Freitag, 19. Juni
- Mai Buko
- 19. Juni 2020
- 7 Min. Lesezeit
Glück gehabt, ich brauchte nicht um 6 Uhr aufstehen um an den Arsch der Welt zu fahren, denn die Praxis rief mich Dienstag um 11:09 Uhr an, ob ich spontan um 12 Uhr da sein könnte. Natürlich war mir das viel lieber, also klärte ich kurz mit Anouk, dass ich später zur Arbeit komme.
Das ist ja deswegen mein Zahnarzt, weil ich mal vor Jahren eine kostspielige Zahnbehandlung brauchte, und mir mein Bruder seinen Golfkumpel empfahl, der auf meine finanzielle Situation Rücksicht nehmen würde. Aus Dankbarkeit bin ich danach dann bei ihm geblieben, und alle halbe Jahre zu den üblichen Kontrollen, ohne weitere Vorkommnisse.
Jetzt hatte ich zum ersten Mal seitdem was "Richtiges".
Ich wollte dann auch gleich fragen, was das kosten würde, wenn man mir meine Goldplomben, die immer so doof glitzern wenn ich lache, durch zahnfarbene Füllungen austauschen würde.
Ich hetzte mich ab, raste mit dem Rad zum Heumarkt, es kam sofort eine Bahn, so schaffte ich es pünktlich da zu sein.
Allerdings saß ich dann eine geschlagene halbe Stunde auf dem Behandlungsstuhl bevor der Zahnarzt kam.
Meine Güte, in der Zeit dachte ich mir immer mehr Gründe aus, weshalb es idiotisch ist, bei diesem Knilch zu bleiben, normalerweise brauche ich ungefähr eine Stunde dahin, obwohl ich ja noch meine alte Zahnarztpraxis bei mir in der Nähe hätte.
Das ist das Letzte Mal, schwor ich mir.
Mich hierhin zu hetzen, und dann eine halbe Stunde sitzen lassen!
Ausserdem krieg ich das alles nicht bezahlt, das sind Fehlstunden, die ich irgendwie nacharbeiten muss.
Endlich kam er mit reumütigem Blick zur Tür herein, damit hatte er mich schon, augenblicklich verzieh ich ihm. Ich würde ja jetzt eine Sonderbehandlung genießen, weil ich die kleine Schwester meines Bruders bin.
„Entschuldigen Sie bitte die Verzögerung, da gab es gerade Komplikationen!“
Ach du Scheiße, er siezte mich. Er hatte nicht den geringsten Schimmer wer ich war.
Ich war ja auch länger nicht mehr hier gewesen. Über ein Jahr. Die vorletzte Kontrolluntersuchung hatte ich geschwänzt, bei der nächsten war schon Corona.
Ich werde doch nie mehr hierher kommen, das macht ja alles keinen Sinn mehr.
Er sah sich alles an, und klärte mich auf, dass meine Bauchweh zu 99% nicht von dem verschlucktem Amalgam kommen, weil ich erstens nicht Amalgam sondern ein Stück Zahn verschluckt hatte, und zweitens die Restfüllung da noch bombenfest sitzen würde, und nein, mit der Zunge hätte ich da auch nichts rauspopeln können, und drittens hätte sich mal einer in suizidaler Absicht Quecksilber gespritzt, aber der wäre nicht gestorben.
Das Gold zu entfernen würde er mir aus ärztlicher Sicht auch nicht empfehlen, weil da alles völlig okay ist.
„Aber das sieht doof aus!“
Na dann, das kostet so ungefähr 250 Euro, Termin kann ich vorne anschließend machen.
Ich bleib doch hier bei ihm, er ist nett, kompetent, und so teuer ist das ja jetzt auch nicht. Wenn ich das Zahngold, das er mir dann rausschlägt, verkaufe, habe ich bestimmt die Hälfte der Kosten wieder drin.
Betäubung lehnte ich tapfer ab, ich hatte echt kein Bock auf stundenlange Gesichtslähmung und dicke Sabberzunge, allerdings mit dem Versprechen im Hinterkopf, falls es doch zu schlimm würde, könnte man ja noch spritzen.
Aber es ging auch ohne, dreimal blinzelte ich zuckend als er da mit der Luft reinblies und einmal beim Bohren, aber als der Zahn wieder hergestellt war fühlte ich mich wie ein neuer Mensch, mit der Zunge da lang zu fahren war genial, alles bestens. Herrlich.
