Ostersonntag, 12. April
- Mai Buko
- 12. Apr. 2020
- 11 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Mai 2020
Statistik 7:30 Uhr
125.452 Infizierte 2.871 Todesfälle 58.190 wieder gesund
Heute habe ich wieder so einen langen Dienst, von 8:30 bis 17:00 Uhr.
Da mir das vom Aufstehen her ja nichts mehr ausmacht, bleibt nur der Horror vor der Anstrengung, die ja noch intensiver ist, als bei meinen 6-Stunden Diensten. Die halbe Stunde Pause, die mir auf meine 8 Stunden draufgeschlagen wird, kann ich so gut wie nie nehmen. Was meine Kollegen von der Pflege regelmäßig zum Lachen bringt, wenn ich darüber jammere, weil es ihnen ganz genauso geht, und es völlig normal ist.
Wenn es bei uns eine Art Aufenthaltsraum gäbe, wäre die Situation vielleicht anders, man könnte sich für 30 Minuten mal zurück ziehen.
Es gibt Möglichkeiten, selbst bei uns, zum Beispiel könnte man in den
Personalbesprechungsraum oder in die Bibliothek gehen, aber das macht keiner, man bleibt höchstens mal im Dienstzimmer, ist deswegen weiterhin für jeden Anruf, jeden Mitarbeiter und jeden Bewohner ansprechbar.
Massimo zum Beispiel wohnt um die Ecke und nutzt die halbe Stunde um dann schnell zuhause etwas zu essen. So ein Break bringt schon was.
Die Raucher unter den Pflegern beschweren sich nicht mal über diese verkackte Pausensituation, da sie ihre Zigarettenpausen dadurch legitimieren.
Ich aber mache Raucherpausen, wie alle, auch wenn ich nur einen 6 Stunden Dienst ohne Anspruch auf Pause habe, und finde, dass man das nicht mit der richtigen Pause verrechnen darf. Weil bei den Raucherpausen ein kurzer nötiger Abstand entsteht, es kommen ja auch manchmal Nichtraucher mit nach draußen, man verlässt die anstrengende Situation für 5 Minuten um mit neuer Kraft weiter zu machen. Ausserdem unterhält man sich dabei mit Kollegen, tauscht Informationen aus, trifft Vereinbarungen. Wie gesagt, alle lachen mich aus, da ich naiv ein Luxusproblem bejammere.
An Karfreitag hatte ich ja schon fast 9 Stunden durchgeackert, und der Samstag reichte kaum aus, um mich davon zu erholen, deshalb nehme ich mir für heute vor, auf jeden Fall eine Pause einzulegen, nehme deswegen meinen Computer mit, um ganz demonstrativ irgendwann die Türe zu meinem Büro zu schließen, und falls jemand reinkommt, zu sagen, ich habe Pause, mache hier gerade etwas Privates. Denn einfach nur die Türe zu schließen, und da rumsitzen, kann ich nicht, das Gelände verlassen will ich auch nicht. Wenn die Cafés geöffnet hätten, würde ich da wohl hingehen, oder wenn es irgendwo eine Hängematte gäbe, in die ich mich so lange legen könnte, aber so?
Als erstes lese ich in den Dokumentationen nach, ob gestern irgendetwas passiert ist.
Frau N. war abgehauen und ist mehrere Kilometer zu ihrem ehemaligen Zuhause gelaufen, wurde von einer Nachbarin entdeckt, die den Sohn informierte, der sie dann zurück brachte. Frau Sch. und Herr B., unser Liebespärchen, haben die Nacht in Frau Sch.s Bett verbracht, mehrere Versuche der Nachtwache die beiden zu trennen, schon allein weil es so eng in diesem Bett ist, scheiterten, die beiden drohten die Polizei zu rufen, wenn sie nochmal ungefragt in ihre Wohnung käme.
Ich schmunzele über die beiden, sie sind so süß. Unvergessen, wie sie bei der großen Weihnachtsgala, bei denen auch die Angehörigen anwesend waren, wir unser Foyer festlich geschmückt hatten, alle fein angezogen, ein köstliches Menu gereicht wurde, die beiden felsenfest davon ausgingen, es handele sich um ihr Hochzeitsfest.
Sie bedankten sich immer wieder für all die Mühe, die schönen Überraschungen und das leckere Essen. Herrlich.
Frau K.s Vitalwerte haben sich enorm verschlechtert, lese ich, der Sohn wurde informiert und scheint seit einer halben Stunde bei ihr zu sein, um sie beim Sterben zu begleiten.
