Samstag, 9. Mai
- Mai Buko
- 9. Mai 2020
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Dez. 2020
Um 8:10 Uhr fange ich meinen Dienst an, setze mich sofort an den Computer und dokumentiere all die Sachen, die ich gestern nicht mehr geschafft habe.
Anschließend gehe ich auf einen Wohnbereich und unterhalte mich mit ein paar Bewohnern, die gerade frühstücken.
Frau W. klagt mir ihr Leid, ihre Schmerzen aufgrund ihrer Gürtelrose, die sie seit ein paar Tagen hat, sind unerträglich, dann geht sie über zu den Besuchsverboten und wie schrecklich das sei, wie dumm, und sie brauche doch ihre Tochter, gerade jetzt.
Ich erinnere sie daran, dass sie ihre Tochter nahezu täglich sieht, mit 2 Meter Abstand im Garten, im Foyer und auf dem Parkplatz. Da jammert sie weiter, das wäre doch nichts, ausserdem wäre ja jetzt eigentlich von der Regierung her alles wieder erlaubt, nur wir würden das noch zwei Wochen rausschieben.
Ganz freundlich erkläre ich ihr, weshalb wir das tun, weil wir noch alles Mögliche dafür organisieren müssen, und dass diese Kontaktverbote trotz der Lockerungen erstmal weiter bestehen müssen, all das zu ihrem Schutz und den der anderen Bewohner.
Sie hält das aber nicht für nötig und meint, ich verstehe nicht, was das bedeutet, ich könne ja schön nach der Arbeit nachhause gehen und sonst überall hin.
Ich rede eh schon laut, weil sie extrem schwerhörig ist, und wenn man laut redet ist auch notgedrungen die Mimik nicht mehr ganz so freundlich, als wenn man sich in Zimmerlautstärke unterhalten würde, aber nach ihrem letzten Satz werde ich tatsächlich noch lauter, weil ich mich ärgere und sage ihr deshalb, dass ich seit über zwei Monaten meine Kinder nicht wirklich sehen kann, dass ich kein Sozialleben mehr habe, dass ich, und alle Kollegen hier, ihr Privatleben so dermassen umgestellt haben, auf alles Mögliche verzichten, damit wir sie und die anderen Bewohner hier vor dem Virus schützen können und dass unvernünftiges Handeln jetzt alles gefährden könne.
Den anderen Bewohnern ist diese Unterhaltung natürlich nicht entgangen und sie rufen jetzt rein: „Richtig!“ „Die Alte versteht das doch eh nicht!“ „Die ist so egoistisch!“
Da fängt Fr. W. an zu weinen, und mir tut sofort alles leid, ich umarme sie, entschuldige mich, sage, dass es natürlich schwer für sie ist, dass die Schmerzen bestimmt unerträglich sind, und sie deshalb die Nähe zu ihrer Tochter sehr vermisst, und biete ihr an, mit ihr gleich mal eine Runde um den Block spazieren zu fahren, die Sonne scheint so schön, und die frische Luft würde ihr gut tun. Sie willigt ein, und nach einer halben Stunde hole ich sie ab.
Auf dem Weg nach unten entferne ich die „Herzlich Willkommen“- Girlande von Frau T.'s Zimmertür. Sie ist jetzt auch schon 3 Wochen hier, deshalb möchte ihr ein Namensschild machen.
Da sie Iranerin ist, kaum deutsch, eher englisch spricht, möchte ich als Zusatz irgendein persisches Sprichwort in persischer Schrift hinzufügen.
Als ich persische Sprichwörter google, finde ich nur ganz furchtbare Sätze, die meisten sind extrem frauenfeindlich, die Frau soll auf jeden Fall den Mund halten und dem Mann untertan sein, z.B.:
„Der Gott der Frauen ist ein Mann, daher müssen alle Frauen dem Manne gehorchen.“
„Eine machtliebende Frau ist für ihren Ehemann wie ein Ehemann.“
oder sie sind brutal, so etwas wie:
„Betrachte nicht müßig den Steinhaufen,
sondern frage dich, wen du damit bewerfen kannst.“
„Der erste Schlag muss kräftig sein, dann ersparst du dir viele weitere.“
Ich entscheide mich dann für „Die Welt ruht auf Hoffnung“, lasse es den Google-Übersetzer ins Persische übersetzen, damit ich die entsprechenden Schriftzeichen raus bekomme.
