Dienstag, 30. Juni
- Mai Buko
- 30. Juni 2020
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Juli 2020
Sonntag Abend bin ich nach Dauerbingen endlich bei der letzten Folge der neuesten Staffel von „The Blacklist“ angelangt. Das Besondere war, dass nach 10 Minuten plötzlich einige der Schauspieler in Handyselfie-Optik erschienen, die dann auch tatsächlich abwechselnd von zuhause aus erzählten, dass dann plötzlich Corona da war, und sie die Dreharbeiten nicht beenden konnten, aber sie hätten alle so einen Spaß und hatten hin und her überlegt um uns Zuschauer nicht zu enttäuschen, und eine Lösung gefunden: Zack, Boing, ab da wurden manche Szenen zwischendurch, die sie nicht mehr in echt drehen konnten, in animierten Comic-Stil gezeigt. Boom, Bang Bang, das war klasse.
Also für diese eine Folge. Wäre die ganze Serie in diesem Stil, hätte ich das Interesse schnell verloren. Aber so war ich gerührt und mal wieder fasziniert was für Blüten diese Pandemie doch treibt. Zum Schluß wünschten uns zig Mitarbeiter, vom Kameramann über die Make-Up Frau bis hin zum Caterer ebenso per Videobotschaft alles, alles Gute und formulierten liebe „stay home“- Solidaritätsbekundungen.
Auf der Arbeit bereiten wir alles für Mittwoch vor, der Tag, an dem die Angehörigen wieder in unser Haus dürfen, zwar nur in die Zimmer der Bewohner, nicht in die Gruppenräume oder in die Cafeteria oder in den Garten, aber durchs Foyer, die Treppenhäuser und die Flure. Neue Screeningformulare werden gefertigt, weil wir jetzt unter anderem jedesmal die Temperatur der Besucher messen und vermerken müssen.
Viele Bewohnerzimmer werden aufgehübscht, aufgeräumt, Müll entsorgt, Staub gewischt, das wurde etwas vernachlässigt in den letzten Monaten des Über-Stresses.
Frau Z. rollt mir wutentbrannt entgegen, sie sei heilfroh, dass heute ihr letzter Tag sei, sie gehe ja morgen. Und käme mit Sicherheit nie mehr wieder, so schlimm sei hier alles. Und dieser neue Rollstuhl hier ist unmöglich, mit dem alten konnte sie bequem in die Läden zum einkaufen fahren, aber dieser hier, schon allein diese Armlehnen, was soll das, unbequem, und die Bremsen kann kein Mensch anziehen, da müsse man ja überirdische Kräfte haben. Nee, das hat jetzt ein Ende, und sie werde sich beschweren.
Natürlich war Frau Z. weder mit ihrem alten Rollstuhl jemals alleine einkaufen, noch wird sie morgen das Haus verlassen, aber sie da zu beruhigen und mit kleinen Schritten wieder in die Realität zu holen dauert seine Zeit.
Frau T. mischt in der Wohngruppe wieder alle Anwesenden auf, beschimpft Bewohner wie Kollegen, schreit alle an, wir hätten hier nichts zu suchen, wir sollen alle abhauen, das sei hier immer noch ihr Haus, und da sollten wir mal schnell verschwinden.
Von hinten wird zurück geschossen,
„Halt die Fresse!“, oder „Hören Sie doch auf, Sie spinnen ja wohl!“
Aber Frau T. ist in Fahrt, beim Schreien fällt ihr immer wieder ihre obere Zahnprothese runter, die sie sich wieder reinstopft um im gleichen Ton ihre Empörung über unser Eindringen raus zu kreischen. Das ist eigentlich alles sehr lustig, wie im Irrenhaus hier, ich muss mich öfter wegdrehen und kichern, aber ich habe Angst, dass sich Frau T. zu Tode aufregt.