Frau K. ist einer meiner Lieblinge, der Sohn einer meiner Lieblingsangehörigen.
Es tut mir wahnsinnig leid, ich werde da nachher mal nachschauen gehen, mich selber von Frau K. verabschieden, Herrn K. tröstende Worte, noch keine Ahnung welche, zukommen lassen.
Ich bin noch keine 15 Minuten da, da muss ich schon Frau St. vom Bürgersteig zurückholen. Sie hat wieder diesen flehenden Blick, rette mich, doch keiner vermag sie zu retten, deshalb rede ich mit der liebsten Stimme, bleiben Sie bei mir, wir sortieren mal die Post.
Gestern, am Samstag, kamen nämlich unheimlich viel Briefe und Pakete an, das meiste für die Bewohner, die von ihren Angehörigen Ostergrüße in jeder Form geschickt bekamen. Aber da die Verwaltung am Wochenende nicht arbeitet, bleibt die Post meist liegen.
Ich finde einen Brief an Frau St., darf ihn öffnen und ihr vorlesen. Da lächelt sie plötzlich, wirkt ruhiger.
Ihren kurzen Moment der Entspannung nutze ich um sie wieder zu verlassen und in der ersten Etage nach meinem Vater und dem Rechten zu sehen. Papa liegt noch im Bett und möchte dort auch frühstücken. Ich bringe es ihm und wir rufen Milena in Brüssel an, sie hat heute Geburtstag. Papa checkt es wieder nicht, dass Milena live auf dem Display meines Handys erscheint und will immer mit seinen Fingern auf dem Display rummachen. Damit er nicht wieder aus Versehen auflegt, wie bei einem der letzten Videocalls, schiebe ich seine Finger dauernd weg, wie bei einem kleinen Kind. Und wie ein kleines Kind will er immer wieder da hin tatschen und fragt, wo ist sie da? Irgendwann krieg ich es hin, dass er sich nur auf das Bild, also auf Milena konzentriert, und er fängt an auf spanisch und französisch zu reden, was im Zusammenhang zu Milenas argentinischem Mann, und ihrer Wahlheimat Belgien steht. Da das so gut geklappt hat, machen wir direkt den nächsten Anruf und erwischen Franziska, Milenas Mutter, Papas Erstgeborene, die sich gerade die Haare gewaschen hat und wie Pumuckl aussieht. Von ihr war nämlich auch ein Päckchen für Papa dabei, das ich geöffnet hatte, darin war ein gelber Genscher-Pullover. Papa liebt seit Jahrzehnten gelbe Pullover, genau wie Genscher.
Er ist jetzt gerade richtig gut drauf, und fordert sie auf in der Nase zu bohren, was sie auch macht, er dann auch, wir lachen uns zu dritt kaputt.
Ich gehe danach in den Gruppenraum, begrüße diejenigen, die zum Frühstück erschienen sind.
Frau W. bedankt sich für das süße Osternest, und lobt unseren immensen Aufwand, den wir immer betreiben, um irgendetwas Nettes für die Bewohner auf die Beine zu stellen. Das tut gut, wenn das mal von Bewohnern ausgesprochen wird, die meisten nehmen es hin, freuen sich zwar, sind aber nicht in der Lage es zu kommentieren. Das müssen sie auch nicht, ich weiß ja, dass es sie freut, dass es ihnen gut tut. Darum geht es ja.
Trotzdem ist es zwischendurch auch mal schön ein direktes Feedback zu bekommen.
Dann berichtet sie davon, dass sie gestern am frühen Abend mal kurz ihr Zimmer verließ, ohne es abzuschließen, und Herr B. in der Zeit in ihr Bad ging und dort alles vollgeschissen hat. Herr B. verwechselt immer wieder die Zimmertüren, benutzt alle Bäder oder Mülleimer um seine Notdurft zu verrichten. Deshalb schließen die orientierten Bewohner ihre Zimmertüren ab. Die anderen schreien vor Angst oder schimpfen laut, wenn Herr B. überraschend bei ihnen eindringt.
Frau W. erzählt weiter, dass sie dann, in ihrem Rollstuhl sitzend, alles geputzt habe, mit Waschlappen, und dass es so ekelhaft war, überall wäre es voll gewesen, der Mann müsse Durchfall gehabt haben.
Ich bedaure sie, und bitte sie so etwas nicht selber zu machen, sie soll doch bitte nach der Pflege klingeln, die sich dann darum kümmern würde.
