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Samstag, 30. Mai

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 30. Mai 2020
  • 8 Min. Lesezeit

Zwei Tage Frühdienst, und schon wieder erleichtert, dass ich heute nur einen kurzen Dienst habe der erst um 13 Uhr anfängt.

Es ist aber auch verflixt, beim Frühdienst hat man schön früh Feierabend, die frühe Schicht fühlt sich viel kürzer an, sie verfliegt nur so, aber man muss am Abend vorher früh ins Bett und dann das frühe Aufstehen.

Die späte Schicht fühlt sich oft sehr lang an, man hat erst um halb 6 Feierabend, aber man kann bis in die Puppen wach bleiben und ausschlafen.

Meine schöne ich-werde-jetzt-immer-von-selbst-um-7-Uhr-wach-Zeit ist anscheinend vorbei. 10 Tage Urlaub - alles kaputt.

Aber die Vorfreude auf freie Tage ist wieder da. Im Urlaub bemerkt man es nicht, da haben freie Tage nicht die geringste Bedeutung, aber sobald man arbeitet ist ein freies Wochenende, oder in diesem Fall ein Sonntag und ein anschließender Feiertag ein heiß ersehntes und freudig erwartetes Ziel.


An unserer Flip-Chart hängen jetzt immer die Tages - Ausdrucke, wie die Besuche heute aufgeteilt sind. Ich komme kurz vor 13 Uhr an, und sehe den ersten Termin für 13 Uhr, huch, dann mal schnell jetzt Frau Z. runterholen. Die Pflegerinnen sind erleichtert, dass ich das übernehme. Die Tochter kommt aber nicht, wird angerufen, sie sagt, sie sei auf dem Weg, als ich noch mal auf den Plan schaue, erkenne ich dass der Termin erst um 13:30 Uhr ist, und dass ich gar nicht dafür eingeteilt bin, sondern die Pflege der betreffenden Etage.

Hm, egal jetzt, die Stühle werden nach draußen gebracht, desinfiziert, mit Klemmbrett und dem Zettel den die Besucher ausfüllen müssen, und einer Flasche Händedesinfektion ausgestattet warte ich mit Frau Z. auf ihre Tochter und ihre Schwester. Sie ist eigentlich nicht so gut drauf, seufzt und jammert, ist immer wieder ratlos, wer ihr alles beim Packen helfen kann, und wohin das ganze Zeug gekommen ist, ihre Wohnung ist so schön, in dem Haus, in dem auch ihre Eltern wohnen, ganz in der Nähe, und sie möchte das jetzt alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Ich kläre sie auf, dass ihre Eltern längst verstorben sind, sie hier wohnt und ein schönes Zimmer hat, dass alle Kisten, die sie vermisst, auch schon verteilt und untergebracht sind, dass ihre Tochter sich liebevoll um sie kümmert, und ja gleich auch zu Besuch kommt. Sie nimmt es verblüfft auf.

Das kann ich nicht immer so machen, so geradeheraus mit der Realität, das wäre in bestimmten Situationen ein zu großer Schock, der die Verwirrung und die Verzweiflung noch intensivieren würde. Aber ich kann sie gut einschätzen, und weiß, dass sie es jetzt verträgt und damit umgehen kann, ihr wieder Orientierung gibt, und somit Boden unter den Füßen.

So verbringen wir die letzten Minuten bevor ihre Tochter kommt, mit Betrachten der Umgebung, der Himmel ist so schön blau und die Wolken sehen wundervoll aus, da vorne auf der anderen Straßenseite in dem leerstehenden Ladenlokal war mal ein Küchenstudio drin, hier unten wachsen Ringelblumen am Parkplatzzaun, die Vögel zwitschern.

Frau Z. lächelt entspannt.

Ihre Schwester und die Tochter kommen, füllen den Kram aus, reiben sich das Mittel ein, das ich ihnen in die Hände schütte, ich lasse sie für 30 Minuten allein.

