage, denn gleich kommt ihre Mutter, die holt sie ab, und sie kann endlich wieder nach Hause. Sie packt jetzt schon mal ein paar Sachen.
Ich lasse sie packen, sie ist ja gut drauf, warum sie jetzt davon abbringen?
Ich muss jetzt ein paar Listen anfertigen, mir Gedanken machen, welcher Bewohner sich über welches Geschenk freuen würde. Wieder so eine süße Idee, für die ich mir dann den Kopf zerbrechen darf.
Drei verschiedene Organisationen haben sich bei uns gemeldet, sie möchten den Bewohnern zu Weihnachten eine Freude machen. Der Nachbarschaftsgruppe sage ich einfach, dass die Bewohner sich alle über selbstgemalte Bilder von Kindern freuen. Check. Für die anderen beiden fertige ich Listen an, und trage für J. schon mal ein schwarzes Leder-Portemonnaie ein, weil ich eben gesehen hatte wie verschlissen seins ist. Check.
Die eine Organisation hat pro Bewohner ein Budget von 30 Euro angegeben. Das ist allerhand. Liegt wohl an Corona.
Letztes Jahr hatte sich nur die Nachbarschaftsgruppe gemeldet, worauf wir einen „Wunschbaum“ aufgestellt hatten, mit Zettelchen einzelner Bewohner dran, die die Nachbarn einzeln abgezupft haben und dann kurz vor Weihnachten zum Geschenke überreichen kamen, und so auch ihre Beschenkten kennenlernen konnten. Wir planten dann noch mehr Interaktionen, vor allem mit den Kindern und den Bewohnern, aber dann kam ja Corona.
Nach Feierabend Treffen mit Tommy auf der Bank beim Forum. Die ist voller Taubenscheiße, aber nicht nur das nervt, er ist frustriert, weil seine Leasing-Anfrage bei einem E-Roller-Anbieter abgelehnt wurde. Krass, das liegt bestimmt an seinen unsteten Einnahmen während der Anfangszeit von Corona. Er hatte sich schon so gefreut. Letztes Wochenende hatte er sich extra genau so einen Roller zum Probefahren von einer Freundin geliehen.
Nervwort des Tages: Salamitaktik
Obwohl ich noch Muskelkater vom gestrigen Online Yoga mit Mechthild habe, walke ich mit meiner Nachbarin 20 Minuten um den Trude Herr Park. Eigentlich wollten wir uns ja zeitlich steigern, irgendwann bei einer ganzen Stunde Walking landen, aber da wir es so oft ausfallen lassen, fangen wir praktisch immer wieder von vorne an, so dass schon allein 20 Minuten immer wieder eine Hürde darstellen.
Am lang ersehnten 19.11., der Tag, an dem die neuen Playstation ausgeliefert werden, ist Marie bei mir zuhause, weil David sich zwei PS5 zu mir nach Hause hat schicken lassen, eine für ihn, eine für einen Freund. Ich soll die dritte, die er für einen weiteren Freund bestellt hat, nach meiner Arbeit bei Saturn abholen. Da hab ich mal richtig Bock drauf. Allerdings hat David noch nicht die definitive Zusage zur Abholung, da bin ich nicht traurig, dass das verschoben wird.
Bei mir Zuhause kam erstmal nur eine an, morgen die andere. Marie hatte den ganzen Tag bei mir verbracht und in der Wartezeit zwei leckere Brote gebacken.
Auf der Arbeit hatte ich mit einigen Bewohnern, darunter J. und Frau Z., Schneemänner aus weißen Strümpfen gebastelt. Alle hatten Angst, es nicht hinzukriegen, und waren am Ende so dermaßen stolz einen eigenen kleinen Schneemann in der Hand zu haben, das war zu rührend. J. konnte zumindest etwas Reis in die Strümpfe füllen, aber Knoten machen konnte er nicht, wie er mir weinerlich gestand. Frau Z. fuselte Fäden von einem Streifen Stoff ab, so dass es ein winziger Schal mit Fransen wurde. Nur ein Ehepaar war eigentlich halbwegs fähig die Anfangsschritte allein zu basteln. An die Heißklebepistole, mit der man die kleinen Pompoms als Knöpfe auf den Bauch kleben konnte, ließ ich eh keinen ran.
Eigentlich machte ich fast alles alleine, aber beim Design hatte jeder seine eigene Vorstellung, und irgendeine klitzekleine Kleinigkeit hatte dann doch jeder dazu beigetragen können, sodass wirklich jeder mit Fug und Recht behaupten konnte, das selbst gemacht zu haben. Andere Bewohner, die nicht mitgemacht hatten, schauten später ungläubig, aber wollten auf jeden Fall, dass ich das wiederhole, denn sie wollten auch so einen putzigen Schneemann haben.