Die Bauchschmerzen blieben bestehen, wenn ich den Unterbauch abtastete, wie es der Doktor immer macht, konnte ich stechende Schmerzen fühlen, also 100% eine Entzündung. Jeder Hubbel über den ich mit dem Fahrrad fuhr, wurde zum Martyrium.
Die Arbeit schaffte ich dann mehr schlecht als recht, Gott sei Dank hatte ich ja nur noch knapp 4 Stunden Restarbeitszeit.
Abends schaute ich mir die mehrteilige neue Doku auf Netflix über Lorena Bobbit an.
Ich erinnerte mich noch genau, sie schnitt damals, Anfang der 90er, ihrem Mann den Penis ab. Aber an mehr als Bobbit = Penis abschneiden, konnte ich mich nicht erinnern.
Hier wurden alle Hintergründe und die Gerichtsverhandlungen beleuchtet und was aus den beiden so geworden ist.
Unfassbar war das, die unglaublich schlimmen Prozesse und vor Allem dieser ekelhafte Typ, der seine Frau jahrelang misshandelt und vergewaltigt hatte.
Er wurde freigesprochen weil sexuelle Nötigung in der Ehe damals noch nicht strafbar war, und auch nicht bewiesen werden konnte. Dann kam ihre Verhandlung, sie wurde zwar ganz knapp auch frei gesprochen, kam aber vorerst für 45 Tage in eine psychiatrische Klinik.
Sie ist heute eine eloquente, besonnene Frau, die für Frauenrechte kämpft.
Er genoss schon während der Verhandlungen seine Popularität, verkaufte T-Shirts auf denen stand „Severed Part“, darunter eine Zeichnung seiner Frau mit einem Messer. Er tingelte durch TV- und Radio-Shows, Nachtclubs und Sex-Shops, wurde Pornodarsteller, ließ eine Penisvergrößerung unter TV-Begleitung durchführen, die missglückte, wurde noch mehrmals von Frauen wegen Gewalttätigkeiten und Vergewaltigungen angezeigt, war ein paar mal im Gefängnis, und behauptet heute noch, er sei unschuldig.
Ein völlig irrer Psychopath.
Am nächsten Morgen lud ich mir die neue Corona-Warn-App vom RKI runter, die gestern Premiere hatte.
Da ich alles liebe, was es in Tuben gibt, oder was merkwürdig ist, hatte ich mir im Aldi „Kirschmarmelade in der Tube“ gekauft, kredenzte sie mir zum Frühstück, und siehe da: sie schmeckte sogar!
Auf der Arbeit ging es mir immer noch nicht gut, plötzlich kamen noch Sehstörungen dazu, für über 20 Minuten sah ich durch das rechte Auge einen Kranz in Regenbogenfarben.
Was nicht nur nervte, weil er überall im Blick mitwanderte, ich so nicht mal den Bildschirm richtig anschauen konnte, also auch nicht dokumentieren konnte, es machte mir auch noch Angst, weil ich weder in die Sonne geguckt oder mir das Auge gerieben hatte, was ja eine einleuchtende Erklärung gewesen wäre, und so nur wieder etwas ganz Schlimmes die Ursache dafür sein konnte.
Um mich zu beruhigen ging ich ins Zimmer zu Frau St., die nun doch im Sterben lag, streichelte ihre Hand, sprach leise zu ihr, wünschte ihr endlich Frieden und Ruhe, war ganz bei ihr, auch wenn sie durch mich durch sah.
Tatsächlich war der Kranz im Auge verschwunden, als ich das Zimmer wieder verließ.
Nach der Arbeit fuhr ich mit Kollegin Miri Storch ins Sette, wir wollten uns später Chili im „Bambule“ für zuhause holen. Aber schon auf dem Weg in die Südstadt hatte ich kleine Schwindelanfälle, so dass ich im sitzen meinen Kopf an die Hauswand des Sette lehnen musste, damit ich mich sicherer fühlte.
Der Plan mit dem Chili wurde verschoben.
Bevor wir uns trennten kauften wir uns beide noch online die gleiche rote Handtasche im Sale von Desigual per Handy. Miri liebt Desigual, ich liebe Taschen.
Zuhause schlief ich sofort ein, als ich Stunden später wach wurde schaute ich zur Abwechslung mal richtiges Fernsehen, und fand auf Arte den wundervollen japanischen Spielfilm „Kirschblüten und rote Bohnen“.