Im Plan geht es weiter, in 30 Minuten Taktung stehen dort Namen und Orte, am Parkplatz neben der Raucherecke, hinter dem Müllhäuschen, unter dem Vordach, am Gartenzaun. Wenn mehrere Besuche gleichzeitig an verschiedenen Orten eingeteilt sind, dann sind auch die Kollegen von der Pflege für die Abwicklung zuständig, was heute nicht wenig ist, da ich allein von der sozialen Begleitung vor Ort bin, und ja immer nur einen Besuch begleiten kann.


Mehrmals muss ich auf Toilette, furchtbar, Gott sei Dank immer zwischen den Terminen. Ich entscheide mich eine „immodium akut“ Schmelztablette zu nehmen, was ich wirklich nur im Notfall nehme, da ich anschließend noch zum Grillen eingeladen bin.


Ich schaffe es zwischendurch die Dokumentation von gestern zu erledigen, aber die Zwischenräume zwischen den Terminen sind so kurz, dass ich außer zu kleinen Gesprächen und Dokumentationen zu nicht viel komme.

Frau H. ist wieder sehr gereizt, beschwert sich über weitere "impertinente Vorkommnisse", eine Pflegerin kommt hinzu, erinnert Frau H. daran, dass sie sehr unfreundlich war und sogar bedrohliche Gesten gemacht habe, und dass man doch bitte gegenseitig respektvoll miteinander umgehen sollte. Beide sind aufgebracht, empört über die jeweils andere Aussage, ich versuche zu vermitteln, was mir nur mäßig gelingt. Bestimmt finden mich beide Parteien, Bewohnerin und Pflegerin, unsolidarisch und sind jede für sich ein wenig eingeschnappt.


Kurz vor meinem letzten Besuchstermin, ich bin im Büro, höre ich Hilferufe, ich laufe sofort raus, eine Bewohnerin kommt mir entgegen und berichtet aufgeregt, dass eine Frau auf der Terrasse gestürzt sei. Ich laufe weiter zur Terrasse, da liegt Frau B. seitlich auf dem Boden. Ich knie mich sofort zu ihr runter, streichle sie, nehme ihre Hand, frage sie, ob sie irgendwo Schmerzen hat, während ich alles nach Blut absuche, greife ich mit der freien Hand mein Diensttelefon, rufe oben auf der zweiten Etage an, weil das die einzige Nummer ist, die ich auswendig kenne und bitte Kollegin Miri Storch jemanden vom Erdgeschoss anzurufen, da Frau B. gestürzt ist.

Frau B. ist hochdement, sie nimmt alles in den Mund und versucht es zu essen, was nicht bei drei aus ihrer Nähe verschwunden ist. Deshalb kann ich an ihrem Tisch nie irgendwelche Dekorationen oder Blumen hinstellen. Sie ist mobil, eigentlich braucht sie einen Rollator, aber das versteht sie natürlich nicht, und wenn mal gerade keiner dabei ist, steht sie auf und schaut sich in der Gegend um. So ist sie wohl auch zur Terrasse gelangt, und irgendwie gestürzt. Keiner der anwesenden Bewohner, die sich auch auf der Terrasse aufhalten, hat irgendwas gesehen, nur diesen Knall gehört, als sie aufschlug.

Ich kann kein Blut finden, zwei Pflegerinnen sind mittlerweile eingetroffen, Frau B. lächelt und genießt gerade die Aufmerksamkeit, streichelt meine Hand und da ihr Blick in den Himmel gerichtet ist, freut sie sich mir ein Flugzeug zu zeigen.

Die Pflegerinnen können gerade auch nichts Gravierendes feststellen, Frau B. gibt auch keinerlei Schmerzen an, also richten sie sie erstmal auf, so dass sie sitzen kann, dann wird sie hoch gehievt und auf einen Stuhl gesetzt. Ihre Arme, Beine, Hüfte werden abgetastet, ich lasse sie über Kreuz meine Hände drücken, mir die Zunge rausstrecken, alles tadellos.