Abends mit Tommy im Regen neben der Bank gestanden. Das macht echt bald kein Spaß mehr. Die sollen ab Dezember bitte wenigstens wieder die Aussengastronomie erlauben. Das würde doch auch echt Sinn machen. Dadurch würde dann das Aufeinanderhocken und gegenseitige Angestecke in den Wohnungen weniger werden.
Am Freitag bin ich auf der Arbeit furchtbar genervt. Erst von einem Kollegen, der sich vor einer Aufgabe drückt und mich anlügt, dann von einer Bewohnerin, bei der ich mich sowieso frage, warum sie überhaupt in einem Pflegeheim wohnt, weil sie alles kann und keinerlei Hilfe braucht, aber alle Mitarbeiter durch ihre Forderungen und Neugier nervt.
Frau A. liegt im Sterben. Sie ist einer der noch wenig verbliebenen Bewohner, die seit Anfang an, seit Eröffnung unseres Hauses vor sechseinhalb Jahren, hier sind. Das geht mir natürlich noch mal anders nahe, weil ich auch mit ihr sehr vertraut war.
Vor zwei Tagen hatte sich sie noch in ihrem Zimmer besucht, sie freute sich sehr, es sammelten sich sogar Tränen in ihren Augen, sie drückte schwach meine Hand und bedankte sich liebevoll. Als ich heute ihr Zimmer betrete, nimmt sie schon nichts mehr wahr, ihre Augen sind geschlossen, Schnappatmung hat eingesetzt.
Ich streichle sie trotzdem über ihre Arme, sage ihr, wie lieb ich sie hatte, was für eine tolle und schöne Frau sie war, und wünsche ihr alles Gute. Ihr Mann, der schon seit heute Vormittag da ist, ist gerade nicht anwesend. Er räumt schon mal das Zimmer leer, trägt andauernd Zeug runter und bringt es in sein Auto und fährt es auch Hause. Da ist wirklich krass. Selbst ich trau mich kaum, sie zu verlassen, denke, es wäre doch schön für sie, wenn ich hier bliebe und ihre Hand halte. Aber natürlich geht jeder anders damit um, wenn ihm jemand gerade wegstirbt. Ihr Mann war auch sonst schon ein kauziger Typ, der nicht gerade vor Zärtlichkeit strotzte. Mit dieser Beschäftigung betäubt er vielleicht seinen Schmerz. Und natürlich gibt es Menschen die irgendwie warten, bis niemand im Zimmer ist, um dann endlich für immer einzuschlafen.
Keine zwanzig Minuten später ist es dann soweit. Frau A. ist gestorben. Da ich gerade in der Nähe bin, als der Pfleger, der es festgestellt hat, aus dem Zimmer kommt, gehe ich nochmal zu ihr rein, um mich zu verabschieden. Und aus Neugier. Wie sie wohl jetzt aussieht?
Sie sieht entspannt aus. Wie allerdings jeder Verstorbene, den ich gesehen habe. Ihre Haut ist sofort sehr gelblich. Das ist jedesmal ein wenig gruselig, wie schnell das geht, dass sich die Haut verfärbt und wie unnormal das sofort aussieht.
Aber ich hatte sie so gerne, ich freue mich für sie, dass sie wirklich nicht lange leiden musste und wünsche ihr in Gedanken nochmal alles Liebe.
Ich hab schon um 15 Uhr Feierabend und treffe mich mit Tommy an gewohnter Stelle. Oval Office, wie wir die Bänke vorm Forum nennen.
Mechthild kommt zufällig vorbei und gesellt sich etwas zu uns. Wir schnacken über alles Mögliche, über ihren Acker in der Eifel, darüber, wann das beste Alter ist, um Kinder zu kriegen, dass Tommy endlich auch mal online Yoga mitmachen soll, in der Zeit schnorrt sie sich zwei Zigaretten von mir, um mit mir zu rauchen. Das liebe ich immer sehr, wenn meine Yogameisterin raucht.
Wenn Menschen, von denen man es nicht erwartet, weil sie so weise oder sportlich oder sonst wie perfekt sind, rauchen, finde ich das immer großartig. Dass sie so eine dumme Schwäche haben, ist tröstlich.
Bei meiner verehrten Deutschlehrerin aus dem Leistungskurs war das ein toller Moment als ich sah, wie sie rauchte.
