Freitag, 26. Juni
- Mai Buko
- 26. Juni 2020
- 6 Min. Lesezeit
Die Woche galoppiert nur so davon. Alles splittert sich auf in Trillionen kleine Aufgaben, aber wie immer bei so erledigtem Kleinscheiß, bleibt das Gefühl eigentlich nichts geschafft zu haben.
Nach Frau St. sind noch zwei weitere Bewohner verstorben. Auch das ist ein merkwürdiges Phänomen, nie stirbt einer allein, immer folgen noch ein bis zwei Leute.
Dann ist wieder wochenlang oder gar monatelang kein weiterer Todesfall zu beklagen. Aber was heißt beklagen, die drei, die jetzt verstorben sind, sind wirklich erlöst, verbrachten ihre letzten Tage nur noch unter Morphium, weil ihre Schmerzen so groß waren.
Vor allem Frau St. fehlt mir, aber es gibt kaum Zeit zu trauern, das Wetter ist toll, viele Angehörige holen die Bewohner jetzt zu Spaziergängen ab, die alle einzeln ein Screening durchführen müssen, welches wir begleiten und natürlich die Bewohner rechtzeitig parat machen und runterbringen, dann müssen noch die beiden Grillfeste vorbereitet werden, unter anderem muss ich noch Sangria kaufen.
Normalerweise laden wir zu solchen Festen immer noch die Angehörigen ein, was ja momentan nicht geht. Und alle 80 Bewohner zusammen im Garten geht wegen des benötigten Abstands auch nicht, aber wir wollen mal wieder was Schönes für die Bewohner machen, also teilen wir es in zwei Tage auf, an denen wir hintereinander mit ihnen feiern.
Ich hole bunte Pappteller, bunte Becher, bunte Servietten, damit es so farbig wie möglich wird. Wir werden Girlanden von Baum zu Baum hängen, es soll endlich mal wieder was Fröhliches passieren, eine Ablenkung von dem Frust der letzten dreieinhalb Monate.
Wir wurden auch wieder auf Corona getestet und haben immer noch Glück, dass keiner von uns infiziert ist. Ein Heim in Riehl hat aktuell 4 infizierte Pfleger und 12 infizierte Bewohner. Das macht weiterhin Angst. Aber spätestens ab nächster Woche, ab dem 1. Juli, dürfen Angehörige wieder in die Zimmer der Bewohner, dazu die offenen Spaziergänge, die auch dazu genutzt werden die Mama oder den Ehemann mal kurz nachhause zu holen. Wir haben also sowieso nicht mehr die geringste Kontrolle, und können nur hoffen, dass wir Glück haben, und sich keiner infiziert.
Tommy ist abends jetzt öfters verabredet, wir sehen uns kaum, halten uns nur knapp auf dem Laufenden. Am vergangenen Samstag hat mir Tommy allerdings einen kleinen Kurzurlaub nach Italien geschenkt, und mich am Eigelstein bei einem Italiener zum Essen eingeladen.
Meine Stimmung war nämlich durch meine Schmerzen und Sorgen auf dem Nullpunkt angelangt, diese kleine Aufheiterung kam genau richtig.
Es war dann tatsächlich wie im Urlaub, diese ungewohnte Umgebung in der Nordstadt, das war schon aufregend, und das Gewimmel der Menschen überall, auf dem Weg dahin am Rhein entlang hatte ich einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen, weil Tommy sehr schnell vor mir durch die spazierende Menge cruiste, fröhlich um freie Fahrt klingelte, ich kam kaum nach, mein Herzrasen verursachte leichte Übelkeit.
Aber durch den leckeren Rosé und die fantastischen Vongole wurde ich entspannter. Jedoch nicht entspannt genug, um dort noch anschließend irgendwo ein Eis oder so zu essen, oder gar den gleichen Weg zurück zu nehmen. Also durfte ich den Weg bestimmen, daraus wurde eine kleine Stadtrundfahrt am Dom vorbei. Am Ende landeten wir im Forum, in vertrauter Atmosphäre, und nicht mehr weit zu meinem Bett.
