top of page

Mittwoch, 8. April

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 8. Apr. 2020
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 19. Mai 2020

Statistik 9:00 Uhr

107.663 Infizierte 2.016 Todesfälle


Da ich die letzten Wochen oft nach der Arbeit, am frühen Abend, einschlafe, hat sich mein Tagesrhythmus total verändert. Vor lauter Müdigkeit lege ich mich „mal kurz“ aufs Bett, schlafe in wenigen Sekunden ein, werde nach ungefähr einer Stunde wieder wach, bin erst verwirrt, überlege mit geschlossenen Augen, was los ist, wenn ich halbwegs orientiert bin, muss ich mich zwingen jetzt aufzustehen, es ist dann aber so kuschelig und gemütlich, das Kopfkissen ist genau richtig geknuddelt, die Körperwärme genau perfekt, und eigentlich möchte ich genau so am liebsten weiterdösen, aber wenn ich das täte, würde ich spätestens um 4 Uhr hellwach sein, mit einem Bärenhunger, was meinen Rhythmus dann vollends aus dem Konzept brächte. Also reiße ich meine ganze Disziplin zusammen, stehe wirklich auf, mache mir mein Abendessen, werde dabei so langsam wach und daddel dann bis mindestens Mitternacht so rum, netflixen, Nachrichten, Mails checken, telefonieren, und gehe dann erst „richtig“ ins Bett. Höre da noch einen Podcast, gerne „Verbrechen“, oder „Unter uns Pfarrerstöchtern“ beide mit der hochverehrten Sabine Rückert, oder schon seit Jahren WDR Zeitzeichen, mit 15 minütigen interessanten Features über historische Ereignisse oder bedeutende Personen. Die 15 Minuten schaffe ich meist nicht mal, den Rest höre ich mir dann am Morgen an, oder versuche es in der folgenden Nacht nochmal.


Zwischen 7 und 8 Uhr stehe ich auf, ob ich frei habe oder zum Dienst muss.

Ich. Zwischen 7 und 8.

Das ist so krass, da ich schon mein Leben lang aufgrund meiner Nachteulenhaftigkeit meine Jobs danach ausgesucht hatte, wann sie beginnen, da ich keinen Job auf Dauer durchhalten würde, den ich regelmäßig vor 10 Uhr antreten müsste.

Ich bin diejenige, die bei uns im Heim all die Jahre nur den Spätdienst, der um 11:30 anfängt, freiwillig gemacht hat.

Die Kollegen ziehen den Frühdienst vor, haben dann schon um halb vier frei.

Durch meine Mittwoch Yoga-Aktivität hatte ich mir vorgenommen, wenigstens mittwochs einen Frühdienst zu machen, und hatte auch regelmäßig Angst davor.

Wenn ich früh einen Termin habe, also bedingt durch Abflugzeit, Arzttermin, Frühdienst oder ähnliches, schlief ich in der Nacht davor immer schlecht, vor lauter Angst zu verschlafen. Ich muss dann ja einen Wecker stellen, was ich sonst nie mache. Schaue fünfzigmal in der Nacht auf den Wecker, wieviel Zeit ich noch habe, wieviel Schlaf mir noch vergönnt ist, bevor ich wirklich aufstehen muss.

Manchmal fangen dann blödsinnige Gedankenspiralen an, vollkommen unwichtige Gedanken, oder, besonders absurd: Wiederholungen von vergangenen Gesprächen (die ich sogar laut mitspreche!), oder schlicht Ideen, was ich morgen sagen oder machen muss, oder nicht vergessen darf, die sich dann im Kreis drehen in ihrer Banalität, und mich immer wacher werden lassen. Hin und wieder stehe ich dann echt auf und mache mir einen warmen Kakao, ein Rezept noch aus Kindheitstagen, wenn ich nicht einschlafen konnte, und bin dann nahe der Verzweiflung, weil jetzt alles im Arsch ist, ich vielleicht noch drei Stunden Schlaf bekomme, bevor der Wecker klingelt. Wenn überhaupt.

