Dienstag, 27. Oktober
- Mai Buko
- 27. Okt. 2020
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Nov. 2020
Am Sonntag konnte ich an nichts anderes denken, als an meinen selten bescheuert frühen Arzttermin. Der einzige Trost waren alle meine Uhren die ich auf die Winterzeit vorstellte, und somit eine Stunde gewonnen hatte. Beim Aufstehen. Statt 6:00 Uhr war es gefühlt 7 Uhr. Den Lichtwecker stellte ich auf 5:45 Uhr damit er mich dann lieblich zum anderen Wecker hinüber begleitet, der mich dann um 6:05 Uhr mit seinen sanften Tönen zum unwiderruflichem Aufstehen zwingen soll.
Ich ging sehr früh ins Bett, schlief bei einer durchaus spannenden Doku über die größte Stadt der Welt, mit über 30 Millionen Einwohnern und einer Fläche so groß wie Österreich, ein. Ich hatte noch von ihr gehört und ihr Name klang so als hätten sich deutsche Kinder ihn ausgedacht: Schong-Sching (Chongqing).
Das mit dem Lichtwecker flopte dann Montag früh. Nach 15 Minuten Sonnenlicht-Leuchten ging er wieder aus, es war natürlich sofort stockdüster, ich schlief augenblicklich wieder tief und fest, als mich der zweite Wecker nach wenigen Minuten weckte, raste mein Herz wie wild. Als ich zum Zähneputzen ging, fiel mir auf, dass die Leiste gar nicht so doll schmerzt. Und auch, dass ich die Nacht eigentlich gar nicht so schlecht geschlafen hatte, zumindest wurde ich nicht von Leistenschmerzen wach, oder der Not mit beiden Händen mein Bein anders zu legen. Das ist ja komisch, hoffentlich kann ich gleich dem Arzt meine Schmerzen noch genau beschreiben.
Ich klingelte an der Arztpraxistür, keiner öffnete. Bei mir steht in Sekundenbruchteilen fest, dass es natürlich gar keinen Termin um 7 Uhr geben kann, wer behandelt einen denn schon um 7 Uhr? Die haben mich verarscht, oder mich vergessen, hier ist kein Mensch. Ich klingelte erneut. Totenstille. Dann geht doch die Tür auf, die Arzthelferin, die mit schon so frech diesen Termin gegeben hat, schaut mich vorwurfsvoll an und sagt:
„Wir öffnen erst um 7 Uhr!“
Sie lässt mich gnädigerweise dennoch rein, ich schaue auf die Uhr: 6:58 Uhr. Pffmm.
Ich darf direkt im Behandlungszimmer Platz nehmen. Nach wenigen Minuten kommt ein gutgelaunter Arzt hinein, stellt sich kurz vor, schaut auf den Monitor seines Computers, betrachtet eingehend meine Röntgenbilder, liest was sein Kollege letztens dort über mich notiert hat, und schüttelt den Kopf.
„Tja, das ist wohl eindeutig. Das sieht man ja schon hier auf den Bildern, sie haben eine fortgeschrittene Arthrose an der Hüfte.“
„Wie bitte?“ Schluck. „Ihr Kollege meinte doch, das könne man ausschließen!“
„Ganz ehrlich, das ist nicht gerade das Kerngebiet meines Kollegen, man kann es hier ganz deutlich sehen, legen Sie sich bitte mal dort hin.“
Er bewegt ein paarmal meine Beine und die Füße, ich stöhne auf, weil es sofort tierisch weh tut.
„Sehen Sie! Arthrose!“
Ich darf mich wieder setzen und habe sogleich Tränen in den Augen.
„Aber diese Krankheit haben meine Bewohner!“
„Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber Sie werden bald 60.“
Er erklärt mir, dass man da nichts groß machen kann, er könne mir hin und wieder Schmerzmittel verschreiben, aber das wäre keine Lösung, ich soll mich einfach melden, wenn ich die Schmerzen nicht mehr aushalte, dann würde er eine OP in die Wege leiten, bei der ich eine künstliche Hüfte bekomme. Alltäglicher Eingriff, halb so wild, alles wird gut. Auf Wiedersehen.
Ok. Ganz so kurz war das Gespräch nicht, aber ich erinnere mich nicht mehr genau, da ab „künstliche Hüfte“ alles nur so rauschte, ich tief betroffen und schockiert von dieser Diagnose zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig war.
Wen kann man anrufen und volljammern um kurz vor halb 8?