Das sieht sehr hübsch aus, ich bin zufrieden. Als ich es Frau T. zeige, lächelt sie und bedankt sich: "Thank you, babe!“
Wieder runter ins Foyer, die Klagen über die verschlossene Haupteingangstür häufen sich. Ich krieg die Technik aber auch nicht hin, alle Kombinationen an der Schaltung funktionieren nicht. Die Tür bleibt verschlossen, das wird im Laufe des Tages zu nervigen Erklärungen führen und zu mehr Lauferei, weil man alle Leute, die Päckchen bringen möchten, zum Hinterausgang schicken muss, und man selber natürlich dann auch dorthin latscht, damit man anschließend die Sachen zu den Bewohnern bringt, oder auf dem Teewagen vor der Haupteingangstür zwischenparkt.
Die Hauswirtschaftskraft musste wegen starker Bauchschmerzen nachhause gehen, also springe ich für sie ein und beginne, den Wohnbereich für das Mittagessen vorzubereiten, die Spülmaschine mit den restlichen Frühstückssachen einzuräumen, Tische abzuwischen, neu einzudecken.
Frau Z. überrede ich, doch mit uns gemeinsam im Gruppenraum zu essen und helfe ihr in den Morgenmantel, da sie nicht im Nachthemd ihr Zimmer verlassen möchte. Beim Essen bittet sie mich zum Schluss darum, ob ich sie füttern könne. Sie zittert so sehr, dass ich ihr das Birnenkompott gerne anreiche. Manchmal fällt mir was auf ihren Morgenmantel, da schimpft sie entrüstet, ich muss mich beeilen, den Fleck schnell zu entfernen. Zack, nochmal.
Frau M. hatte das Mittagessen wie gewöhnlich abgelehnt, aber weil sie gestern so vertrauensvoll mit mir geredet hat, gehe ich mit einer Suppe zu ihr ins Zimmer, empfehle ihr den pürierten Eintopf als sehr gelungen, und sie könne ja wenigstens mal kosten, wenn es nicht schmeckt, soll sie es einfach stehen lassen.
Sie hat die ganze Suppe gegessen, erzählt mir später die Pflegerin, und ich bin stolz wie eine Mama.
Nachdem ich die Küche wieder auf Vordermann gebracht habe, gehe ich runter ins Foyer, sehe neue Pakete und überbringe sie.
Um 14:00 Uhr kommt die Tochter von Frau Z. zu einem Parkplatzdate. Ich hatte ihr schöne Kleidung rausgelegt und die Pflege gebeten, sie vor ihrem Schichtwechsel um halb zwei bitte anzuziehen, das hat auch geklappt, jetzt begleite ich Frau Z. runter.
Die Tochter hat zwei Stück Kuchen mitgebracht, die sind für ihre Mutter und mich. Nach einer Viertelstunde hole ich Frau Z. ab, bringe sie wieder hoch und verabrede mich mit ihr zum Kaffee.
Frau M. soll runter zum Gartenzaundate mit ihrer Tochter, ich werde gefragt, ob ich sie bringen kann, aber ich habe jetzt sofort einen Termin bei der Bewohnerin, die auch mal Videotelefonie mit ihrer Tochter machen möchte. Dazu hat sie sich fein gemacht und sogar rosa Lippenstift aufgelegt.
Für WhatsApp muss ich erstmal die Telefonnummer ihrer Tochter als Kontakt eingeben. Als ich das gemacht habe, stelle ich fest, dass sie kein WhatsApp hat. Ich rufe sie also normal an und frage, wie wir das denn machen sollen, sie habe wohl kein WhatsApp? Oder Zoom vielleicht? Nein, das lehne sie grundsätzlich ab. Ich hatte das Telefon auf Lautsprecher gestellt, so dass ihre Mutter mithören kann, und nun sehe ich, wie sich das vorfreudige Lächeln in Enttäuschung wandelt. Tja, da kann man nichts machen. Schönen Tag noch.
Zurück im Wohnbereich, wo ich jetzt Kaffee und Kuchen verteile, regt sich Frau Sch. über die furchtbare Musik auf. Ich hatte einen Sender gefunden, der herrliche Jazz- und Swing-Stücke aus den 40er Jahren spielt, völlig entspannend, easy-listening.