Nachdem ich die zwei Hauptgegner bat nicht zurück zu schießen, da es ja doch keinen Sinn macht, abgesehen von dem vulgären Ton, der auch nicht gerade hierhin passt, setzte ich mich ruhig zu ihr hin, streichele auch ihre Schultern und erkläre ihr, dass sie eine von mehreren Bewohnern hier ist, und dass alle hier ein Recht auf Kaffee und Kuchen hätten.
„Davon weiß ich nichts. Haben Sie das schriftlich?“
keift sie immer noch wutschnaubend.
Tja, da hat sie mich. Das wäre natürlich cool ihr jetzt ein Schriftstück vorzulegen, aber sowas gibt es natürlich nicht, deshalb versuche ich weiterhin durch liebe Ansprache und verständnisvollem Blick ihr erstmal die Kampflust auszutreiben.
Kaum hat sie sich etwas beruhigt, ich ihr auch Kaffee und Kuchen angeboten, sie es aber ablehnt, sonst könne sie nachher (wir haben gerade mal 15 Uhr) nicht schlafen, bietet sie mir freundlich ihr Kaffeegedeck an, was ich dankend ablehne, da fügt sie noch laut hinzu:
„Ja, das mache ich doch gerne. Ich bin nämlich großzügig!“
Was wieder größere Tumulte in den hinteren Reihen entfacht, und zu Gelächter und Beschimpfungen führt. Die Schreierei geht schon wieder los, aber diesmal habe ich es schneller im Griff, alle wieder zu beruhigen.
Am Montag Abend waren Marie und David mit mir und ihrem Opa, also meinem Papa, nachträglich zu seinem Geburtstag in einem Restaurant in der Nähe essen. Wir bestellten uns feine Sachen, die sich auf der Karte wunderbar anhörten, auch dementsprechend teuer, aber in echt war alles furchtbar, die Flank-Steaks waren zäh, das orientalische Zitronenhühnchen trocken, der Spargel holzig, das mediterrane Gemüse fad, und der Friséesalat ohne Frisée. Trotzdem hatten wir eine schöne Zeit und Papa lebte förmlich auf, genoss die Zeit und schaufelte sich den kleingeschnittenen Spargel mit dem Parma Schinken nur so rein. Endlich konnte ich auch mal wieder meine beiden Mäuse sehen, wollte sie am liebsten unentwegt knuddeln und weitere Verabredungen mit ihnen ausmachen, aber wir waren ja wegen Opa hier zusammen, und sie schienen auch sehr beschäftigt, was ihre freien Termine anging.
Anouk verzweifelt seit Tagen weil sie eine Doppelzimmerbelegung machen muss. Da ja der Ehemann von Frau S. gestorben ist, muss sie in ein Einzelzimmer. Sie zieht heute in das von Frau M., die ja auch ungefähr zeitgleich verstorben ist, und das Doppelzimmer, dass sie sich mit ihrem Mann teilte, muss nun an ein Pärchen vermietet werden.
Da ist gar nicht mal so leicht.
Die Ehepaare, die bei uns in zwei Einzelzimmern wohnen, wollen dass das so bleibt, auf gar keinen Fall wollen sie zusammen in einem Zimmer schlafen. Was ich sehr gut verstehe.
Unser Liebespärchen, was ja immer wieder mal versucht in dem Bett von Herrn B. gemeinsam zu übernachten, wäre eigentlich eine Lösung, aber da spielen bestimmt die Angehörigen nicht mit. Ausserdem ist es vielleicht riskant, da Frau Sch. andauernd Schluss macht, weil ihr Mann mit allen Pflegerinnen hier eine Affaire hat, und ihr auch das ganze Geld abgeluchst hat, was er in allen Kneipen hier in der Gegend verjubelt, ihre Mutter hätte sie ja schon immer vor diesem Kerl gewarnt. Herr B. ist alles andere als ein mieser Kerl, und vergöttert diese Frau, hält unentwegt ihre Hand, begleitet sie bei allen Fluchtversuchen, trägt brav ihre Paillettenstrickjacken, die sie ihm anzieht, und verfügt sehr wahrscheinlich über mehr Geld als sie. Sie versöhnen sich aber auch dreimal am Tag wieder, und alles ist für kurze Zeit vergessen, Honeymoon pur. Bis sie wieder einen Anfall bekommt, in einer halben Stunde vielleicht, oder morgen. Das wäre natürlich blöd, wenn sie sich mal wieder gerade getrennt hat, und die beiden ins Bett müssen, sie ihn aber nicht reinlässt ins neue Doppelzimmer.