Oder als ich kürzlich unserer Heimleiterin gestand, dass wahrscheinlich Ranga Yogeshwar der perfekte Mann für mich sei, erzählte sie mir, dass sie ihn mal im Flughafen in der Raucherlounge rauchend angetroffen habe. Wow, das hätte ich nie und nimmer gedacht, eigentlich glaube ich es immer noch nicht, aber es freut mich, weil es zeigt, dass ich eigentlich doch sehr gut zu ihm passe.
Als uns Mechthild wieder verlässt, freut sich Tommy darüber, dass sie mir mal die Leviten gelesen hat und wiederholt kichernd sämtliche Aussagen von ihr: „Liebes Frollein, das glaubst du nicht und ich auch nicht!“ „Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“ „Jetzt halt aber mal den Mund, er hat es anders erlebt, das lässt du jetzt mal so stehen.“
Nur so strenges Zeug, über das ich aber lachen musste, weil Mechthild, die Weise, das darf. Tommy kriegt sofort Paroli, wenn er mich anstänkert.
Abends koche ich den köstlichsten Grünkohl mit Mettwürstchen seit Jahren.
Muss Tommy mal 'nen Credit geben. Auf sein jahrelanges Drängen habe ich nachgegeben und schaue jetzt endlich „The Crown“. Okay, okay, ist schon ganz toll.
Wobei mich als alte Dokumentationsliebhaberin die Darstellungen und angeblichen Gepflogenheiten der königlichen Herrschaften ein wenig ärgern. Niemals ist die Queen nackt schlafen gegangen! Niemals gab es es Zärtlichkeiten zwischen Charles und seinen Eltern! Niemals sahen wirklich alle aus wie Models, wenn auch Elizabeth und Margaret zugegebenermaßen echt schöne Frauen waren. Es ist ganz unterhaltsam und ich werde alle Staffeln anschauen, danke Spatzl.
Am Samstag habe ich frei und bin auch einigermaßen gut gelaunt. Aus irgendeinem Grund denke ich ab dem späten Nachmittag, wir hätten Sonntag. Da ich so beschäftigt mit Schreiben bin und es immer später wird, gestatte ich mir einfach mal ziemlich spät erst zu kochen, und die Haare wasche ich mir dann vorher auch noch aufwändig, denn ich habe ja morgen Spätdienst, muss erst um halb 12 da sein, kann spät zu Bett gehen und ausschlafen.
Als ich unter der Dusche stehe und mit dem harten Massagestrahl stundenlang den ganzen Schaum aus meinen Zotteln spüle und mir schon vorstelle, wie ich gleich um 22 Uhr die Rinderfiletspitzen zurechtschneide für mein Pastagericht, da fällt mir siedend heiß ein, dass morgen erst Sonntag ist, ich Frühdienst habe und Lukas beim Frühstück ablösen soll, damit er noch schnell den anderen in der Pflege helfen kann. Ohgottogott. Jetzt muss ich nach dem Essen mindestens eine Stunde warten, sonst kriegt man doch Alpträume. Ich komme also erst weit nach Mitternacht ins Bett.
Das macht aber offensichtlich nichts, weil ich es schaffe, Lukas um kurz nach 9 abzulösen. Der Dienst ist auch sonst ganz angenehm.
Frau S. sitzt seit dem Frühstück an ihrem Platz und beobachtet, wie ich aufräume, die Spülmaschine erst einräume, eine halbe Stunde später wieder ausräume, wir plaudern zwischendurch und sie nennt mich eine gute Fee.
Ab halb 12 hat sie aber ihre zeitliche Orientierung verloren und fragt mich, ob sie gehen kann, sie sei doch schon fertig.
Ich erkläre ihr, dass es um 12 Uhr, also in einer halben Stunde, Mittagessen gibt, das lohne sich ja nicht wirklich.
Da stimmt sie mir zu und bleibt sitzen. Nach 5 Minuten fragt sie mich:
„Entschuldigen Sie, Mai, ich bin doch schon fertig, kann ich jetzt auf mein Zimmer gehen?“
„Sie dürfen alles was Sie wollen Frau S., aber in 25 Minuten gibt es schon Mittagessen.“
„Na, das lohnt ja nicht, da bleibe ich lieber hier.“
Um 20 vor 12 fragt sie erneut, auch noch mal um viertel vor, und um 10 vor.
Als sie um 5 vor erneut fragt, gebe ich ihre einfach schon mal die Vorsuppe, obwohl wir alle angewiesen sind, wirklich nicht vor 12 Uhr das Essen auszuteilen.