Frau Sch. beschwert sich allerdings immer, wenn das Radio läuft, egal was gespielt wird, also starte ich eine Umfrage:
“Wie finden Sie die Musik, Frau F.?"
"Und Sie Herr B.?"
"Was halten sie von der Musik, Frau L.?“
Als ich alle durch habe und tatsächlich jeder die Musik schön findet, gehe ich zu ihr hin und sage:
“Tja, Frau Sch., alle anderen mögen die Musik, wie Sie gehört haben. Wenn Sie sich also gestört fühlen, können Sie ja in ihr Zimmer gehen, da ist es ruhig. Oder in den Garten, ich könnte Sie begleiten, es ist schön warm, die Sonne scheint.“
Sie entscheidet sich für den Garten und so humpelt sie schwer atmend am Rollator neben mir her zum Aufzug.
Unten angekommen werde ich sofort um Hilfe gebeten, da zwei Leute zu einem Gartenzaundate begleitet werden sollen, aber auf der anderen Seite winkt schon die Tochter einer Bewohnerin vor dem Haupteingang, dass sie nicht reinkommt, die Tür geht nicht auf, und ihre Mutter steht ratlos vor dem großen Fenster. Ich bitte die Pflegerin, sich selbst um die Begleitung der zwei vom Gartenzaundate zu kümmern. Ich widme mich der Bewohnerin und ihrer Tochter vor dem Fenster, mache durch Handzeichen klar, dass sie bitte zum Hinterausgang bzw. zum Parkplatz kommen soll, ihre Mutter führe ich dorthin. Frau Sch. habe ich immer noch im Schlepptau und begleite sie in den Garten, wo ich ihr eine Bekannte zeige, zu der sie sich setzen kann.
Auf dem Parkplatz bittet mich die Tochter um einen Stuhl für sich, den hole ich ihr aus unserem Büro. Als ich ihn gebracht habe, bittet sie mich, ihrer Mutter ein Glas Sekt zu überreichen, das sie gerade eingeschenkt hat. Während ich der Mutter den Sekt auf ihren Rollator stelle, merke ich, dass sie ja auch besser einen Stuhl bekommen sollte, schließe also erneut das Büro auf und hole ihr einen. Die Tochter bittet mich, bei dieser Gelegenheit ihrer Mutter noch eine Rose zu überreichen, die stecke ich ihr in das Körbchen ihres Rollators.
Ein Paar Meter weiter treffen sich Frau N. und ihre Tochter, begleitet von einem Pfleger. Gott sei Dank können sich manche Pfleger diese Zeit nehmen und ihren Wohnbereich verlassen.
Ein Mann, den ich nicht zuordnen kann, wartet vor den parkenden Autos auf seine Mutter, es handelt sich um Frau W., wie mir jemand von der Pflege telefonisch mitteilt, also begleite ich sie zu einem speziellen Platz, der weiter hinten liegt, da ist es ruhiger, sie ist doch so schwerhörig. Unterhalte mich mit dem Sohn und schlage ihm vor, da man die beiden von hier nicht sehen kann, jemanden von der Pflege anzurufen, wenn sie fertig sind, damit ich die Mutter wieder abholen und hochbringen kann.
Auf dem Weg zurück bekomme ich einen kleinen Tumult mit, eine Pflegerin hat die Tochter mit dem Sekt empört gebeten, ihre Mutter doch nicht so aufzuregen, es wäre doch nicht schlimm, dass die Mutter sich nicht erinnern kann, wer denn Siegfried und Roy ist.
Die Mutter schwitzt mittlerweile gehörig, denn es ist sehr heiß in der prallen Sonne. Die Tochter bittet mich nun, ihre Mutter etwas nach rechts zu verschieben, ein Pfosten gäbe dort etwas Schatten. Ich sehe, dass das Quatsch ist, und selbst wenn, säße ihre Mutter in fünf Minuten wieder in der Sonne. Aber ich mache es.
Die Tochter quasselt mittlerweile auch mit anderen Bewohnern, die sich in ihren Rollstühlen vor den Hinterausgang gestellt haben, um diese Besuchsaktionen zu beobachten. Es wird jetzt ganz schön eng da.
