Samstag, 24. Oktober
- Mai Buko
- 24. Okt. 2020
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Nov. 2020
Der nächste Arbeitstag beginnt mit einer großen Fallbesprechung, das heißt mit dem Angehörigen, dem Sozialen Dienst, der Heimleitung und allen Mitarbeitern des Wohnbereichs, die gerade im Dienst sind. Der Besprechungsraum wird hergerichtet, ich schiebe die Stühle so weit auseinander, dass ein Mindestabstand gehalten werden kann, die Fenster auf Kipp, alle trudeln ein, und der Sohn der Bewohnerin setzt sich dazu.
Es ist ein netter Angehöriger, einer von den freundlichen, den wertschätzenden und kooperativen Angehörigen. Das ist schon mal gut.
Malte eröffnet die Besprechung und Janina, die „Bezugspflegerin“ legt sofort los. Sie hat heute eine FFP2 Maske auf, die sie aber immer wenn sie einen Satz beginnt gedankenverloren unters Kinn zieht. Diese FFP2 Masken sind aber auch wirklich noch schrecklicher als alle anderen Masken, man bekommt wahnsinnig schlecht Luft darunter. Warum trägt sie sie heute überhaupt? Normalerweise hat sie immer ganz „witzige“ Masken auf, zum Beispiel mit dem FC Köln Logo.
Anouk versucht ohne dass es der Angehörige bemerkt Janina Zeichen zu geben, dann zieht sie die Maske wieder hoch, und auch wieder runter, wenn sie den nächsten Gedankengang mitteilt. Und das ist der nächste Knackpunkt, der uns restliche Mitarbeiter nervös macht. Sie berichtet so unglücklich über das Verhalten der Bewohnerin, dass es sich anhört, als sei sie furchtbar anstrengend, als wäre sie eine Last, eine unmögliche Situation, die uns Mitarbeiter in die Nähe eines Nervenzusammenbruchs führt. Das geht natürlich gar nicht, der arme Sohn soll ja keine Schuldgefühle oder ähnlich unangenehme Gefühle entwickeln, denn dass seine Mutter andauernd wegläuft, auf die Strasse, in andere Viertel oder irgendwo im Haus verschwunden ist, ist halt so, dafür kann weder seine Mutter noch er etwas. Das drücken wir normalerweise anders aus. Behutsamer, neutraler.
Als sie ihre Zusammenfassung beendet, und kurz eine betretene Stille eintritt, melde ich mich kurzerhand in naivem Tonfall:
“Sorry, wenn ich das jetzt so frage, aber wäre es nicht möglich einen Tracker anzubringen?“
Wir haben schon andere Bewohner mit „Hinlauftendenzen“, die sich mit ihren Rollatoren aus dem Staub machen, mit einem Tracker versehen, die dann am Rollator befestigt sind. Anhand des Trackers können wir sie dann orten. Sehr ungenau zwar, aber man kann meist wenigstens ausschließen, dass sie sich noch im Haus befinden, was eine Hausdurchsuchung erspart, die sehr zeitaufwendig ist, die wir aber leisten müssen, bevor wir die Polizei um Unterstützung bitten dürfen.
Seine Mutter lässt jedoch ihren Rollator immer stehen. Sofort kommen ein paar Vorschläge, die auch verworfen werden, denn sie würde sich dieses Zeug ausziehen.
Der Sohn selber erzählt dann von einer großen Herrenarmbanduhr, die er mal gesehen hat, in der ein Tracker versteckt ist, allerdings befürchte er, dass sie diese riesige Uhr auch ablehnen würde. Ich schlage vor, dass er ihr diese Uhr als Geschenk überreicht, und wir dann auch immer wieder erwähnen wie schön diese Uhr von ihrem Sohn doch sei, so dass sie selber Wert darauf legt stets dieses Geschenk ihres Sohnes zu tragen. Abgemacht.
Ich gehe anschließend Herbstdekorationen kaufen, beziehungsweise gucken, was ich an Herbstdekorationen noch finden kann, denn der Herbst hat ja längst schon angefangen, die Weihnachtsdekorationen liegen schon aus. Ich bin dieses Jahr irgendwie spät dran. Zum Glück hab ich zwar genug über die letzten Jahre angesammelt, aber ich hole gerne jedes Jahr etwas Neues hinzu. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel viel an Pilzen gekauft, Girlanden mit Pilzen, Holzpilze in verschiedenen Größen, Keramikpilze und Filzsets in Pilzform. Dieses Jahr finde ich noch ein paar Igel und kaufe alles auf, was ich kriegen kann.
