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Sonntag, 22. März

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 22. März 2020
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Mai 2020

Stehe um 7 Uhr auf, ich kann irgendwie nicht mehr lange schlafen, und schlafe ja auch neuerdings viel früher ein. Vor Erschöpfung.

Der physische Stress auf der Arbeit, der seelische Schmerz auf der Arbeit und in der Familie, der Stress, den diese ungewisse Zeit mit sich bringt, die Angst und Sorge um die Bewohner, Freunde und Kinder… Dass das bei mir lediglich durch Durchfall und Exzem am Mundwinkel verarbeitet wird, ist ja auch illusorisch. Gott sei Dank finde ich Schlaf, wie Horror wenn man Schlafstörungen hat. So wie Tommy schon jahrelang.


Um 9 Uhr meldet sich Josek: „Erdbeben in Zagreb“.

Grauenhaft, jetzt diese Situation, die Leute, die natürlich auch unter Ausgangsbeschränkungen leben, haben nun teilweise kein Wasser und Strom mehr…eine noch krassere Abbildung von Endzeitstimmung, diese Bilder von den zerstörten Strassen voller Steine und Schutt. Ratlose Menschen, die mit Mundschutz in Abstand zu den nächsten auf den Wiesen stehen.


Letztes Jahr im Mai holte mich Josek in Zagreb am Flughafen ab, wir übernachteten in einer Luxus airb’n’b Wohnung in der Altstadt, die ich von Köln aus angemietet hatte, erkundeten die Stadt und das Essen, waren uns einig, wie wundervoll es dort ist, die alte Zahnradbahn, all die schönen Häuserfassaden, die Gassen und Cafés. Am nächsten Tag ging es ans Meer nach Opatja, in der Nähe von Rijeka, wo er für die Dauer der Dreharbeiten eine Wohnung zur Verfügung gestellt bekommen hatte.

Das ist also nicht lange her, und doch kommen mir mittlerweile solche Erinnerungen vor, als wären sie Kostbarkeiten, die wir nie mehr erleben können. Für immer vorbei. Die Natur schlägt so unfassbar hart zurück, im Prinzip ist ja alles was gerade passiert, katastrophal für die Menschen, aber erholsam für die Erde. Erzwungener Klimaschutz, erzwungene Rückbesinnung auf wahre Werte.

Heute zieht mich das Leben enorm runter, und ich freue mich morgen wieder arbeiten gehen zu können, weil ich da wenigstens etwas handeln, etwas Sinnvolles tun kann.

Tommy meldet sich, ob wir uns doch treffen können. Ich willige natürlich erleichtert ein, nehme dann meinen rosa weiß gepunkteten To-go Becher mit, gefüllt mit meinem eigenen Kaffee, weil Tommy ja meinte, dass selbst diese To Go-Becher aus dem Eiscafé, oder auch mein mitgebrachter, ja von den Verkäufern angefasst würden, und der Portugiese hätte letztens ja sogar seine Finger auf dem Stück Kuchen to go gehabt. Tommy ist da sehr streng. Ich wunderte mich ein wenig, dass er jetzt doch für ein Treffen war, aber freute mich natürlich.

Die Sonne schien, es war trotzdem eiskalt, deshalb suchten wir uns eine Bank, die nicht im Schatten stand. Er hatte sich einen Kaffee im Eiscafé geholt, aha! Ah, er hat Handschuhe an.

Wir besprechen die Lage, unter anderem erzählt er, dass er väterlich versucht hatte, seinem jungen Kollegen den Ausflug ins Siebengebirge auszureden. Als ich frage warum, schaut er mich verständnislos an. "Weil er dann draussen ist, weil das ein Ausflugsziel ist, weil man da auf andere trifft, die die selbe Idee haben?"

Als ich mit dem Fahrrad aus meiner Haustür kam, war es geradezu gespenstisch ruhig und leer. Bei dem Sonnenschein auf kaum Leute zu treffen hatte mich überrascht. Auch hier auf der Bank kamen nur vereinzelt ein paar Leute vorbei, ich hatte das Gefühl, dass man sich jetzt auf der Strasse gegenseitig kritisch beäugt, macht die Person es richtig?