Anschließend schickte ich Marie den Link zu dem Film und auch noch einen Link des Blogs „sugarprincess-juschka“ in dem das Rezept für „Anko“, einer Paste aus roten Bohnen, verraten wird, die man für „Dorayaki“, ein beliebtes japanisches Frühstück, braucht.
Darum ging es nämlich in der Rahmenhandlung des Films: der besonders zeitintensiven Zubereitung dieser Pfannküchlein, vielmehr der Paste, mit der sie gefüllt werden.
Marie soll das bitte mal alles als Backkönigin und Liebhaberin von exotischen Dingen studieren, den zärtlichen Film, das Rezept und dann am besten bald herstellen, mich dazu einladen. Ihre Antwort: „Dann besorg du diese Bohnen, noch nie von denen gehört.“
Am Donnerstag ging es mir zum ersten Mal ein bisschen besser.
Die ganze Stadt duftete übrigens schon seit Tagen extrem nach Maiglöckchen. Das sind die Linden Bäume, die blühen meist erst im Juli, und normalerweise riechen die immer nach Sperma, wie allgemein bekannt. Jedes Jahr machen Tommy und ich dieselben Scherze, wenn die Linden gegenüber vom Sette blühen und diesen intensiven Geruch verströmen.
Diese Jahr riecht es überall nach Maiglöckchen, ungelogen.
Die Melonenseife, die mir meine Schwester Franziska nachträglich zum Geburtstag geschenkt hatte, als sie am Dienstag mit Mateo unseren Papa besuchen kam, riecht auch nach Maiglöckchen.
Heute, Freitag, ist der Tag der Verwirrung.
Zuerst kommt eine ältere Dame mit Rollator zu uns, die sich den Weg zu einem anderen Seniorenheim in der Nähe erklären lässt. Nach einer Viertelstunde ist sie wieder da, ziemlich erledigt, und erklärt, sie finde es nicht, sie habe sich verlaufen. Wir rufen in diesem Heim an, damit sie jemand abholen kommt. Ich bringe ihr etwas zu trinken, bitte sie Platz zu nehmen und setze mich etwas zu ihr um zu plaudern und sie zu beruhigen.
Als sie abgeholt wird, kümmere ich mich um die Patentochter von Frau St., die gerade aus Süddeutschland angereist ist um sich von ihrer Tante zu verabschieden. Sie bricht im Zimmer sofort in Tränen aus, als sie sie sieht, und das bringt mich augenblicklich auch zum Weinen.
Ich verlasse das Zimmer wieder, da kommt schon die nächste Nachricht: jemand hat angerufen, weil eine Mieterin der Seniorenwohnung aus unserem Haus an der Bahnhaltestelle gestürzt ist. Weil es offenbar nicht so schlimm ist, denn sonst hätte man ja einen Krankenwagen gerufen, mache ich mich mit einem leeren Rollstuhl auf den Weg zur Bahnstation, um sie abzuholen. Dabei werde ich von den Passanten wie eine Psychopathin, die mit einem leeren Rollstuhl in der Sonne spazieren fährt, angeschaut.
Mir ist elend heiß, die Sonne knallt, und kein Mensch an der Haltestelle.
Schwitzend wieder zurück, was noch kranker aussieht, als ich an denselben Menschen vorbeikomme, die eben schon so doof geguckt haben.
Nach 10 Minuten kommt der nächste Anruf vom Notdienst, dass eben jene Mieterin oben in ihrer Wohnung gestürzt sei, ob wir nicht mal hoch gehen und nachgucken können. Zu dritt machen wir uns auf den Weg. Da sitzt die arme Frau auf dem Boden, kommt allein nicht hoch, völlig verzweifelt, weil keiner kam, obwohl sie doch schon vor über einer halben Stunde über den Notruf um Hilfe gebeten hatte. Wie diese Fehlinformation mit der Bahnstation zustande kam, bleibt rätselhaft. Zu zweit hieven wir die Frau hoch, trösten sie, geben ihr zu trinken, checken ob sie irgendwo Verletzungen hat, aber alles gut, sie ist wohlauf.
Die Planungen für die Besuche oder Spaziergänge mit den Angehörigen sind weiterhin meist ein großer Murks, entweder von unserer Seite oder durch die Angehörigen, die gerne viel früher kommen, und so alles durcheinander bringen.
Bin ich froh, dass ich morgen frei habe und erst wieder Sonntag, dann aber für einen Marathondienst, von 11:00 Uhr bis 19:30 Uhr, arbeiten muss.

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