In der Nacht auf Sonntag randalierten in Stuttgart hunderte junge Männer. Nach einer Drogenkontrolle „solidarisierten“ sich immer mehr Leute mit dem Festgenommenen, wurden Polizisten gegenüber gewalttätig, rasteten dann völlig aus, verwüsteten und plünderten die Innenstadt.
Während meines langen Sonntagsdienst gestand mir Malte am Vormittag, dass er bei uns aufhören möchte, und sich in einem anderen Heim bewerben wird.
Das hatte mich schon sehr betrübt, aber die Dinge, die er dann von sich gab, machten mir richtig große Sorgen. Allerdings kann ich bis heute mit niemand auf der Arbeit darüber reden, das drückt schwer auf’s Gemüt, weil ich nicht sicher bin, ob mein Schweigen der richtige Weg ist.
Am Montag war Frau N. wieder so lange verschwunden, über 3 Stunden, dass wir die Polizei informieren mussten. Ich suchte erstmal per Fahrrad einen Quadraten von ca. 2 Kilometern hinter unserem Haus ab. Nichts.
Tatsächlich wurden dann irgendwann Kinder auf Frau N. aufmerksam und riefen die Beamten. Sie war mehrere Kilometer mit ihrem Rollator, ohne etwas zu trinken, bei 30 Grad Powerhitze, zu ihrer alten Adresse gewandert. Das ist so erstaunlich, wie sie hier kaum rechts und links auseinanderhalten kann, aber immer den aufwändigen Weg nach Hause schafft. Als sie von zwei netten Polizistinnen bei uns abgeliefert wurde und ich sie in Empfang nahm, kommentierte sie meine Freude über das Wiedersehen mit:
„Na, so schnell lass ich mich aber nicht mehr einfangen!“
Mein Papa hatte am Dienstag Geburtstag, er wurde 93, meine beiden Schwestern holten ihn nachmittags ab und gingen mit ihm auf die Terrasse eines Lokals in der Nähe. Auf meinen Vorschlag hin schenkten sie ihm einen CD-Player und ein paar CDs seiner Lieblingsmusik: Musette und Marschmusik.
Die Feste am Mittwoch und Donnerstag wurden dann wirklich wunderschön, alle hatten Spaß und genossen das leckere Essen.
Ich hatte am zweiten Tag ein kleines Planschbecken aus dem Dekokeller geholt, füllte es mit eiskaltem Wasser und tauchte meine Füße da rein.
Das war so herrlich, ich war so glücklich in diesem Moment, und das wiederum erfreute die Bewohner, die mich sofort anstachelten noch mehr mit dem Wasser zu spritzen.
Ich war richtig überdreht, tanzte und sang auf der Terrasse zu Helene Fischer, das Lachen der Bewohner ließ mich immer alberner werden, so dass Kollegen schon vermuteten ich hätte Alkohol getrunken.
Aber meine Ausgelassenheit war auch der weichenden Anspannung zu zuschreiben, der Erleichterung darüber, dass nach dem Aufräumen mein langes freies Wochenende beginnen würde, was ich dringend brauchte.
An manchen Abenden der Woche schaute ich wieder durch den Sucher meiner Videokamera alte Bänder an.
Diesmal mit dem Blick auf verwertbares Material für eine Musikdoku, weil ich von Ernie mit einem Filmproduzenten vernetzt wurde, der noch auf der Suche nach weiteren Filmaufnahmen für seine Dokumentation über die Elekterometropole Köln ist.
Ich hoffte dadurch die Möglichkeit nutzen zu können, dass alles auf deren Kosten digitalisiert wird.
Wir einigten uns dann aber bei der ersten Besprechung auf nur 10 Bänder, die ich schon mal raussuchen soll, um die sie sich dann kümmern.
Allerdings waren plötzlich meine Aufnahmen, zumindest die, die ich sichtete, totaler Schrott.
Was für eine Enttäuschung!
Galt ich nicht mal als sensible Beobachterin?
Künstler beauftragten mich deshalb für ihre Arbeiten, ein Label ließ mich Low Budget Musik-Video-Clips drehen. Von Talent war hier aber rein gar nichts zu spüren. Im Gegenteil.