Drinnen möchte ich kurz Abstand gewinnen, und beschließe erstmal zu dokumentieren. Der Computer reagiert nicht, hat sich irgendwie aufgehangen, ich kann mich nicht anmelden, also auch kein Programm öffnen oder Mails checken. Nach Telefonaten mit Pflegern auf verschiedenen Etagen wird klar, dass alle das selbe Problem haben. Ok. Das wird wohl nichts, muss ich wohl später nochmal versuchen.
Mache mir stattdessen einen Kaffee und rauche mal eine in dem Bushäuschen auf dem Parkplatz. Das ist unangenehm, weil mir jetzt so viele Leute dabei zusehen. Ich wiederum checke von da aus, wie sich die Lage auf dem Parkplatz darstellt.
Die schwitzende Mutter fühlt sich offenbar nicht wohl mit der Hitze und die Aufregung vorhin über diese Siegfried und Roy Sache hat sie auch nicht gerade entspannter werden lassen. Nach der Zigarette gehe ich zu ihr und frage sie, ob sie vielleicht lieber wieder rein möchte, da schaut sie verunsichert ihre Tochter an und fragt, was meinst du?
„Das musst du wissen, Mutti, ich kann noch, ich hab Zeit, aber das musst du entscheiden!“
So in die Bredouille gebracht, helfe ich ihr schnell und schalte mich wieder ein:
“Das ist heute viel zu heiß hier, Frau H., sie sind ja schon über eine halbe Stunde hier, drinnen ist es kühler, sie können sich ja nochmal für hier verabreden.“
„Ja, das machen wir so.“
In dem Moment kommt ein Auto mit der Tochter von Frau K. an, die nicht auf den Besucher Parkplatz fahren kann, weil die Tochter sich noch von der Mutter verabschiedet, die beiden Stühle, dieser ganze markierte Platz, einfach alles ist im Weg.
Herr B., der Ehemann einer Bewohnerin, ist auch schon eingetroffen und will Frau K. auf einen Parkplatz, der den Mietern vorbehalten ist, einweisen. Ich gebe der Sekttochter ihr Glas zurück und gehe zum Auto, mache Frau K. darauf aufmerksam, dass sie auf den vorgeschlagenen Platz von Herrn B. nicht fahren darf, aber dass sich die beiden Damen gerade verabschieden und sie dann durch könne. Sie ist direkt etwas angestoßen und meint, sie hätte da ja gar nicht parken wollen, Herr B. hätte halt behilflich sein wollen. Natürlich weiß ich das auch, aber ich nicke nur freundlich und bitte um Geduld.
Die Tochter ist endlich gegangen, ich räume die Stühle zur Seite, Frau K. kann durchfahren, ich nehme mir die Sekt-Mutter und begleite sie zu ihrem Zimmer nach oben, schneide die Rose an und stelle sie in eine Vase auf ihren Tisch.
Gehe sofort wieder runter, um die Stimmung bei Frau K. zu verbessern, indem ich ihr erkläre, dass das kein Vorwurf an sie war, sondern dass es sich hier nur um ein paar kleine Schwierigkeiten handelt, die wir so jedoch nicht auf dem Schirm hatten, unter anderem eben, dass dieser Platz, den sie jetzt mit ihrer Mutter eingenommen hat, ungünstig ist, da man so nicht auf den Parkplatz könne.
Daraufhin wird sie noch ungeschmeidiger, ob sie jetzt etwa woanders mit ihrer Mutter hin soll.
„Nein, natürlich nicht, das ist jetzt gut so, wir müssen nur andere Lösungen finden, da jetzt das Besuchsaufkommen aufgrund des Muttertages morgen, und den angekündigten Lockerungen etwas zugenommen habe. Aber die meisten Angehörigen sind einsichtig, und haben ihren Besuch für morgen verschoben. Es haben sich nur drei Angehörige für morgen angemeldet.“
„Wie jetzt? Man muss sich anmelden? Das hat man mir nicht gesagt, ich komme doch auch morgen, muss ich mich heute anmelden, oder was?“
Oje, ich mache alles nur noch schlimmer.