Meine Yoga-Meisterin Mechthild natürlich. Wir treffen uns beim Bäcker an der Ecke, trinken Kaffee und sie tröstet mich, relativiert alles und sagt, dass sie mir das nächste Mal all die Leute aus der Gruppe zeigt, die künstliche Knie und Hüften haben, die teilweise sogar jünger sind als ich.
Fürs Erste tröstet mich das. Aber auf der Arbeit heule ich schon wieder, und kann mein Unglück nicht fassen. Doch die Heimleitung und im Laufe des Tages sämtliche Kollegen, denen ich mein Leid aufzwänge, berichten von eigenen oder anderen Erfahrungen, die alle darauf hinauslaufen, nicht schlimm, unkompliziert, nicht zu lange warten, danach ist alles wie neu.
Um 11 Uhr machen wir wieder alle einen neuen Coronatest, diesmal durch Gurgeln. Angenehm.
Um 14 Uhr habe ich schon frei, da ich ja viel zu früh da war.
Treffe mich um halb 3 mit meinen beiden Kindern im Café, eröffne ihnen feierlich, dass ihre Mutter nun endgültig alt ist und bald eine künstliche Hüfte haben wird. Sie sind süß, drücken und herzen mich. Ich kann langsam Scherze darüber machen.
Am Abend analysiere ich meine Heulattacken, und stelle fest, dass es die Berührung mit einer Fehlbarkeit war, mit dem Alter und eigentlich auch am Ende mit der Sterblichkeit. Zu sterben ist bei weitem noch der größte Horrorgedanke in meinem Leben. Obwohl mich der Tod meiner Liebsten auch schon um den Verstand bringen würde, und ich, wenn es mir so schlecht geht, immer wieder mit dem Gedanken spiele, meinem Leben ein Ende zu setzen, wenn es nur noch aus Schmerzen und Armut besteht. Trotzdem ist diese plötzliche Konfrontation mit dem Zerfall meines Körpers ein großer Schock gewesen, der sich jetzt aber langsam relativiert.
Als ich um 17 Uhr zu meiner Grippeimpfung in meine Hausraztpraxis komme, bin ich schon wieder halbwegs gutgelaunt und als mir die Arzthelferin sagt: “Jetzt holen Sie mal tief Luft!“, und ich gar nicht dazu komme, weil sie bei „Luft“ schon die Nadel in meinen Oberarm gerammt hat, nicke ich ihr lächelnd zu: “Cooler Trick! Alle Achtung!“
Um 18 Uhr kann ich mich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten, halte aber durch, bis es eine angemessene Zeit ist um ins Bett zu gehen.
Am nächsten Tag gehe ich vor der Arbeit zu Yoga und kann 50% der Übungen mitmachen, aber die restlichen 50 % liege ich röchelnd in Entspannungshaltungen auf dem Rücken.
Mit unserem Neueinzug Herrn L. hole ich noch Einrichtungsgegenstände, teilweise echt schwere Bilderrahmen, viele wunderschöne Figuren aus dem Himalaya, und was ich noch an Kleidung finde aus seiner alten Wohnung, und mit dem nun vollgestopften Taxi, das jedesmal vor der Tür warten muss, kaufe ich noch in diversen Läden Unterwäsche, Prepaid-Karte, Dreifachsteckdose und Duschzeug.
Das Ganze war ziemlich stressig, und ich komme so erschöpft an, mit dem Zeug, das jetzt alles in sein Zimmer geschleppt werden muss, und ihn die ganze Zeit im Schlepptau, der die Welt nicht mehr versteht, und heilfroh ist, dass ich da bin, und mich um alles kümmere, und die Heimleitung sieht das, als wir ankommen, bittet Herrn L. schon mal vor in sein Zimmer zu gehen, sie brauche mich gerade mal, ich käme gleich wieder zu ihm, und als ich ihn zum Aufzug gebracht habe und wieder zurück zur Heimleiterin gehe, hat sie eine Tasse in der Hand und sagt: „Sie sehen aus, als bräuchten Sie mal eine Tasse Kaffee und eine Zigarette!“
Vor Rührung küsse ich sie auf ihre Arme und gehe mit dem Kaffee raus in die Raucherecke.
Abends ist in den Nachrichten die Rede von einem „Wellenbrecher“- Lockdown den Merkel will, und alle warten auf die morgige Pressekonferenz um zu erfahren, was die jetzt genau aushecken werden.
In Köln liegt die Inzidenzzahl bei 181,9.

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