Im Haus habe ich unzählige Blätterranken in den schönsten Herbstfarben. Die wickele ich dann über die Zweige, die in jedem Gruppenraum und in jedem Dienstzimmer von der Decke hängen, die ich ja saisonal behänge.
Dann hab ich noch andere Girlanden, mit Eulen, mit Kürbissen, aber auch einzelne Herbstblätter in allen Größen und Kram, den man auf die Tische stellen kann, mit den neuen Igeln, kleine Keramikkürbisse, getrocknete Physalisblüten, künstliche Hagebutten und Nüsse.
Um all das auf den drei Etagen zu verteilen und anzubringen muss natürlich der ganze Sommerkram erst abgehangen werden. Dafür schicke ich unseren 1-Eurojobber mit einem Rollwagen und leeren Kisten voraus, ich folge ihm in zeitlichem Abstand mit einem zweiten Wagen voller Herbstkisten und schmücke die nun leeren Stellen.
Insgesamt werde ich drei Tage brauchen um das ganze Haus zu dekorieren, die Sommersachen ordentlich zu sortieren und für’s nächste Jahr zu verstauen.
Herrlich, das ist anstrengend, weil man viel latschen muss, sich strecken muss um oben dran zu kommen, sich andauend bücken muss, um runtergefallene Heftzwecken und Nägel aufzuheben, und dazwischen immer wieder mit den Bewohnern befassen, die das ganze Treiben sehr interessant finden und auch begeistert sind von den vielen schönen orangen Farbtönen.
Am Dienstag gibt es 1287 Infizierte in Köln. Bürgermeisterin Henriette Reker verschärft nochmal die Regeln: zB. ist es ab sofort täglich von 22 bis 6 Uhr des Folgetages verboten im öffentlichen Raum Alkohol zu konsumieren. Auch der Verkauf von Alkohol ist in diesen Zeiten verboten. Und am Wochenende komplett, also von Freitag Abend bis Montag früh.
Das Berchtesgadener Land ist die erste Region in Deutschland, in der ein zweiter Lockdown verordnet wurde, weil deren Inzidenzzahl innerhalb einer Woche auf 272,8 stieg.
Hamsterkäufe gehen auch schon wieder los, Klopapier wird gekauft als ob es ausgehen könnte. Uff.
Die Bauchkrämpfe kriege ich nicht weg, liegt vielleicht daran, dass ich Mittwoch mittags halbrohen Rosenkohl und eine Linsensuppe gegessen habe. Die Heimleitung schüttelte nur den Kopf bei soviel Dummheit.
Und endlich kann ich aufatmen, Anouk hat sich nach längerem Abwarten geoutet, jetzt wissen alle, dass sie schwanger ist, und ich kann mich nicht mehr verplappern. Ich weiß es schon seit sie in der 6. Woche ist, und konnte es kaum aushalten, dieses Geheimnis zu bewahren.
Ich freue mich wahnsinnig für sie, und habe gleichzeitig Angst, was passiert in ihrer Abwesenheit während der Mutterschaftszeit. Wer wird sie ersetzen? Hoffentlich bleibt sie nicht allzu lange weg, sie ist meine liebste und beste Mitarbeiterin. Und natürlich die beste Vorgesetzte, die ich ich mir wünschen kann.
Jetzt haben wir einen neuen Running-Gag, nämlich dass ich das Baby für sie austrage, weil ich mit meinem Bauch dreimal schwangerer als sie aussehe. Haha, ja, ist schon peinlich einen so aufgeblähten Fettbauch mit sich rumzuschleppen.
Weil ich jetzt morgens so schlecht aus dem Bett komme, da es ja noch dunkel ist, überlege ich mir, dass es doch toll wäre, wenn man eine Art Licht erfinden würde, das sich morgens im Zimmer ausbreitet, und einem so suggeriert, die Sonne scheint.
Da meint Anouk, das gibt es schon!
Vor allem Philips biete diverse „Lichtwecker“ an.
Ich recherchiere etwas rum, lese die Testergebnisse, und entscheide mich für ein Modell, das im Preisleistungsverhältnis gesiegt hat, und nur halb soviel wie ein Philips kostet, bestelle ihn umgehend.
Die Bauchkrämpfe sind so übel, dass ich meinen Einkauf nach der Arbeit nur auf das Allernötigste und Klopapier beschränke, weil mir der Schweiß auf der Stirn steht und ich befürchte jeden Moment zusammenzubrechen.