„Nein, das müssen Sie nicht, wir müssen nur Lösungen finden für die Zukunft, und da wird es besser sein, die Besuche zu organisieren, zu strukturieren. Es kommen ja bestimmt auch morgen schon unangekündigte Besucher, soviel Platz haben wir ja gar nicht.“
„Also ich rufe immer mittags an, und mache einen Termin für nachmittags aus. Das haben wir doch immer so gemacht. Es gab doch dieses Schreiben von der Heimleitung, dass Sie die Lockerungen eh noch zwei Wochen verschieben, da stand auch nichts von Terminvergabe.“
Sie ist richtig in Fahrt, es tut mir so leid, Missverständnisse, meine Unfähigkeit die richtigen Worte zu finden, und auch dass unser Gespräch jetzt von allen interessiert mitverfolgt wird, mittlerweile ist noch Frau Z. mit ihrem Sohn nebenan zu ihrem Parkplatzdate eingetroffen, und weiterhin die fünf Bewohner, die sich zum Chillen hierher gesetzt haben, vereinfachen die Situation nicht im Geringsten.
Frau St. kommt angerollt und ruft nach „Mama“.
Ich lächle Frau K. an, während ich Frau St.’s Hände in ihren Schoß lege, damit sie sich nicht weiter bewegt, und ich sie gleich rein schieben kann, sage ihr nochmal, dass das alles nicht persönlich gegen sie ist, dass es einfach noch etwas Zeit braucht, bis wir die besten Lösungen gefunden haben. Und solange kann sie es selbstverständlich so weiter machen, wie bisher, und ihre Mutter wie gewohnt treffen.
Ich bringe Frau St. zum Garten, da kommt mir Frau W. entgegen, ich hatte ihr am Morgen, als mir noch nicht klar war, wie stressig das hier wird, versprochen ihr den Nagellack von den Fingern zu lösen, und die Nägel neu zu lackieren, jetzt fordert sie das ein.
„Na schön, Frau W., kommen Sie mit in mein Büro“
Wir haben nur noch ein Wattepad, mit den Papierhandtüchern geht der Lack nicht richtig ab, aber sie ist schon so scharf drauf, endlich ihre Nägel gemacht zu kriegen, dass sie sagt, ist doch egall, lackier einfach drüber, komm, ist egal.
Mit dem zartrosa Lack ist sie dann einverstanden, der ist aber halb eingetrocknet, und selbst als ich ein wenig Aceton in das Fläschchen träufele, lässt er sich nur sehr schlecht verteilen. Aber mir ist es jetzt auch egal. Frau W. ist dennoch zufrieden. Als sie weg ist, versuche ich nochmal mich am Computer anzumelden. Nichts. Nada.
Ein Pfleger kommt vorbei, mit der laut betenden Frau A. Er kann nicht mehr, sie ist verzweifelt, beide sind froh, dass ich übernehme.
Der Tochter sage ich, dass sie bitte hinten an den Gartenzaun kommt, Frau Sch. krallt sich derweil am Türrahmen fest, und fordert lautstark nach ihrer Freiheit. Ich beruhige sie, bete mit ihr ihr Standardgebet „Lieber Gott behüte und beschütze mich…“, schiebe sie in den Garten und zeige ihr ihre Tochter, die schon winkend am Zaun steht.
Da ist sie freudig überrascht und sofort sehr umgänglich und liebenswürdig.
Auf dem Weg zurück bitten mich ein paar Bewohner die schweren Sonnenschirme aufzuspannen. Der eine ist kaputt, also wird der einzig Funktionierende aufgemacht, und gleichzeitig fragt mich eine Bewohnerin, wie das eigentlich mit diesen Lockerungen zu verstehen ist, ob sie sich jetzt mit ihrem Sohn auf dem Parkplatz treffen kann. Ein Mieter von oben schaltet sich ein, das gehe im Moment nicht, unser Haus hätte die Lockerungen beschnitten.
Auch hier versuche ich so freundlich wie möglich die aktuelle Situation und die Möglichkeiten zu erklären.
Dann verstecke ich mich kurz in der Cafeteria in der Küche, trinke einen Kaffee und esse mein Brötchen.
Frau St. verkeilt sich irgendwo und ruft nach Mama.
Nach dem ich sie befreit habe bringe ich Sachen vom Teewagen auf den Wohnbereich.
