Samstag, 11. April
- Mai Buko
- 11. Apr. 2020
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Mai 2020
Mein freier Tag, trotzdem meldet sich Malte andauernd, er hat Dienst, und fragt mich berufliches Zeug. Auch egal jetzt.
Irgendwie bin ich eh andauernd im Dienst, meine kurzen privaten Phasen an freien Tagen sind ja auch total von der Sorge bestimmt, wie es im Heim wohl gerade aussieht, was ich noch machen kann oder muss, wie ich mich am sinnvollsten verhalte, um mich nicht anzustecken, damit ich niemanden bei uns im Heim anstecke.
Früher konnte ich bei Dienstschluss komplett abschalten. Nur besonders heftige Situationen trug ich noch ein Weilchen mit mir. Deshalb pflege ich ja seit Jahren meinen Feierabend-Cappuccino-Ritual, um da wirklich einen Schlussstrich zu ziehen.
Eigentlich wollten Werner und ich heute mittag einen Soundcheck machen, weil wir testen wollten, wie es sich anhört, wenn er die Toccata über Videotelefonie spielt, verstärkt durch meine Bluetoothbox. Aber er hat abgesagt, das müssen wir verschieben.
Die Toccata hat einen besonderen Stellenwert in unserer Familie, Werner konnte sie mit 14 Jahren auswendig auf der Kirchenorgel spielen. Dafür hat er damals von Papa 50 Mark bekommen. Das war für mich unvorstellbar viel Geld. Ich war ganz schön neidisch, dass ich nicht sowas Tolles konnte, womit ich meinen Papa hätte beeindrucken können. Jedenfalls können wir alle die Toccata mitpfeifen, Papas Lieblingsstück von Bach war stets präsent.
Marie kommt gegen zwei ihre Ostergeschenke abholen, nimmt ein paar bunte Haarfarben von mir mit. Bekommt noch ein paar Stoffmasken mit auf den Weg, und dann ist sie auch schon wieder weg. Ich hätte sie so gerne mal in den Arm genommen. Stattdessen mäkel ich an ihrer Rocklänge rum, ihre unbeschwerte Art von Feminismus verstehe ich nicht, lass die prüde Mama raushängen und ärgere mich über mich, als sie schon längst auf dem Heimweg ist.
Marie, David und ich haben von Meret jeder einen Osterhasen geschenkt bekommen. Um jeden Hasenhals hängt ein Rewe Gutschein, bei meinem sogar zusätzlich noch ein dm-Gutschein. Das ist so rührend, so Meret. Sie ist schon immer sehr großzügig, schafft es aber ihre Zuwendungen an uns, der ärmlichen Katastrophenfamilie, immer so selbstverständlich zu verpacken, dass mir das nicht peinlich sein muss, und mich richtig darüber freuen kann. Da hat sie wirklich ein Händchen für.
Tommy und ich treffen uns auf unserer Coronawiese, doch oh Schreck, unsere Bank ist total zugemüllt. Irgendwelche Kids haben sie anscheinend in ihrer Abgelegenheit entdeckt und hier wohl ein wenig gefeiert, ließen ihre Jointstummel, Kippenreste, leere Blättchenpäckchen, Pizzakartons und Flaschenpfand liegen.
Da ich ja meist Schutzhandschuhe dabei habe, räume ich erst mal auf.
Dann erst machen wir es uns auf der Bank gemütlich, haben uns selbst gekühlte Getränke und auch was zu lesen mitgebracht und genießen die heiße Sonne.
Während wir so chillen, entdecke ich weiter hinten auf der Wiese im Schatten eines Baumes einen schlafenden Obdachlosen. Vielleicht wird er durch unsere Geräusche wach, jedenfalls fummelt er sich umständlich an seinem Hosenschlitz rum. Er wird doch jetzt nicht sexuell erregt sein? Nein, Gott sei Dank, er grabbelt sich lediglich, weiter auf der Seite liegend, seinen Penis raus und pinkelt im hohen Bogen auf die Wiese neben sich.
Die zweite Bank auf unserer Wiese wird von einem Tattoo-Pärchen besetzt, sie säubern nichts vorher, setzten sich zwischen den Müll und fangen sogleich an zu streiten.
Tommy hat sich mittlerweile auf die Wiese in den Schatten gelegt, und liest die SZ. Er richtet sich ein wenig auf und meint zu mir: „Guck mal, ein ganzer Artikel nur über dich!“
Ich denke, es geht um Leute, die sich mit dementen Menschen beschäftigen, aber da zeigt er mir die Headline:
„Mein Mann ist schwul“
Ich mache sofort ein Foto und poste es auf Facebook.
Stimmen von anderen Alkis, die sich offenbar zanken, wehen von hinter den Büschen.
Auch das Pärchen kommt in Fahrt. Diese aggressive Stimmung steht in völligem Kontrast zu Tommys und meiner friedlich-entspannten Freizeithaltung.
Die Frau von dem Pärchen berlinert stark, das mag ich so gerne, aber was sie sagt, ist so doof, sie hat Unrecht, der arme Kerl kann sich kaum wehren, versucht sie leise zu beruhigen, doch sie ist nicht zu stoppen, versteht alles falsch, verdreht seine Aussagen, macht ihm ohne Ende Vorwürfe, auch zu den Dingen, die sie in meinem Beisein komplett falsch verstanden hat, das ist ja nicht zum Aushalten, ich würde am liebsten rübergehen, und ihr sagen, dass sie mal die Klappe halten soll, sie sei auf dem Holzweg, da steht sie wutentbrannt auf und geht. Er seufzt, sieht meinen Blick, zuckt die Schultern und während er aufsteht um ihr nachzugehen sagt er: „Frauen, wa?“
Nunja, ich bin auch eine Frau, die gerade Zeugin wurde von komplettem Missverstehen und ungerechten Vorwürfen, bin also voll auf seiner Seite. Ich zucke auch mit den Schultern, das soll solidarisch wirken, und antworte: „Schwierig!“
Auch Steinmeier macht später im TV eine von diesen nun unüblichen, nie oder nur ganz selten aus der Reihe fallenden Ansprachen ans Volk. Dafür ist sie überhaupt nicht spektakulär oder mindestens bewegend.
Statistik: 21:00 Uhr
123.878 Infizierte 2.763 Todesfälle 58.190 wieder gesund

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