In dem Moment kommt eine Pflegerin rein, führt Herrn B. Und Fr. Sch. von deren Frühstückstisch weg in Frau Sch.s Zimmer und erklärt dabei:
„Herr B., Sie haben Durchfall, um andere nicht anzustecken, bleiben Sie bitte mit Fr. Sch. im Zimmer!“
Das sehen beide ein und gehen brav mit, sie zu trennen macht keinen Sinn, zumal er eh schon die Nacht ganz eng mit ihr verbracht hat.
Ich begrüße noch andere Bewohner und unterhalte mich hier und da im Gruppenraum, treffe auf Frau M., die mich bittet sie runter in den Garten zu begleiten, weil da gleich ihre Tochter zu einem Gartenzaun-Date kommt.
In der Zeit, in der sich Frau M. im Garten aufhält, hole ich Frau St. von der Eingangstür weg, sie war schon wieder fast draussen, beruhige J., der in Tränen ausbricht, als er mich sieht, mir seine Angst vor dem Virus gesteht, und dass er befürchtet nie wieder seine Kollegen und Betreuer von der Behindertenwerkstatt zu sehen. Es ist so furchtbar, ich kann ihn nicht in den Arm nehmen, er trieft vor Rotz und Tränen, er ist sowieso nicht gerade der Hygienischste hier im Haus, deshalb streichele ich ihn mit ausgestrecktem Arm und einem Brief aus der Bewohnerpost. Zum Ablenken bitte ich ihn mir beim Verteilen der Post zu helfen, da springt er sofort drauf an. Helfen ist seine liebste Beschäftigung.
Als ich Frau M. wieder nach oben bringe, erklärt mir die Pflegerin, dass dieser Wohnbereich nun geschlossen werde, da mehrere Bewohner offenbar Durchfall haben.
Das machen wir in solchen Fällen so, eine Wohngruppen-Quarantäne für ein paar Tage, damit sich der Durchfall oder ähnliches nicht im Haus verbreitet. Der Bereich darf dann nur noch mit der nun so kostbaren Schutzkleidung betreten werden.
Ach, herrje, hoffentlich hab ich mich nicht schon angesteckt, hatte ja mit fast allen Kontakt.
Okay, den Mundschutz hatte ich auf.
Trotzdem muss ich sofort aufs Klo, aber das ist ja normal. Durchfall ist mein zweiter Vorname.
Bitte, lass es jetzt aber nicht ein Infekt sein.
Ich hatte mal den Noro-Virus zusätzlich zu meinem üblichem Durchfall. Das ist eine ganz andere Nummer, das wünscht man keinem.
Dann begebe ich mich auf den anderen Wohnbereich auf der selben Etage.
Auf dem Weg liegt das Zimmer von Frau K., ich klopfe vorsichtig und trete ein. Herr K. sitzt in voller Schutzkleidungsmontur neben seiner Mutter und streichelt ihre Hand. Seine Augen sind gerötet, der Blick voll Trauer, ich könnte sofort anfangen zu heulen, aber ich reiße mich zusammen, biete ihm etwas zu trinken an, er nickt, wünscht sich Kaffee, schwarz. Den stelle ich ihm kurze Zeit später mit einem Teller voller Osterkranzstückchen, einem Apfel und einem Osterschokokäfer vor das Zimmer. Mehr kann ich jetzt echt nicht tun.
Frau K.s Augen waren geschlossen, sie sah so zerbrechlich aus. Innerlich verabschiedete ich mich schon in diesem Moment, traute mich nicht sie zu berühren, wie ich es sonst tue, wenn ich mich von einem Sterbenden verabschiede, weil ich Herrn K. nicht noch zusätzlich mit dieser Geste belasten wollte.
Auf dem anderen Wohnbereich verteile ich die Gebete, die mir der Pfarrer letztens vorbei gebracht hatte, die er alle so liebevoll einzeln eingerollt und mit Bändchen versehen hatte. Es ist ein schönes Gebet, mit Fürbitten für all die Leidtragenden der jetzigen Pandemie. Bei manchen Bewohnern lese ich es vor, anderen überreiche ich es nur. Als ich fertig bin, kommt dieselbe Pflegerin von eben zu mir, teilt mir mit, dass nun auch diese Wohngruppe geschlossen wird, da auch hier ein Fall von Durchfall festgestellt wurde.
Meine Güte.