Zurück im Garten winkt mir die Tochter von Frau A., ich könne ihre Mutter wieder abholen. Wir plaudern kurz, da meint sie zögerlich:
“Wegen morgen, Muttertag….“
Da schaue ich sie ganz zärtlich an und sage:
„Ein Angehöriger, der Muttertag nicht kommt, ist ein lieber Angehöriger!“
Sie lächelt und erwidert:
„Ich verstehe, deshalb frage ich.“
Nebenan steht der Sohn von Frau G., die verdächtig wackelt mit ihrem geschenkten Blumentopf in den Händen, ich biete an, sie mit nach oben zu nehmen, was sie gerne annehmen. Sie haben gehört was ich eben zu der Tochter von Fr. A.. gesagt habe.
„Wir kommen auch nicht morgen, wir haben uns das schon gedacht, deshalb sind wir heute hier!“
Frau A. schiebend, Frau G. im Arm, zockeln wir zum Aufzug. Dort gibt Frau G. sofort zu, dass sie dringend müsse, es vielleicht nicht mehr schafft. Wir müssen aber leider auf der ersten Etage Halt machen, damit ich dort Fr. A. zumindest zum Dienstzimmer fahre, damit Kollegen sie dort übernehmen können, sie soll sich bitte in die Aufzugstür stellen, damit sie nicht zugeht, ich bin in wenigen Sekunden wieder da.
Fr. A.. versteht nicht, was ich da so schnell mit ihr mache, fängt sogleich wieder an laut zu beten, Gott sei Dank ist aber ein Pfleger im Dienstzimmer, der sie übernimmt.
Zurück zu Frau G., schnell auf die zweite Etage, den Flur runter, fast im Laufschritt, im Vorbeilaufen ruft Frau N. aus ihrem Zimmer, dass sie mal muss, ich rufe ihr zu, dass ich der Schwester Bescheid sage, die komme ihr helfen. Endlich das Zimmer von Fr. G., Tür auf, Badezimmer Tür auf, sie schnell rein, ich wieder raus.
Ich glaube, sie hat es nicht geschafft.
Gehe zur Pflegerin, sage ihr, dass ich Frau G. zur Toilette gebracht habe, aber nicht sicher bin, ob sie es geschafft hat, und dass Frau N. auch um Hilfe gebeten hat. Sie wird sich um beide kümmern.
Unten hole ich Fr. St. vom Parkplatz, die sich schon ganz schön weit weg bewegt hat, und laut Mama rufend immer weiter fährt.
Es ist niemand mehr hier, die Stühle stehen da noch.
Bitte eine Pflegerin Fr. St. zu übernehmen, da ich jetzt Feierabend habe. Hole die Stühle noch rein, schicke Anouk eine SMS, in der ich mich ausheule über diesen stressigen Tag, sie tröstet mich, dann logge ich mich aus, setzte mich auf’s Fahrrad und merke wie erschossen ich bin.
Als ich Tommy auf dem Severinskirchplatz treffe, fehlen mir die Worte um meinen Tag zu beschreiben, stattdessen kullern mir ein paar Tränen über die Wangen, er holt Kaffee für mich, wir setzten uns dann auf eine Bank vorm Sette, Tommy kümmert sich rührend, das Weinen hat offenbar schon geholfen, denn langsam kann ich ihm Einzelheiten von heute erzählen, und auch schon wieder darüber lachen. Ein Vogel kackt auf Tommys Rucksack, ich spanne zum Schutz meinen Regenschirm auf. Das muss ballaballa aussehen, wie ich da im Schatten bei brütender Hitze mit Regenschirm sitze, das selbst ein durchgeknallter Obdachlose zweimal gucken muss und kichernd weitergeht. Später kommt noch Achim, setzt sich zu uns, ist aber so breit, dass er bald einschläft. Er hat am morgen Heroin geraucht, erzählt er, als er mal zwischendurch wach wird.
Meine Laune ist jetzt richtig gut, ich hole uns noch zwei Limonata, Tommy fotografiert mich mit dem Schirm und Achim auf der Bank. Bevor wir gehen, bekommt er von Tommy noch Geld, von mir Zigaretten und einen frischen Berliner von Merzenich.
Zum Einschlafen höre ich den wunderbaren Podcast "Sternengeschichten". Heute höre ich ein Folge über den Asteroiden Hygiea.
Statistik, 23:00 Uhr
171.324 Infizierte 7.549 Todesfälle 143.370 wieder gesund

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