Montag, 16. März
- Mai Buko
- 16. März 2020
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Mai 2020
Bestes Wetter. Richtig warm, die Sonne strahlt.
Der Linienverkehr wurde runtergefahren, weil keine Schulkinder mehr unterwegs sind. Im Bus darf man nur noch hinten einsteigen und der Busfahrer verkauft keine Tickets mehr.
Ich fahre ja mit dem Fahrrad, wieder ein Ding, dass ich schon vor Corona richtig gemacht habe.
Eine Headline heute im Express (über den gestrigen Sonntag): „Dom leer, Zoo voll“
Es finden im Dom nur noch „Geistergottesdienste“ statt. „Geisterspiel“ fand ich schon bizarr als Ausdruck für Fussballspiele ohne Zuschauer, aber Geistergottesdienst hört sich ja fast schon spirituell an.
Im Heim gibt es Ausnahmen vom Besuchsverbot, das gilt für zwei Damen, die eine liegt akut im Sterben, die andere wird wahrscheinlich nicht mehr lange leben. Ich muss Listen anfertigen, in denen sich der Ehemann, bzw. der Sohn und die Frau, die mit der langsam sterbenden Bewohnerin Spaziergänge an der frischen Luft macht, eintragen müssen, damit wir nachvollziehen können, wenn was schief geht, wer mit wem in Kontakt war. Meiner Meinung nach ist die Kontrolle dieser 3 Personen überflüssig, denn wir Mitarbeiter stellen, trotz Vorsichtsmaßnahmen, das größere Gefahrenpotential dar. Wir sind rund um die Uhr hier, es gibt nur Handschuhe und diese Papiermasken zum Schutz, und die werden praktisch nur bei hygienischen Maßnahmen von den Pflegern angezogen, wir von der sozialen Begleitung tragen sie kaum. Von den richtigen Mundschutzmasken, die die Viren tatsächlich abhalten, haben wir nicht genügend, die müssen wir also für den Ernstfall zurückbehalten.
Man kann so ein Heim ja nicht steril halten, trotz aller Vorkehrungen, klar, wie reinigen die Tastatur und die Maus des Computers, aber nicht nach jeder Benutzung, und jeder Computer ist für mehrere Mitarbeiter, dasselbe gilt für alle Handläufe, an denen sich die Bewohner den Gang entlang hangeln, für die Knöpfe im Aufzug, die Türklinken … das kann man unmöglich 100prozentig vermeiden. Dazu gehen wir einkaufen, wir haben Kinder, wir haben einen Arbeitsweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und wir haben, genau wie der Rest der Bevölkerung, unterschiedliche Meinungen zum Umgang mit der Katastrophe. Es gibt immer noch eine erstaunliche Anzahl von Leuten, die das alles für Panikmache halten.
Da keine Ausgangssperre herrscht, gehen einige der orientierten Bewohner trotzdem nach draußen, treffen dann da auf ihre Verwandten, mit unterschiedlichen Auffassungen von „kontaktarm“. Wer kann das schon kontrollieren?
Frau W. kann ich nicht überzeugen ihre täglichen Einkäufe und Rundfahrten auf ihrem E-Rolli zu reduzieren oder gar einzustellen, sie schlägt auch das Angebot aus, dass einer von uns, der einmal die Woche das Nötigste für die Bewohner besorgt, auch ihr etwas mitbringen könne. Nein, sie brauche schließlich ihre speziellen Tomaten, die es nur bei Lidl gibt, sie brauche ein ganz spezielles Klopapier usw.
Als ich mit einer Bewohnerin im Rollstuhl in die verkehrslose Siedlung hinter unserem Haus spazieren fahre, ist der Trubel, der hier plötzlich herrscht, völlig überraschend. Wenn ich früher, also vor wenigen Tagen, hier tagsüber mit Bewohnern an den Gärten und Spielplätzen vorbei fuhr, war es meist enttäuschend, weil wir keine Kinder sehen und beobachten konnten, was eigentlich von fast allen Bewohnern hoch geschätzt wird: den Kinder zuschauen, sie beobachten, sich unterhalten.
Ein Highlight war jedesmal der Freitag, einmal im Monat, wenn Tanja mit bis zu 12 Kindern aus der nahen Grundschule im Rahmen von deren Nachmittagsbetreuung zum gemeinsamen Bingo-Spielen vorbei kam.
Heute sind so viele Mütter, Väter und überall rumlaufende Kinder unterwegs, auf Rollschuhen, mit dem Roller oder Dreirad, im Sandkasten, auf der Wippe, die Erwachsenen stehen beisammen und unterhalten sich gut gelaunt. Das hatte ich noch nie gesehen. So hätte ich mir das früher gewünscht, aber doch nicht gerade jetzt!