Als ob es nicht momentan schon schwer genug ist. Jetzt die große Zusatzbelastung für die Pfleger, die andauernden hygienischen Abwicklungen, die körperlich durchaus anstrengend sind, der Frust oder die fehlende Einsicht der Bewohner über ihr Eingesperrtsein…in so Momenten steigt mein Respekt vor der Arbeit der Pfleger nochmal enorm.
Ich könnte nicht einem einzigen vollgekackten Bewohner die Wäsche wechseln, den Körper reinigen, und jetzt müssen sie es bei ganzen vielen andauernd machen.
Zur Mittagszeit springe ich für eine fehlende Hauswirtschaftskraft ein, und kümmere mich um das Mittagessen auf einem Wohnbereich in der zweiten Etage. Ich desinfiziere mich doppelt und dreifach. Malte empfiehlt mir, zwei Paar Handschuhe übereinander zu tragen, sollte ich mit dem einen Paar eine Sauerei veranstalten, hätte ich die nächste Lage direkt schon drunter. Tatsächlich nützt es was, und ich erwische mich ein paarmal dabei, wie ich einen Fleck Sauce, oder ein Stückchen Kartoffel von meinem Handschuh reflexartig abschlecken will, kann mich aber jedesmal erschrocken bremsen.
Es gibt nach der Hühnerbrühe entweder Roulade mit Rotkohl und Püree, oder Blumenkohltaler mit Kartoffeln und Kräutersauce, dazu grüner Salat, als Nachtisch kleine Eistöpfchen.
Eine Kollegin hilft mir, bringt Frau S. das Essen aufs Zimmer, reicht Frau H. das Essen an, verbreitet eine angenehme entspannte Stimmung.
Am Nachmittag halte ich mich hauptsächlich im Erdgeschoss auf, tröste erneut J., der wieder weint, lese verschiedenen Bewohnern Gebete vor, schenke auf der Terrasse Getränke ein, die Sonne scheint heiß, es gibt noch nicht soviel Schatten, verhindere dass Frau St. und jetzt auch noch Frau N. das Haus verlassen, beide haben die Schnauze voll, wollen jetzt endlich heimgehen.
Zwischendurch dokumentiere ich im Büro meine gerade hinter mich gebrachten Tätigkeiten, plötzlich bemerke ich durchs Fenster wie eine junge Familie versucht jemanden im Haus zu finden, irgendetwas wollen sie mitteilen. In der Annahme Frau St. hat es wieder geschafft und bittet draussen Passanten um Hilfe, verlasse ich schnell das Büro, laufe zum Ausgang. Auf dem Weg begegnet mir Frau St., die sich zwischen Säule und Fenster verbarrikadiert hat und nach Mama ruft, um sie geht es also nicht.
Das Pärchen zeigt in Richtung Einkaufsstrasse, ein Mann im Rollstuhl wäre ihnen begegnet, der merkwürdig wirkte, und erklärt habe, er wolle Bier kaufen.
Herr K. !
Jetzt ist er auch noch läufig!
Ich renne hinter ihm her, erwische und stoppe ihn, erschrocken schaut er mich an:
“Ja was ist denn? Ich bin nur mal schnell Bier holen!“
„Aber die Geschäfte haben doch zu Herr K.!“
„Wie bitte?“
„Die Geschäfte haben zu!“
„Wieso? Wir haben doch Ostersamstag!“
„Nein, wir haben Ostersonntag. Ich nehme sie mal mit zurück, bitte legen Sie die Hände in den Schoß, ich schiebe Sie.“
„Ach, das ist ja ein Ding. Ich dachte, wir hätten Ostersamstag. Ich wollte Bier haben.“
„Ich besorge Ihnen Bier. Wir haben welches im Haus. Das bring ich Ihnen, okay?“
„Wie bitte? Das Bier ist aus?“
„Nein, ich bringe Ihnen Bier aus dem Haus. Das ist im Keller!“ brülle ich ihn an. Er ist so dermaßen schwerhörig, das mich wundert, dass er überhaupt mal was versteht.
„Sie bringen mich in den Keller?“
„Nein! Das Bier! Das Bier ist im Keller. Ich holen Ihnen Bier!“
Wie mögen die Passanten diese Brüllerei empfinden?
Herr K. ist jedenfalls zufrieden als ich ihn mit dieser Aussicht auf der Terrasse abstelle. Nachdem ich 4 Flaschen Bier hoch auf die zweite Etage gebracht und dem Pfleger übergeben habe, mit der Frage, ob ich Herrn K. jetzt schon eine öffnen darf, oder ob er sie ihm gibt, am Abend, denn das ist ja seit Tagen Herr K.s Begehr: ein Bier zum einschlafen, schlägt der Pfleger vor, dass ich Herrn K. nach oben bringe, damit er erst mal Kaffee und Kuchen zu sich nimmt, bevor er sich in der prallen Sonne draussen Alkohol reinpfeift. Gesagt getan. Im Aufzug, auf dem Weg nach oben, brülle ich Herrn K. genau diesen Plan in sein amüsiertes Gesicht.