Tommy gestehe ich bei unserem Treffen im Sette, dass ich heute nicht zum Walken gehe, dass ich vor Schmerzen kaum stehen geschweige mich bewegen kann, und durch die Bauchkrämpfe erhebliche Atemnot habe. Er schimpft mich aus, dass ich schon den zweiten Termin absage, das geht ja gar nicht, und überhaupt soll ich nicht immer „walken“ sagen, das wäre so ein bescheuertes Wort, sondern laufen.
„Aber ich laufe ja nicht, ich gehe schnell.“
„Hauptsache du läufst heute noch!“
„Nix da.“
Als ich mich im Treppenhaus hochschleppe, bleibe ich kurz vor der Wohnungstür meiner Nachbarin stehen, will klingeln und absagen. Kurzentschlossen gehe ich doch weiter hoch, in meine Wohnung, ziehe mir andere Schuhe an, klingele dann bei ihr, und als sie Tür öffnet begrüße ich sie:
„Ich hab kein Bock!“
Sie steht da auch schon in Jogger-Montur, meint:
„Ich auch nicht. Wollte dir schon absagen.“
Schließt die Tür ab und wir trotten los.
Gesundheitsminister Spahn gibt bekannt, dass er positiv auf Covid 19 getestet wurde.
Pabst Franziskus befürwortet eingetragene, zivile Partnerschaften für homosexuelle Partner. Whaaat??
Am Donnerstag gibt es in Deutschland über 11.000 Neuinfektionen, die meisten seit Ausbruch der Pandemie.
Mein Lichtwecker kommt an, ich freue mich überbetrieben, hoffe, dass ich jetzt ein Problem weniger habe.
Tommy treffe ich heute nicht, er nimmt an einem Live-Stream-Gespräch teil, das die Cologne Music Week veranstaltet, wo sie dann über 10 Jahre Klubkomm reden werden.
Zuhause verzweifle ich an der Bedienung des Weckers. Da brauche ich einen IT-Manager um die Weckzeit zu programmieren. Bin mal gespannt, was morgen früh passiert.
Ich werde morgens von einem metallisch klingenden Vogelgezwitscher geweckt, im Zimmer leuchtet es dunkelgelb.
Na toll, von Geräuschen werde ich sowieso wach, und zwar sofort, mir geht es darum, dann nicht im Dunkeln zu sein, oder in dunkelgelb.
Der simulierte Sonnenaufgang begann wohl gerade erst, gleichzeitig mit dem Gezwitscher. Wenn ich doch bloß einen Knopf finden könnte um den Ton auszustellen. Als ich eine Taste finde, hört das Gezwitscher zwar auf, aber das Licht geht auch aus, und es ist stockdüster.
Herrje, da muss ich mich später nochmal ausführlich mit befassen. Und vor allen Dingen muss das Teil am Montag funktionieren, wenn ich um SIEBEN Uhr beim Arzt sein muss.
Ich mache zwei Gruppenangebote „Bewegungsübungen“ hintereinander, weil zuviele Bewohner kommen, und ich sie aufteilen muss. Ich ächze mehr als meine Bewohner, weil mir alles wehtut, ich aber alles vormachen muss. Trotzdem kriegen wir viel zu lachen und alle kommen ein wenig ins Schwitzen.
Zuhause kriege ich es hin, dass der Wecker zukünftig lautlos seinen Sonnenaufgang simuliert. Da ich aber Samstag erst Spätdienst habe, und Sonntag frei, werde ich wohl erst am Montag, der Tag an dem ich um SIEBEN UHR beim Arzt sein muss, testen kann.
Abends telefoniere ich mit Josek, der immer noch in Prag ist, und es unklar bleibt, ob sie die Dreharbeiten tatsächlich fertig kriegen, oder ob es doch noch erneut abgebrochen wird, wie schon im März. Denn Tschechien hat die meisten Infiziertenfälle in ganz Europa, es herrscht ein kompletter Lockdown.