Frau B. freut sich immer noch über die enorme Zuwendung, streichelt mich, die Pflegerinnen, und lächelt uns an. „Das ist mir ja noch nie passiert!“

„Kann schon mal vorkommen, Frau B.!“ Ich streichele ihr über den Kopf und fühle eine phänomenale Beule. Jetzt muss doch Miri Storch runterkommen, da sie als examinierte Fachkraft einschätzen muss, ob ein Krankenwagen gerufen werden muss.

Mittlerweile hab ich ein Küchentuch mit eiskaltem Wasser auf ihr Hörnchen gelegt, und Miri meint, wir beobachten das noch eine Stunde, sollte sie sich übergeben oder so, dann rufen wir den RTW.

Jemanden in Coronzeiten ins Krankenhaus zu schicken, wird zweimal überlegt, einmal ist in Krankenhäusern die Gefahr einer Infektion von was auch immer sehr viel größer, und ausserdem muss jeder Bewohner der aus dem Krankenhaus zurückkommt erstmal für 14 Tage in Zimmerquarantäne.


Durch diesen Vorfall konnte ich mich nicht um den Besuchstermin, der vor einer Viertelstunde angesetzt war, kümmern. Aber die Tochter, die ihre Mama besuchen will, hat vom Gartenzaun aus alles mitbekommen, und meint, alles okay, ich warte, kein Problem.


Weil ich mittlerweile schon Feierabend habe, bitte ich jemanden von der Pflege, die Dame, die ich gerade runter zu ihrer Tochter begleitet habe, nachher wieder abzuholen.


Puh, das war ja nochmal aufregend, jetzt aber schnell los, um 18 Uhr sind Tommy und ich ja bei Melodie und Martin zum Grillen eingeladen. Ich muss noch Blumen für Melodie kaufen und Mitbringsel für Louis und Sophie. Tommy kümmert sich um Wein.

Da ich mir durch meine Sandalenriemchen an meinem Hallux valgus eine brennende Blase gescheuert habe, möchte ich noch schnell in den Arkaden bei Deichmann ein paar günstige Sandalen kaufen, die mir nicht wehtun. In 15 Minuten bin ich durch, kann mich nicht entscheiden und kaufe mir halt 3 Paar günstige Sandalen. Im Plastikgeschäft finde ich Wasserspritzpistolen und ein Klettballspiel für die Kinder.

Jetzt schnell weiter radeln in die Südstadt.

Notgedrungen, da alle anderen Blumenläden schon geschlossen haben, fahre ich zu Brigitte Bardot. So nennen Tommy und ich die verschrobene Blumenverkäuferin in ihrem wunderlichen Laden, der viel zu eng ist und vollgestopft mit frischen aber auch getrockneten Blumen, die überall auch von der Decke hängen.

Sie ist bestimmt schon 80 Jahre alt, sieht der alten Brigitte Bardot ähnlich, mit ihrem langem blondiertem und toupiertem Haar, ihrem Make-up und den nicht zu übersehenen Schönheitsoperationen an Mund, Nase, Wangen und Augen. Sie ist zuckersüß, wirklich eine tolle Frau, enorm entspannt, also sehr, sehr langsam, man muss schon etwas Zeit mitbringen, wenn man bei ihr einkehrt, weil sie auch sehr gesprächig ist und vom eigentlichen Einkauf gerne ablenkt. Zudem ist sie so dominant, dass es selbst mir schwer fällt, meinen Wunsch an Auswahl und Anordnung der Blumen durchzusetzen, weil sie immer eine „bessere Idee“ hat. Ich habe mich selbstbewusst für Pfingstrosen entschieden, denen ich ein paar wunderschöne sehr altmodisch aussehende Blütenzweige, deren Namen Brigitte Bardot auch nicht kennt, hinzufügen möchte. Sie ist durchaus zufrieden mit meiner Wahl und möchte dem nichts hinzufügen. Darüber erleichtert bekommt sie von mir noch extra 2 Euro Trinkgeld.

Zack, zack, weiter im Programm, schnell nach Hause, meine Sachen ablegen, das Geburtstagsgeschenk für Melodie, das seit Januar hier bei mir versauert, einstecken, und dann noch schnell dringend in Ruhe im Sette Kaffee trinken, sonst kipp ich um.