An Pause ist weiterhin nicht zu denken, denn Frau N. missbilligt diese Situation hier, und möchte jetzt sofort gehen, und steht schon wieder kurz vor der Ausgangstür. Frau St. wurde offenbar zwischenzeitlich von jemand anders befreit und ruft ein paar Meter weiter „Hallo, Hallo!“.
Ehepaar B. winkt mir von der Terrasse zu, sie möchten neues Wasser haben. Die beiden haben heute ihren 61. Hochzeitstag, Malte hatte ihnen eine Flasche Chardonnay mitgebracht, die haben sie aber schon gezwitschert. Gut gelaunt scherzen sie mit mir, während aus allen Ecken des Gartens nach neuen Wasserflaschen und Gläsern gebeten wird.
Die Heimleitung ist mittlerweile eingetroffen, obwohl sie frei hat, kommt sie aus Sorge um Frau R. von der ersten Etage, die nicht nur Durchfall hat, sondern auch furchtbar erbricht, und Schaum vorm Mund hat. Unser Arzt, der heute mittag schon mal hier war und sich ein paar erkrankte Bewohner anschaute, und wenigstens eine gute Nachricht dabei hatte, nämlich dass Frau K., die im Sterben liegt, Covid 19 negativ ist, kommt wegen Frau R. nochmal zu uns.
Mit der Heimleitung besucht er dann die schwer erkrankte Bewohnerin.
Frau R. stirbt vor ihren Augen.
Meine Nerven sind zum zerreissen gespannt, beim Rauchen vor der Tür sehe ich, dass Herr W. mir wieder eine Blume in mein Fahrradkörbchen gelegt hat. Eine rote Rose.
Es ist kurz vor Feierabend als ich in seinen Wohnbereich gehe und mich mit Tränen in den Augen bei ihm bedanke. Durch den Tränenschleier sehe ich, dass Frau M. sich wie irre am Kopf rumkratzt, ihre Schutzhandschuhe hat sie sich selbst ausgezogen, die sollen eigentlich vermeiden, dass sie sich überall die Haut aufkratzt. Ich setze mich neben sie, nehme behutsam ihre Hand vom Kopf, in der hat sie eine Haarnadel, damit kann man noch genüßlicher kratzen, lege das Metallteil weit weg und stülpe ihr die Handschuhe wieder auf. Sie ist so süß, lächelt mich an und sagt mit ihrer bezaubernden lieben Großmutterstimme: „Danke schön! Sie sind so eine schöne und liebe Frau!“ und nickt dabei weise mit ihrem zerzausten Kopf.
Tommy treffe ich nicht, er ist im Olympia zu einer Besprechung mit Martin, sie planen einen Livestream, der finanziell das Olympia unterstützen kann.
Ich trinke alleine einen Latte Macchiato Freddo auf dem Mittelstreifen vorm Sette, und hasse dieses Pärchen, dass es sich mit Thermoskanne auf meiner Feierabendbank gemütlich gemacht hat, während ich mich auf einen Gummiständer von einem Parkverbotsschild setzen muss. Ich hatte extra nicht mein Namensschild abgenommen, aus dem ersichtlich ist, dass ich in einem systemrelevanten Job arbeite, schnaufe und recke mich demonstrativ, aber es nützt nichts, sie glotzen mich nur blöd an. Heute Abend klatschen sie bestimmt wieder am Fenster.
Um 19 Uhr schlafe ich ein, verlasse später das Bett nur noch einmal um die Reste von gestern zu essen, Kartoffeln mit Möhren untereinander mit kross gebratenem Bauchspeck, dazu Tomatensalat mit dem köstlichen Olivenöl vom Hörnchen, und schaue erst auf Youtube eine Doku über das Attentat auf John Lennon, anschließend weiter „Ozark“, eine Serie auf Netflix. Da schraubt sich alles dermaßen so von einer Katastrophe in die nächste, dass man froh sein kann, dass wir im echten Leben gerade nur unter einer weltweiten Coronakrise leiden.
Statistik 23:00 Uhr
127.459 Infizierte 2.996 Todesfälle 60.260 Genesende

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