Donnerstag, 15. Oktober
- Mai Buko
- 15. Okt. 2020
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Nov. 2020
Als ich einen kurzen Bericht über ein Hospiz sehe, kommt mir der Gedanke, dass es sich bei uns ja eigentlich auch um eine Art Hospiz handelt.
Hier kommt man nicht mehr raus, hier wird man vermutlich sterben, wenn nicht im Krankenhaus, hier verbringt man seine letzte Zeit, wenn die sich auch über Jahre ziehen kann, hier ist der Endpunkt erreicht. Im Prinzip besteht mein Job daraus, diesen Menschen noch eine schöne restliche Zeit zu bescheren, das Beste draus zu machen, wenn es geht, ein paar verbliebene Ressourcen zu erhalten, aber im Grunde begleite ich die Leute bis zu ihrem Tod, und selbst den versuche ich noch so angenehm wie möglich zu machen, also was das Nicht-Medizinische angeht, die Atmosphäre mit Licht, Geräuschen und Düften, die Nähe und Berührung, die Liebe, die ich dann sende.
Bei meinem Sonntagsdienst drehen irgendwie alle durch, mindestens dreimal muss ich Bewohner draußen wieder einfangen, mindesten viermal verwirrte oder traurige Menschen erden. Bei einer Bewohnerin, die einigermaßen selbstständig unterwegs ist, aber unter psychogenen Krampfanfällen leidet, und genau so einen Anfall vor unserer Haustür bekommt, rufen Passanten sofort einen Notarzt. Als eine Pflegerin das mitbekommt, holt sie Frau W. rein und kümmert sich. Wie immer in diesem Fall, wird beruhigend auf sie eingeredet, mit ihr geatmet, ihr eine Tavor angeboten. Normalerweise wird sie dann in ihr Bett gelegt und nach einer halben Stunde ist alles wieder okay. Die Tavor, die sie selbst andauernd einfordert, vermutlich ist sie längst süchtig, lehnt sie jetzt aber erstaunlicherweise ab, weil sie ja mitbekommen hat, dass der Notarzt gerufen wurde, und sie den abwarten möchte, weil sie ja vielleicht dann ins Krankenhaus kommt. Ins Krankenhaus fährt sie nämlich auch gerne und oft. Als zwei Rettungswagen erscheinen, wird Frau W. interviewt, aber auch die Pfleger, die sich nun schon zu dritt um Frau W. kümmern, erklären dem Arzt was los ist. Als der Arzt ihr dann abschließend eine Tavor reicht, nimmt sie diese in ihre Hand und schluckt sie. Auch erstaunlich, wie sie diese feinmotorische Bewegung schafft, wo sie doch am ganzen restlichen Körper krampft und gurrende Geräusche von sich gibt.
Es ist so, Frau W. tut mir natürlich leid, ob sie nun diese Anfälle inszeniert oder übertreibt, es ist ein Ausdruck von Leid, und dennoch geschieht es oft so vorhersehbar und vor allem so häufig, dass es nervt, was natürlich niemand zeigt, jedesmal wird auf sie eingegangen, jedesmal kümmern sich alle um sie, doch jedesmal hält sie die betreffenden Personen davon ab, sich um andere zu kümmern, die auch ihre Hilfe brauchen. Das ist wirklich schwierig.
Heute kommen alle Vorfälle zusammen, da stimmt doch was nicht. Ist zufällig Vollmond?
Abends telefoniere ich mit Josek, der ja wieder in Prag bei Dreharbeiten ist, und er ist völlig geschockt, als ich ihm erkläre, dass die Doku „Don’t fuck with Cats“ auf Netflix keineswegs fiktiv ist, und es diesen Serienmörder tatsächlich gibt. Ich schicke ihm noch ein paar Youtube-Links, auf denen man noch viel mehr aus dem Leben von Luka Rocco Magnotta sehen kann und dabei immer fassungsloser wird, wie krank dieser hübsche junge Typ ist.
Am Montag gibt es in Köln 737 Infizierte, längst ist das Tragen von Masken in der Öffentlichkeit, also auf belebten Einkaufsstrassen, Pflicht. Wir bei uns im Haus haben auch einiges nochmal angezogen: Nicht mehr als 3 Mitarbeiter gleichzeitig bei der Mittagspause im Konferenzraum, Gruppenangebote nicht mehr als 5 Personen, wenn sie hausübergreifend in der Cafeteria stattfinden, und falls sie in einem Gruppenraum stattfinden, dann nur Bewohner des jeweiligen Wohnbereichs.