Wir fantasieren ein wenig, was wir, wenn Corona vorbei ist, für Reisen unternehmen. Ich möchte noch nach China, Thailand und Japan, mit der sibirischen Eisenbahn durchs Land, nach Las Vegas und vor allem nach Tromsø, zu einer Freundin, weil ich unbedingt mal die Polarlichter sehen will. Ich erzähle ihm, wie lange die Reise dorthin dauert, weil es keine direkte Verbindung gibt, und ich nicht weiß, ob ich die kürzeste Version von ca. 12 Stunden auch aushalte, und es leider keine Zugverbindungen gibt, bei der ich dann schön einen Schlafwagen nehmen könnte. Da schlug er mir „Hurtigruten“ vor. Das sind organisierte Schiffsreisen. Da könne man schön stundenlang auf deren Seite rumschauen und sich Reisen und Kabinen angucken, alle Ausflüge oder Sehenswürdigkeiten, zu denen auch die Polarlichter gehören.
Das mache ich dann auch und staune bei den Preisen, verstehe nach und nach, dass die günstigsten Angebote für irgendwelche Kellerkabinen gelten. Aber es stimmt, Josek hat Recht, das macht Spaß, und ich gehe sämtliche Optionen durch.
Ein weiteres Highlight an diesem Abend überrascht mich. Als ich die Tagesthemen anschaue, und die Musik anfängt als noch die blaue Tafel gezeigt wird mit der Uhr, die tickt, ertönt ein Geschrammel und ich seufze, och nö, haben die wieder das Intro geändert, wie doof, das nervt ja. Dann erscheint das Studio und im Dunkeln erkennt man ein paar Gestalten.
Eine Stimme erklingt: „Das ist das Ärzte deutsche Fernsehen mit den Tagesthemen“. Dann sieht man dass die Ärzte dort live spielen, und das ist so toll, ich freue mich über dieses ungewöhnliche Ereignis, obwohl ich jetzt nicht gerade ein Ärzte-Fan bin. Später bekommen sie durch das Interview, das Liebling Zamperoni mit ihnen führt, die Möglichkeit darauf hinzuweisen, wie sehr sich diese Corona Krise auf die Kulturbranche auswirkt. Ihnen gehe es ja gut, sie waren lang genug kommerziell erfolgreich, aber es würde 1,4 Millionen Menschen betreffen, die sich nicht mehr zu helfen wissen, und erklärten es anhand des Beispiels ihres Roadies. Aber auch dass die bis vor Corona als selbstverständlich genommene Kultur mehr und mehr verschwindet, weil der Unterbau, die jungen Künstler, die kleinen Clubs, Techniker und Veranstalter nicht mehr arbeiten können.
Malte ist gestern vom Rad gestürzt, hat sich krank gemeldet. Und da wir soviel andere Krankmeldungen haben und niemand spontan für Malte einspringen kann, kommt die Heimleitung.
Zuerst erledige ich in Ruhe ein paar organisatorische Dinge im Büro, es ist immer angenehm so etwas am Wochenende zu machen, weil da kaum Betrieb im Erdgeschoss ist, weil die Verwaltung nicht da ist. Später gehe ich mit dem interessanten Neueinzug Herrn L. ein neues Handy für ihn kaufen.
Er gewinnt schnell Vertrauen, und als wir im Eiscafé noch einen Kaffee trinken, erzählt er mir aus seinem Leben. Er war Architekt, ein Professor, lehrte hier ihn Köln. Ich merke ganz allmählich, dass er doch schon eine beginnende Demenz hat, aber wirklich so fein und nebensächlich, dass man es erst gar nicht bemerkt. Er selber jedenfalls auch nicht, er ärgert sich nur über Erinnerungslücken, äußert öfter, dass er überhaupt keine Idee hat, weshalb etwas so und so ist. Das werde ich nächste Woche mal mit Anouk besprechen, wie sinnvoll es wäre, ihm reinen Wein einzuschenken. Er bittet mich eindringlich, dass wir uns duzen.
„Ich hab mein Leben lang alle geduzt.“
Können wir gerne machen, mal sehen ob er sich am Montag noch an mich erinnert.
Im Gedenken an die erste Zeit der Corona-Krise, hole ich mir seit langem wieder mal eine Pizza bei Nennillo. Denn es ist alles wieder ziemlich ernst, das Wort „Triage“ fällt jetzt schon wieder, vor allem in Belgien und den Niederlanden, denen schwinden die Kapazitäten in den Krankenhäusern. In Münster nehmen sie Patienten aus diesen Ländern auf, die haben noch 80 Intensivbetten frei. In Rom und Mailand protestieren nachts neofaschistische Gruppierungen gegen die nächtlichen Ausgangssperren und liefern sich gewalttätige Kämpfe mit der Polizei.
Heute nacht wird die Zeit umgestellt, hoffentlich hilft mir das am Montag ein wenig, wenn ich um SIEBEN UHR beim Arzt sein muss.

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