Und neue Anwärter von draussen gibt es momentan nicht.
Beim Yoga heute morgen im Studio durfte ich bestimmte Übungen wieder nicht machen. Aus Rücksicht auf meine gesammelten Schmerzen und Beschwerden.
Einmal schimpfte mich Mechthild aus, weil ich bei einer Haltung doch wieder mit allen übte, und fragte mich, warum in Gottes Namen ich denn da wieder mitmache. Als ich leise "Aus Versehen" sagte, machte sie sich darüber lustig, selbst die online zugeschalteten Yogis durften sich über mich kaputt lachen. Bei einer Hund-Übung mussten wir die Hände so drehen, dass die Finger zu den Füßen zeigten, das war so schmerzhaft für meine Arthrose-geplagten Finger, dass ich noch den ganzen Tag höllische Schmerzen im linken Daumen hatte. Ich konnte nicht mal ein Glas halten. Ein Wahnsinn, wie oft man dann doch eine zweite, die linke Hand braucht, um im Alltag voran zu kommen. Aua aua.
Tommy ist mit seiner neuen Frisur, dem kurzgeschorenen Schädel, ein neuer Mensch, auch wenn er immer noch hin und wieder Schlafprobleme hat, und dementsprechend genervt oder erschöpft ist, läuft es ansonsten gut. Meistens ist er sogar gut gelaunt, voller Energie, macht mit seinem neuen Fahrradhelm Fahrradtouren durchs bergische Land, im Job gibt es auch wieder mehr zu tun, wichtige Meetings sind wieder überall angesagt, er ist wieder Herr der tausend Connections, fast wie früher.
Er möchte sich ja trotzdem beruflich etwas umorientieren, hält die Ohren auf, um in Ruhe zu schauen, was es so gibt.
Wir überlegen, wie es wäre, wenn er für einen neuen Job die Stadt verlassen müsste. Großzügig versichere ich ihm, dass ich ihn um seines Glückes willen ziehen lassen würde. Allerdings wäre mein Leben dann hier zuende. Also mein Sozialleben.
Er ist mein Anker.
Mein Mensch, den ich schonungslos volljammmern kann, der alles von mir weiß, mir an der Nasenspitze ansieht, wie meine Stimmung gerade ist.
Er ist mein Kulturbeauftragter, mein Fachmann für Gesellschaftspolitik, mein Tischnachbar in Cafés und Restaurants, mein Gegner in Spielen und Wortgefechten, herrje, mein gottverdammter Lebenspartner, den ich jetzt schon verfluche wenn er hier abhaut.
Als ich mit den Kindern und Papa essen war, rief er an, Marie nahm mein Telefon und tat so, als wäre sie ich, doch bei ihrer ersten Frage, „Wie geht’s dir?“ flog alles auf.
Tommy und ich mussten gleichzeitig lachen, da ich ihn das niemals fragen würde. Normalerweise fordert er mich nach einer längeren Zeit Quasselei auf ihn zu fragen, wie es ihm denn heute so geht. Das ist ein festgeschriebenes Ritual.
Das würde ihm doch auch fehlen. Meine kalte Nähe. Meine schlechtgelaunten Kommentare. Meine giftigen Spitzen gegen sein Beuteschema. Meine peinlichen halb bezwitscherten Auftritte. Meine Vergesslichkeit. Meine Neurosen und mein Diventum.

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