Melodie schicke ich die Nachricht, das wir uns um 20 Minuten verspäten werden, und Tommy schicke ich die Nachricht, dass er mich im Sette abholen kann.

Er ist gerade erst zuhause angekommen und muss erstmal duschen, kommt dann. Der hat ja Nerven! Ich hetze mich hier ab, und er geht erstmal duschen, zu einem Zeitpunkt, an dem wir schon in die Bahn steigen müssten, wenn wir pünktlich da sein wollen?


In der Bahn stelle ich fest, dass ich zum tausendstenmal Melodies Geschenk zuhause liegen gelassen habe. Ich ärgere mich fast die ganze Fahrt lang.

Da mein Bauch grummelt, und ich ein unbestimmtes, aber sehr unangenehmes Bauchgefühl habe, zweifle ich plötzlich an, ob ich überhaupt „immodium“ genommen habe, oder aus Versehen eine Tavor, die ich ebenso stets als Notfallmedikament als Schmelztablette dabei habe. Ich krame in meiner Tasche nach dem Blister, und atme erleichtert auf. Puh, noch mal Glück gehabt.

Tommy erzähle ich kurz meine Horrorphantasie, wie es wäre, wenn ich mitten in der Bahn vor allen Leuten einen Duchfallanfall bekommen würde, er nur ratlos daneben ständ, mir nicht helfen könnte, aber all die Pein und Scham mit mir teilen müsste. „Ja, das wäre echt witzig.“


Sophie ist nicht da, schläft bei ihrer Freundin, aber Louis, und er ist in Höchstform. Er redet die ganze Zeit Quatsch, kann keinen unironischen Satz rausbringen, das ist wohl so mit zwölf oder dreizehn.

Es ist so ein angenehm lauer Abend, der Tisch schön gedeckt, mein Magen knurrt, als Vorspeise gibt es bald Merguez und Tomatensalat mit roten Zwiebeln und Koriander. Ich liebe diesen Salat, könnte mich da reinsetzen.

Das Hauptgericht ist ein großes Stück Rindfleisch, den Namen habe ich vergessen, aber am Ende ist es wie ein schöner Roastbeefbraten, zart und schmackhaft, den Martin in Scheiben für uns portioniert, dazu köstlichen grünen Salat mit Radieschen. Ich bin immer so glücklich, wenn es leckeres Essen gibt, das rührt mich manchmal zu Tränen, das kann ich kaum beschreiben. Die ganze Anstrengung des Tages fällt von mir ab, ich muss nicht einmal auf's Klo, herrlich.


Nach dem Essen spielen wir zuerst noch mit Louis „The Game“ und gewinnen alle gegen „The Game“. Louis geht dann aber runter in sein Zimmer, daddelt da online mit einem Freund irgendein Kampf-Spiel.

Wir vier spielen Anno Domini, das macht echt noch mehr Spaß zu viert, wir lachen viel und ärgern uns alle gegenseitig. Tommy gibt überraschend zu, dass er von meiner Herangehensweise „gelernt“ hat. Man müsse die Ereignisse ganz genau durchlesen, auf versteckte Hinweise achten, Querverbindungen aufspüren, um sie historisch besser einzureihen. Das muss er wiederholen, weil ich es kaum glauben kann.

Ich liebe Melodies französischen Akzent und küsse sie manchmal für ihre zauberhafte Aussprache auf ihren Arm. Es ist ein wirklich entspannter und lustiger Abend, genau richtig um ins Wochenende zu floaten.

Mit einem Uber-Taxi, das Tommy ordert, fahren wir über eine nie zuvor gefahrene Strecke nachhause, bzw. zu der Stelle, an der ich mein Fahrrad angeschlossen habe.

Es war so schön heute Abend, wenn das Sette noch auf hätte, könnte ich mich da noch für einen Schlummertrunk mit Tommy hinsetzen. Aber das hat ja schon seit Stunden zu, wir freuen uns aber auch beide darauf sich jetzt mal in die Waagerechte begeben zu können.


ree



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