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Sonntag, 7. Juni

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 7. Juni 2020
  • 4 Min. Lesezeit

Am Freitag hatte ich noch mit Anouk aufwändig einen Alternativplan ausgetüftelt, wie wir vorgehen, falls es am Wochenende regnet und keine Besuche draussen stattfinden können. Die drei Besucherplätze in der Cafeteria müssen genau getaktet werden, wer wann dann da reindarf.

Aber es regnet nicht, es ist nicht mal kalt, trotzdem haut der Plan heute wieder mal vorne und hinten nicht hin.

Gestern hatte auch wenig so geklappt wie geplant, wie Kollegin Alma mir auf einem Zettel beschreibt, den sie mir auf die Tastatur legte.

Zeiten werden vertauscht, dann gibt es plötzlich Doppelbelegungen. Angehörige kommen gar nicht oder später und müssen neu geplant werden.

Eine Angehörige, die eine Dreiviertelstunde zu spät kommt, glaubt vielleicht durch ihren semiprominenten Status Sonderrechte zu haben und marschiert durch den Haupteingang bis zu meinem Dienstzimmer, als gäbe es kein Verbot das Haus zu betreten, und fragt mich, ob nicht doch noch ein Besuch stattfinden könnte.

Das nervt, strengt an, macht echt kein Spaß.


Aber das Überraschendste ist, dass Frau St. von den Toten auferstanden ist. Besser gesagt, von den Sterbenden. Ihn ihrem Bett wurde sie heute vormittag so unruhig, dass die Pflege Sorge hatte, dass sie da jeden Moment rausfällt, also haben sie sie mobilisiert, und sie kommt mir schon mit „Bitte!!“- Rufen im Rollstuhl entgegen.

Sie wirkt wahnsinnig getrieben, ihr Blick wieder flehend, und dabei in die Ferne gerichtet, ich komme gar nicht zu ihr durch. Sie erkennt mich auch nicht, gibt an, mich noch nie zuvor gesehen zu haben. Ich kann ihr höchstens auf Entscheidungsfragen ein Ja oder Nein entlocken, und selbst diese Fragen beantwortet sie kaum.

Sie ist irgendwie gar nicht mehr hier, bei uns, in einer Umgebung, die ihr vertraut ist, sie ist wieder furchtbar lost, dabei unruhig als gäbe es etwas unfassbar Wichtiges für sie zu tun, ohne dass sie weiß was. Ich begleite sie ein wenig, sie lässt sich auch die Hände streicheln, wird kurz ruhiger, sie nimmt auch ein Getränk an, ich schiebe sie dann in den Gruppenraum, damit sie dort gleich zu Mittag essen kann.


Der Tag fliegt durch all diese vielen kleinen geplanten und ungeplanten Aufgaben nur so an mir vorbei, ich muss sogar etwas länger bleiben als gedacht, bin am Ende wieder sehr erschöpft und beschließe mich zu belohnen, indem ich mich zum Essen einlade.


Gestern war es nämlich auch schon so frustrierend, weil die Kabel und der ganze Scheiß mit der Videokamera nicht im geringsten funktionierte. Ich rief Peter an, der mir auch nicht weiterhelfen konnte. Ich hab alles, wirklich alles ausprobiert, Youtube Tutorials geguckt, die Seite des Herstellers dieses Grabbers auseinandergenommen, auf der Apple Seite Lösungen gesucht.

Nichts. Niente. Nada.

Daraufhin hatte ich mir mit Kopfhörer für den Ton ein paar Cassetten im Sucher der Kamera in schwarz weiß angeguckt.

Diesmal war es erschütternd, wie doof ich bei den Aufnahmen war, wie schlimm ich rede, wie furchtbar ich mich verhalte, wenn ich dann mal gefilmt wurde.

Aber es gibt auch interessantes Material, schön zu sehen, wie es mir offensichtlich schon vor 30 Jahren wichtig war, Menschen zu portraitieren und Zeitdokumente zu schaffen.

Dann fand ich Aufnahmen von 1998 wo ich wohl unbeabsichtigt die Kamera laufen ließ, das Bild ist schwarz und ich hörte mir zu, wie ich mich mit verschiedenen Leuten unterhalte während wir vor dem Stadtgarten sitzen und uns über die Party, die gerade im Studio 672 läuft, unterhalten. Manche Stimmen erkannte ich nicht einmal, obwohl wir da sehr vertraut miteinander reden, dann kommt Justus und stellt mir Schlampeitziger vor, das war ganz witzig, weil es genau den Moment ausmacht, an dem wir uns kennen gelernt haben, das muss ich ihm mal vorspielen, wenn ich diese Scheiße endlich mal digitalisiert kriege.

Oder auch süß, als Daniel vorbei kommt, man hört, er ist betrunken, ich höre ihn ganz ruhig sagen: „Ich liebe die Mai. Die liebt die Menschen!“

Das rührte mich sofort. War eh grad schon so dünnhäutig.

Was mich dann wirklich umhaute waren die Aufnahmen meiner Mutter, in der vollen Blüte ihrer Demenz, wie sie abwechselnd raucht und Hustensaft trinkt, wie sie im Sessel bei mir zuhause unentwegt fordert „Die 5!“ einzuschalten, weil das bei ihr zuhause auf der Fernbedienung der Kanal für Kabel 1 ist, auf dem alte Serien gespielt wurden, die sie noch aus der Zeit kennt, als sie noch nicht dement war. Dieses Band musste von 1996 sein. Meine Mama ist vor 13 Jahren gestorben, sie da plötzlich zu sehen und zu hören war ein bisschen schockierend, schön, aber auch traurig und ich musste ein wenig weinen.


Jedenfalls war also schon gestern nicht einer meiner Lieblingstage, und heute diese Anstrengung, dann ist auch noch Malte mucksch mit mir, wobei ich nicht die geringste Ahnung habe weshalb, da muss ich mir heute was gönnen.


Da Tommy im Olympia Fussball spielen ist und auch sicher noch den restlichen Abend dort verbringt, setze ich mich allein ins Elsa, bestelle mir Wein und Wiener Schnitzel. Gott sei Dank schmeckt alles hervorragend.


Zuhause möchte ich nur noch ins Bett, die Kamera packe ich heute nicht mehr an.

Die Geister, die ich rief.


ree


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