Richtig schlechter Sound, doofe Aufnahmen, dann noch nicht mal aus Köln sondern von sämtlichen anderen Orten, Clubs in die wir damals als Posse mit unseren Helden gereist sind.
Ich fürchtete, dass da gar nichts für die Produktion dabei ist.
Zumal in einer Woche bei denen der Endschnitt beginnt, und ich es zeitlich nicht schaffen werde, da rauszusuchen, was digitalisiert werden könnte.
Ich stieß dabei auch wieder auf unfassbar viele Aufnahmen meiner Kinder, was mich extrem aufwühlte und manchmal zu Tränen rührte.
Aber auch die Aufnahmen von mir, wenn ich mal im Bild war, weil irgendwelche Freunde oder der kleine David mal die Kamera hielt, waren erschütternd.
Ich war so jung, das waren die Neunziger, alles völlig crazy, immer mit Musik im Hintergrund, durchgeknallte Aufnahmen, die ich keinem Fremden zeigen kann, also schon mal gar nicht dieser Produktion.
Eigentlich müsste ich all diese Bänder, also alle 50, digitalisieren lassen, sie dann zurechtschneiden, ein Archiv anlegen und nach Themen sortieren.
Und dann erst entscheiden, was ich aus der Hand geben kann. Und das kann dauern. Nicht umsonst schiebe ich diese Idee der Rettung meiner Hi 8 Bänder seit mindestens 10 Jahren vor mir her.
Diese Bedenken schrieb ich gestern morgen diesem Filmmenschen per Mail, und obwohl wir verabredet hatten heute vormittag zu telefonieren um alles zu besprechen, hab ich seitdem nichts mehr von ihm gehört.
Soll mir auch egal sein. Ein Stressfaktor weniger.
Mein Plan ist es jetzt, jedesmal wenn ich mein Gehalt überwiesen bekomme, also flüssig bin, so ca. acht Bänder an eine Firma zum Digitalisieren zu schicken, dann hätte ich in einem halben Jahr alles selbst finanziert, und das Zeug wäre schön bei mir zuhause zum archivieren, und somit hätte ich schon eine schöne Beschäftigung für graue Winterabende.
Aber bis zum Winter ist noch was hin, der Sommer ist gerade voll am Start, und meine Wohnung übernimmt langsam die Hitze von draussen.
Gestern Abend habe ich zum ersten Mal meinen neuen „Korona“-Standventilator in Betrieb genommen, das ist vielleicht toll! Die Fernbedienung ist genial, das leise Summen jetzt schon ein so wundervoller Sound, dass er lebenslang unter „Sommer“ und „angenehm“ abgespeichert wird.
Aber ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein eigenes Planschbecken. Am besten so groß, dass eine Luftmatratze rein passt.
Ich bräuchte für die kommenden heißen Tage nichts anderes, keinen See, da hab ich eh Angst, kein Schwimmbad, da schäme ich mich eh nur, keinen Rhein, kein Baggerloch, und ans Meer komme ich so bald sowieso nicht.
Ich würde stundenlang auf dieser Matratze liegen, Beine und Arme ins kalte Wasser hängen lassen, und wäre glücklich bis ans Ende meiner Tage. Oder bis zum Ende des Sommers.
Abends mit Meret und Gregor im Dialog essen gewesen, ich hatte Oktopus, Meret Langusten, Gregor eine riesige Rotbarbe.
Mediterraner geht’s nicht, köstlich, dazu diese leichte, erfrischende Brise mit der kleinen Ankündigung eines Gewitters, welches aber dann doch nicht kam.
Im Forum dann anschließend Kaffee und Eis, Tommy kommt dazu, Meret und er machen wieder Scherze darüber, dass sie jetzt eigentlich ein Paar sind, und das Kind von Tommy, das ich austrage (eine Anspielung auf meinen mittlerweile voluminösen Bauchumfang), werden die beiden dann groß ziehen, weil Meret eindeutig die bessere Mutter ist. Können sie gerne haben, dieses Elefantenbaby.

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