Frau Z. hat morgens blendende Laune, doch als sie mittags zum Essen in den Gruppenraum gerollt kommt, motzt sie schon bevor sie an ihrem Platz ist.
„Eine Unverfrorenheit! Also wirklich!“
Keine Ahnung was sie hat, aber ich stimme sofort ein:
„Ja aber wirklich! Das gibt es doch nicht!“
„Nein, also wirklich, das ist eine Unverschämtheit!“
„Was eigentlich genau nochmal, Frau Z.?“
„Ja hier, da lassen die ein benutztes Glas stehen, das ist ja widerlich!“
„Das ist noch von Ihnen, das haben Sie eben stehen gelassen!“
„Von mir? Nie im Leben! Ich war ja gar nicht hier. Das ist eine richtige Unverschämtheit. Ich werde dieses Restaurant bestimmt nicht mehr betreten!“
Dabei nimmt sie ein Messer in die Hand und betrachtet es argwöhnisch.
„Aber hier habe ich selbstverständlich ein neues Glas! Schauen Sie mal. Ach, ist das Besteck auch zu beanstanden? Warten Sie einen Moment bitte!“
Ich hole ein Küchentuch schnappe mir das Besteck, und während ich das Messer, die Gabel und den Löffel poliere, pfeife ich ein fröhliches Liedchen.
„Bitte schön Frau Z. Ist das gut so? Kann ich noch etwas für Sie tun?“ frage ich sie zwitschernd und tänzel ein wenig vor ihr rum. Da kann sie nicht mehr lange böse blicken und muss bald lachen. Alles wieder gut.
Frau Sch. wird kurz vor 12 an ihren Platz gefahren, sie hat bis eben geschlafen. Ihren Frühstücksteller räume ich bis auf ein halbes Milchbrötchen mit Marmelade und den Kaffee weg, damit sie sich gleich anschließend mit Appetit ans Mittagessen machen kann.
„Guten Abend allerseits!“ begrüßt sie die Runde und wendet sich an mich:
„Können Sie mir bitte sagen, wie ich hierher komme und wo ich hier bin?“
Später meldet sich David per Videotelefonie, es geht ihm gut, sogar sehr gut, das Klima bekommt ihm hervorragend, er überlegt, im Januar seine Wohnung in Köln aufzulösen, um dann ganz zu seiner Freundin herzuziehen, sie suchen schon eine Wohnung in Nicosia, da, wo sie momentan untergekommen sind, ist doch ein wenig abgelegen.
Puh, da muss ich erstmal schlucken.
Er erklärt mir, dass er das was er machen möchte von überall machen kann, er arbeite gerade zeitgleich an zwei Projekten, er animiere Grafiken, ausserdem sei er ja jetzt eh Fachmann in Marketing, er kriege das schon hin.
Ich bin zwar sofort mütterlich besorgt, verbiete mir aber augenblicklich auch nur ein Sterbenswörtchen des Bedenkens zu sagen.
Der Junge nabelt sich ab! Endlich! Ich muss jetzt auch wirklich loslassen.
Also wünsche ich ihm viel Glück erstmal und dass sich seine Pläne großartig anhören.
Später treffe ich mich mit Marie, meinem Lieblingsneffen Mateo und meiner schwangeren Lieblingsnichte Milena virtuell in dem Online-Spiel, „Among us“, wir sind über Discord verbunden und können uns darüber freisprechend unterhalten. In dem Spiel geht es um „Crewmates“ und „Impostors“, denen am Anfang jedes Spiels Aufgaben zugewiesen werden, die Crewmates müssen die Impostors entlarven und nebenbei irgendwelche „Tasks“ erfüllen. Der Impostor muss möglichst unentdeckt alle Crewmates killen.