Eine Mutter geht mit einem kleinen Jungen vorbei, da stößt ein Mann auf die beiden, er geht in die Knie und umarmt den Kleinen. Tommy regt sich auf, ich entgegne, dass das vielleicht sein Vater ist, und überhaupt, das ist ein kleines Kind, die Erwachsenen halten Abstand. Tommy erzählt von einem Bekannten, dessen Kinder gerade von ihren Universitätsstädten zurück zu den Eltern gekommen wären, und die hätten sich auch alle nicht umarmt.

„Aber das sind doch Erwachsene! Die verstehen doch um was es geht. Ich hab Marie gestern auch nicht umarmt. Aber so kleine Kinder verstehen doch die Situation gar nicht. Man muss doch abwägen, was jetzt sinnvoller ist.“

Ab da wird „man muss doch abwägen“ mal Tommys, mal meine Erklärung für inkonsequentes Verhalten.

Da die Sonne hinter den hohen Altbauten verschwunden ist, und wir jetzt frösteln, verlagern wir unser Treffen auf eine abgerockte Wiese in der Stollwercksiedlung, die eigentlich eher von den Pennern und Junkies frequentiert wird. Aber jetzt ist hier kein Mensch, wir setzen und auf die von Unkraut durchwachsene Bank, es herrscht eine beruhigende Stille, nur die Vögel zwitschern bezaubernd von den Bäumen, der Sonne steht kein Haus im Weg, wir schließen die Augen, er rechts, ich links auf der Bank.

Es könnte so schön sein. Gleich ist die Videokonferenz mit Sunia und den anderen, ich hole schnell eine angebrochene Flasche Spätburgunder von zuhause, zwei Gläser, das dauert nur 5 Minuten, damit wir gleich mit ihr anstoßen können.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten schaffen wir es zu acht Sunia ein Ständchen zu singen. Aber hauptsächlich lachen wir, weil es so absurd ist, und wir durcheinander quatschen. Die meisten sind gerade zuhause, nur Tommy und ich sind auf der Wiese, und Dörte ist in Overath, macht einen Spaziergang.

Ich bitte Tommy mir nachzuschenken, da mein Glas leer ist, ich in der einen Hand die Kippe, in der anderen das Handy halte.

„Nö, ich fass die Flasche nicht an!“

„Komm, jetzt mach schon!“

„Nein, ich fasse die nicht an!“

„Dann zieh dir halt deine Handschuhe an, du siehst doch, dass ich keine Hand frei habe!“

„Nö.“

Also lege ich das Handy auf meinen Schoß, die anderen sehen jetzt nur noch den strahlend blauen Himmel. Es ist aber so ein Tohuwabohu in der Leitung, dass die das gar nicht mit bekommen. Ich schenke mir ein, und weiter gehts.

Als wir auflegen und Tommy und ich uns auf den Weg nach Hause machen, meint Tommy, das ist schon krass, wieviele dann doch Ausflüge machen.

„Aber Dörte geht doch nur spazieren, alleine, wie es aussah, das ist doch nicht gefährlich!“

„Sie wird doch auch da auf Leute treffen!“

„Dann geht sie halt auf Abstand!“

„Belehr mich nicht, ich meine das anders, dass trotzdem die Leute vor die Tür gehen und Spaziergänge machen!“

„Ich finde, du reagierst zu hysterisch!“

Ich verstehe ihn echt nicht, meine Stimme ist wohl auch lauter geworden, denn er macht Zeichen mit der Hand, dass ich wieder leiser werden soll.

„Ich bin nicht hysterisch, ich finde es nur krass!“

„Doch, du bist hysterisch, packst meinen Wein nicht an, wolltest ja schon deinem Kollegen verbieten, den Ausflug ins Siebengebirge zu machen. Obwohl er nur mit seiner Mitbewohnerin im Auto da zum Spaziergang hinwollte!“

„Ich wollte es nicht verbieten, ich habe ihm abgeraten!“

„Ja. Eben!“

Ich verstehe ihn echt nicht, er ist sauer, ich bin genervt. Wir gehen kopfschüttelnd auseinander.