Auf Facebook gibt der Betreiber des „Aller Kollör“ bekannt, dass er jetzt zu macht. Nachdem Laschet die Schrauben nochmal angezogen hat und die Sperrstunde auf 23 Uhr gesetzt hat, gibt er auf.
Am Dienstag liegt die Inzidenzzahl in Köln bei 66,0. Paris hat soviel Neuinfektionen wie noch nie seit Beginn der Pandemie. Da sind alle Cafés und Bars geschlossen. In Tschechien werden sie ab morgen wieder alles schließen. Trump dagegen ist wieder fröhlich bei der ersten Großveranstaltung, die er im Rahmen seines Wahlkampfes besucht, und schmeißt demonstrativ seine Maske weg, und sagt, dass er ja jetzt immun sei und am liebsten gleich jeden einzelnen da unten küssen möchte. Zwei Drittel der tausenden Fans tragen auch keine Maske, als ob es an diesem Tag in den USA keine 40.000 Neuinfektionen gäbe.
In Belarus dürfen die Polizisten ab heute auch mit scharfen Waffen auf Demonstranten schießen.
Das Wetter ist heute in Köln ziemlich mild, 14 Grad. Beim Yoga schwächel ich wieder und mache hauptsächlich Übungen, die den Bauchraum und die Atemwege öffnen. Also alles Entspannung.
Im Sette gibt es ab heute doch einen QR-Code zur Registrierung.
Am Mittwoch arbeite ich erst ab mittag, den Vormittag habe ich mir freigenommen, weil jetzt endlich mein heißersehnter Orthopädentermin ansteht. Nach dem Gespräch, dem Abtasten der Leiste, die so sehr schmerzt, und dem Roentgen von Hüfte und Knie schließt der Arzt Arthrose aus und vermutet einen Schub von rheumatoider Arthritis. Für mich war das alles immer dasselbe. Hauptsache Gicht. Ich könnte kotzen. Krankheiten wie eine 90jährige. So fühle ich mich ja auch mittlerweile. Macht echt kein Spaß mehr. Und das Schlimme: der Arzt, der mit mir die weitere Behandlung besprechen soll, ist noch in Urlaub, und der nächste und einzige freie Termin bei ihm ist in knapp zwei Wochen um 7 Uhr morgens. Als mir das die Sprechstundenhilfe durchgibt entfährt mir ein „Ach du lieber Gott!“. Alle Umstehenden lachen.
Ich frage irritiert, „Im Ernst? Gibt es es echt nichts Späteres? An einem anderen Tag vielleicht?“
Die Sprechstundenhilfe kennt wohl keinen Widerspruch und meint gnadenlos mit echauffiertem Blick: „Nein!“
Mein Nachmittagsdienst zieht sich total in die Länge, weil Frau Sch. ihren 101. Geburtstag feiert, und außer der Tochter noch zwei Leute von der Presse kommen. Die Heimleitung möchte deswegen, dass ich dabei bleibe und mich um alles kümmere, also verschiebe ich meinen Einkaufsdienst für die Bewohner auf danach und komme dann dementsprechend erst um halb 7 da raus. Treffe mich noch mit Tommy im Sette, der sich über den QR-Code zum Registrieren freut.
Abends schaue ich mir endlich die Doku an, die Olli Schulz in seinem und Jan Böhmermanns Podcast „Fest und Flauschig“ empfiehlt: „This is Paris“. Eine von Youtube produzierte Dokumentation über Paris Hilton. Ganz ehrlich? Ich musste oft schlucken, und eins weiß ich: Paris wird für immer einen Platz in meinem Herzen haben.
Danach noch ein paar Crime-Dokus. Dabei fällt mir auf, immer wenn die Leute dann im Nachhinein erzählen, wie es so war, haben die Amis eine merkwürdige Angewohnheit. Sie stellen sich selbst Fragen und beantworten sie gleich. Das habe ich jetzt in den unterschiedlichsten Beiträgen gesehen, ganz unabhängig ob jung, ob alt, ob gebildet oder eher nicht.
"Hatte ich etwas mit der Sache zu tun? Ja, das hatte ich."
"Wollte ich, dass das so endet? Nein, das wollte ich nicht."
"Dachte ich, das wird schon gut gehen? Ja, das tat ich."
Wie bescheuert.
Wort des Tages: Beherbergungsverbot.

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