Das Ganze spielt in einem Raumschiff, die Figuren erinnern mich an kleine Barbapapas, mit dicker Nase, oder Mundnasenmaske, die man selber noch etwas farblich oder mit merkwürdigen Kopfbedeckungen verändern kann. Mateo erklärt uns also alles, wir sind nur zu viert, also gibt es nur einen Killer. Wir machen ein paar Übungsspiele, ich verliere sofort die Orientierung, wenn ich auf die Map klicke, um zu sehen wo ich gerade bin oder wo ich hin muss, werde ich schon gekillt. Das ist so süß und lustig, ich bin wahnsinnig aufgeregt, mein rechter Zeigefinger, mit dem ich die Laufrichtung meiner Figur bewege schmerzt arthritisch schon nach 5 Minuten. Dann stellt Mateo auf „Public“ und 6 weitere ulkige Männeken in bizarren Kostümen und obskuren Namen erscheinen in unserem Raumschiff. Die Rollen werden verteilt, diesmal gibt es zwei Impostors, ein Gewusel sondergleichen entsteht, als alle irgendwohin losrennen. Vor allem mit diesen neuen Figürchen will ich nicht allein in einem Gang oder Raum sein, das kann ja immer ein Killer sein. Mit meiner Familie bin ich immer noch per Audio verbunden, mit den anderen Teilnehmern kann man per chat kommunizieren. Per chat werden auch die Verdachtsmomente ausgetauscht. Wenn die Killer entlarvt sind, ist das Spiel zu Ende und die Crew hat gewonnen. Oder die Killer haben es geschafft, alle zu töten, dann haben die gewonnen. Ein Spiel dauert nur wenige Minuten und ist extrem hektisch. Über unseren Audiokanal kreischen wir was das Zeug hält, geben uns Tipps, lästern über die fremden Spieler, das ist ein total überdrehter Spaß.
Wir machen aus, dass wir das jetzt öfter zusammen spielen. Früher, vor Corona, haben wir uns regelmäßig bei mir getroffen und Spiele-Abende mit einem traditionellen Spaghetti Bolognese Essen gemacht. Mittlerweile wohnt Milena in Freiburg, was bei diesem Spiel natürlich kein Hindernis darstellt.
Ich habe Sonnenblumenkerne in einer Schale für hungrige Vögel auf meinem Fensterbrett aufgestellt. Ein Eichhörnchen hat das schon vor Tagen entdeckt und kommt jetzt täglich zum Frühstück vorbei. Ich kann ganz nah an die Fensterscheibe gehen, es sieht mich nicht. Ich filme es jetzt häufiger, habe auch schon mehrere Portraits gemacht, am beeindruckendsten sind die Händchen von diesem hübschen Tierchen. Es hat ganz lange zarte Pianistenfinger. Ich wünschte, ich könnte mich mit ihm anfreunden, so wie der Typ in dem Film mit dem Kraken. Eines Tages würde es zu mir reinkommen und mir sein Pfötchen geben und sich vorstellen. Angenehm, Jolanda mein Name. Und dann würde ich ein kleines Barbie-Klavier besorgen, worauf sie bald anfängt zauberhaft Erik Satie zu spielen. Gemeinsam würden wir musizieren, Jolanda und ich, vielleicht bekomme ich noch einen Mini-Flügel, und dann begleite ich sie am Schlagzeug.
Da ich gestern schon um 9 Uhr abends völlig erschöpft eingeschlafen bin, und um 4 Uhr morgens wieder hellwach wurde, meine Gedankenspiralen zu nichts führten ausser zu noch mehr Unruhe, stand ich halt gegen 5 auf, ging in die Küche, machte mir einen heißen Kakao und ein Brot mit Honig. Das allein machte mich leider auch nicht wirklich müde.
Gott sei Dank habe ich heute frei, deswegen brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, aber ich wollte um 9:30 Uhr beim Online Yoga mitmachen. Das werde ich wohl verpennen.
Als ich eine Doku über Kleopatras kleine Schwester gesehen hatte, ging ich gegen 7 wieder zu Bett und machte zum Einschlafen einen WDR Zeitzeichen-Podcast an.
Die Doku war übrigens sehr interessant, bei Ausgrabungen in der Türkei wurden ihre Gebeine gefunden, um herauszukriegen, dass es sich tatsächlich um die Schwester der berühmten Kleopatra handelte, war viel archäologische Detektivarbeit nötig. Sie konnten sogar eine dreidimensionale Darstellung ihres Gesichtes herstellen, sie war, wie auch ihre Schwester, von ausgesprochener symmetrischer Schönheit. Und der Hammer war, das festgestellt wurde, dass sie, und somit auch Kleopatra, mehr afrikanische als griechische Wurzeln hatte. Das freute die Archäologen ungemein, weil damit die Geschichte umgeschrieben werden müsste. Das lieben sie, die Archäologen.
Gott sei Dank wurde ich dann doch noch rechtzeitig wach, so dass ich am Yoga-Kurs teilnehmen konnte. Als ich damit fertig war, hatte ich eine Nachricht von Tommy erhalten: „Trump hat endlich aufgegeben!“ Priiiiima!
Auch wenn der Tölpel immer noch twittert, dass er weiter kämpfen und siegen wird, hat Biden jetzt endlich Zugang zur Regierungs-Infrastruktur.
Gestern ist überraschend Karl Dall gestorben.
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