Zurück im Haus ist eine meiner Hauptbeschäftigungen Frau St. immer und immer wieder zu beruhigen, sie ist heute extrem anstrengend, ruft nach Mama - Hilfe! Hallo! - und kann nicht für eine Minute an einem Platz bleiben. Sie rollt in ihrem Rollstuhl immer geradewegs in Sackgassen rein, zwischen Tisch und Stühle, hinter eine Säule, vor geschlossene Türen oder dem großen, bodentiefen Panoramafenster im Foyer, sie verkeilt sich andauernd, kommt weder vor noch zurück. Ihre fordernden, manchmal herzzerreißend verzweifelten Rufe nerven andere Bewohner, die sie entweder kopfschüttelnd beobachten oder angiften, „Halt doch den Mund!“, „Da geht's doch nicht weiter, siehst du das denn nicht?“
Frau St. aus ihrer misslichen Lage befreien, sie beruhigen, die anderen besänftigen. Im 10 Minuten-Modus. Da bleiben andere Einzelbegleitungen auf der Strecke.
Frau St. ist dermaßen lost, sie streckt mir mit flehendem Blick die Arme entgegen. Was soll ich tun?
Ich kann sie nicht länger nur mitfühlend und liebevoll angucken, sie hält die Arme weiterhin zu mir gestreckt, also umarme ich sie, sie hält sich an mir fest und legt ihren Kopf an meine Schulter, verharrt so, für ihre Verhältnisse, für einen langen Moment.
Das ganze wiederholt sich eine halbe Stunde später nochmal. Nur dass ich ihrer Bitte nach Körperkontakt sofort nachkomme. Erschöpfung.
Massimo ist bis Donnerstag krank geschrieben. Erkältung. Er ist 18 Jahre alt, also gehört er zu der Gruppe, die am umtriebigsten sind, sich den Virus am ehesten einfangen und als Träger in die Welt husten. Aber Massimo ist besonders, er hängt nicht mit diesen gelangweilten, vor sich hinrotzenden Asis ab, er ist gebildet, nicht nur stets politisch korrekt, sondern auch wahnsinnig achtsam, aufmerksam und emphatisch. Er hält selbstverständlich Abstand, hustet, wenn überhaupt, in die Armbeuge und wäscht sich mehrfach die Hände. Ich habe noch nie so einen Jungen kennengelernt. So einen hätte ich gern für Marie, als meinen Schwiegersohn.
Bei Erkältungssymptomen wird ja kein Test gemacht, er war am Wochenende noch bei einem Schülerseminar, kam also in engeren Kontakt mit anderen jungen Leuten. Theoretisch könnte er jetzt infiziert sein. Aber das könnten wir ja alle sein. Theoretisch. Die Dunkelziffer ist ja der Horror, all die Leute, die nicht testwürdig sind, aber vielleicht schon längst als Verbreiter rumlaufen. Was für ein Scheiß.
Diesen Gedanken muss ich unbedingt verdrängen, denn man kann es ja nicht ändern.
Heute Abend in den Nachrichten: Die Grenzen zu Frankreich, Schweiz, Österreich und Dänemark sind seit dem Morgen dicht, die deutschen Inseln müssen von Touristen verlassen werden, die geschlossenen Schulen haben heute und morgen noch geöffnet, um Eltern noch ein wenig Zeit zu geben, sich etwas zu organisieren.
Der Schulhof über dem ich wohne, der ab 7 Uhr morgens von Gekreische geprägt ist, ist tatsächlich heute erstaunlich ruhig gewesen, ich hab nur vereinzelte Kinderstimmen gehört, fällt mir gerade auf.
Es gibt auch wieder eine Pressekonferenz, vorgestellt wird ein erweiterter Maßnahmenkatalog. Ab morgen landesweit Schließung von Cafés und Restaurants ab 18 Uhr, keine Reisebusfahrten mehr, Fitnesscenter, Kinos, Bordelle, Wettbüros, Spielplätze usw. müssen schließen.
Angela Merkel spricht seit Tagen nasal, sie ist bestimmt erkältet.
Bisher stand mein Privatleben immer an erster Stelle. So sehr ich meinen Beruf liebe, der kam immer erst an zweiter Stelle, den hatte ich meinem Privatleben untergeordnet. Wenn es mir gut geht, kann ich auch meinen Job gut machen.
Um mich zu schützen, mache ich eine 32 Stunden Woche, statt einer 38,5.
Der Mehrverdienst wäre eh so gering, dass er die höhere Belastung nicht ausgleicht.
Ich treffe mich mit meinen Freunden, die nichts mit meinem Job zu tun haben. Wenn ich feiern gehe, richte ich es so ein, dass ich am nächsten Tag frei oder Spätdienst habe. Mein Leben soll mein Inhalt sein, nicht mein Job.
Jetzt ist plötzlich alles anders. Jetzt richte ich mein Privatleben nach dem Job aus. Ich treffe niemanden mehr, außer Tommy, ich lade meine Kinder nicht zum Essen oder spielen ein, und essen gehen geht ja sowieso nicht mehr. Die Welt ist jetzt schon eine andere als noch vor wenigen Tagen. Wie ein bizarrer Traum.
Statistik: 20:00 Uhr
6700 Infizierte, 14 Todesfälle

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