Liege ich denn so total daneben?

Ich zweifle ja eh an, dass wir alles richtig machen können, also dass wir nicht steril leben können, und ich halte mich an alles, was mir möglich ist, mit Händewaschen, mit Abstand halten, mit desinfizieren.

Und ich glaube, wenn jeder so selbstverantwortlich und mitverantwortlich handeln würde, dann bräuchten wir nicht mal eine Ausgangssperre, dann gäbe es keine Hamsterkäufe, und Jugendliche würden sich nicht in Horden treffen, Senioren würden sich helfen lassen, Eltern würden nicht mit ihren Kindern auf Spielplätze gehen.

Weil das nicht so ist, weil viele Leute so krasse Ansagen brauchen, oder staatlich verordnete Anweisungen, um vernünftig zu handeln, kann ich doch nicht auf meinen Spaziergang oder Treffen mit Tommy mit zwei Meter Abstand verzichten. Oder Dörte, oder der Kollege, die ja auch aufpassen, und sich etwas Gutes tun, ihre Gesundheit stärken, um diese Horrorzeit zu überstehen, und niemanden dabei in Gefahr bringen, weil sie auch eigenverantwortlich, allein, oder zu zweit die Entscheidung getroffen haben, an die frische Luft zu gehen. Ist Tommy denn tatsächlich ein „unnötiger Kontakt“ für mich, den ich meiden sollte? Wir sind Singles, haben keinen Partner oder Familie zuhause in der Bude.

Aber vielleicht ist das auch alles naiv und selbstgerecht. Vielleicht ist es auch wichtig ein Zeichen zu setzen. Nicht aus der Rolle zu fallen, sich nicht in der Öffentlichkeit, im Strassenbild zeigen. Wenn mir heute andauernd Leute begegnet wären, die zu zweit zwar Abstand hielten, oder alleine unterwegs wären, dann wäre es ja irgendwie auch voll gewesen.

Also nach dem Motto, wenn jeder so handeln würde wie ich, dann wären die Straßen wieder voll.

Wir eigenverantwortlichen Einzelgänger picken uns das Sonderrecht raus, die Ausnahme zu sein.

Wir konnten in Ruhe und allein da sitzen, weil kein anderer auf die Idee gekommen ist, beziehungsweise weil die anderen sich solidarisch an das „Stay Home!“ gehalten haben.

Schwierig, schwierig.


Statistik 17:00 Uhr

Ein abgeschwächtes Ergebnis, erklärt Wieler vom Robert Koch Institut , im Vergleich zu gestern, aber das kann daran liegen, dass einige Ämter heute, am Sonntag, noch nicht ihre Daten an das RKI geschickt hat Es werden also keine Zahlen genannt, da es morgen durch die Zahlen von heute extrem hochschwellen könnte.


17:30 Pressekonferenz von Merkel:

Keine Ausgangssperre, sondern Kontaktsperre. Noch mal die Maßnahmen länderübergreifend angezogen. Bei Nichteinhaltung drohen Bußgelder oder bis zu 2 Jahre Haft.

Sie sagt ausdrücklich, dass Spaziergänge an der frischen Luft für zwei Personen erlaubt sind.

Aber das heißt ja eigentlich auch nix. Wer super-solidarisch und vernünftig ist, macht das eben auch nicht.

Klasse, ich hab voll das schlechte Gewissen.


22:00 Uhr: Merkel geht in häusliche Quarantäne, sie hatte Kontakt zu einem coronapositiven Arzt. Wird in ein paar Tagen getestet. Horst Seehofer und Olaf Scholz, die ebenfalls in Quarantäne waren, sind negativ getestet.


Vorläufige Statistik 22:30 Uhr

24.000 Infektionen 92 Todesfälle



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