Tatsächlich klopft mein Herz wie rasend, wenn dann der Wecker klingelt, egal welchen sanften Ton ich dafür wähle, ich bin wie gerädert, mit dem Gefühl, ich bin doch gerade erst eingeschlafen, bin schlecht gelaunt und zittrig.

Als ich früher die Kinder zum Kindergarten oder Schule bringen musste, oder später halt die Kinder wecken und Frühstück machen, legte ich mich sobald sie aus dem Haus waren sofort wieder ins Bett. Ich hab es mein Leben lang geschafft, mir meinen Schlafrythmus im Großen und Ganzen beizubehalten.

Das ist also komplett neu bei mir, dieses Frühaufstehen, ohne Wecker, und es gefällt mir!

Ein weiterer positiver Aspekt, den mir Corona beschert.


Um 11 Uhr ruft meine Vogeldoktorin an, wir haben wieder eine telefonische Sitzung. Könnte ich mich dran gewöhnen. Also, wenn es mir wieder mal schlecht gehen sollte. Im Moment geht es mir aber gar nicht schlecht. Ich komme nicht nur gut klar, ich wachse über mich selbst hinaus. Es ist wie in meinen Visionen, die ich mit Anfang zwanzig hatte. Da war ich noch ziemlich orientierungslos, wusste nicht in welche Richtung mein Leben gehen sollte, war mir meiner Fähigkeiten oder Sehnsüchte nicht bewusst, wusste nur eins: sollte mal wieder ein Krieg im Anmarsch sein, ich wäre gewappnet. Ich würde allen Brot und Butter besorgen, würde jeden Schleichweg kennen, könnte aus Zahnstochern ein Radio bauen, würde arme Opfer in hervorragenden Verstecken unterbringen, könnte Trost und Hoffnung verbreiten, immer ein Lied auf den Lippen, man würde mich an meinem fröhlichen Gepfeife schon um die Ecke hören.

Ausser „Trümmerfrau“ fiel mir da keine passende Berufsrichtung ein.

Später tröstete ich meinen Mann damit, wenn die DJ Gigs weniger würden, oder die Steuervorauszahlungen uns vernichten würden, sollte alles zusammenbrechen, die Welt untergehen, ich hätte immer noch ein warmes Plätzchen für uns und immer ein paar Nüsse und klare Bachwasservorräte. Das glaubte er mir zwar sofort, zog aber eine Karriere vor.

Jetzt endlich ist meine Zeit gekommen, ich bin ich diejenige, die Klopapier verteilen kann, ohne je gehamstert zu haben. Ich hab zu essen, zu rauchen, meine Miete kann ich zahlen, meinen Kindern finanziell aushelfen, ich hab einen Job, dem ich weiter nachgehen kann, dazu noch einen sinnvollen, der plötzlich fast im Rampenlicht steht, die Unterbezahlung ist plötzlich mediales Thema, ich liefere ab, meine Kreativität versiegt nicht im täglichen arbeitsbedingtem Improvisieren, ich schöpfe daraus auch noch in meinem Privatleben, diese Distanzregelungen sind ein wahrgewordener Traum, kein Bussibussi mehr, auf dem Bürgersteig geht man sich aus dem Weg, die Leute drängeln nicht mehr an der Kasse, der verminderte Verkehr auf meinem Arbeitsweg, die Ruhe in den Strassen, im Hinterhof, auf den Wiesen, überhaupt die Ruhe überall, der klare Sternenhimmel, das Stubenhocken ist nicht depressiv sondern solidarisch, es ist herrlich für mich.

Genau das erzähle ich meiner Therapeutin, und wir machen aus, dass wir uns frühestens in 3 Wochen wieder sprechen, und es ansonsten ausschleichen lassen, nur noch vereinzelte Termine nach Absprache machen.


Im Heim ist heute meine Hauptaufgabe das Haus auf Ostern zu schminken, wie mein Friseur und Busenfreund Rudolf es ausdrücken würde. Massimo und ich fahren mit einem Wägelchen über alle Etagen und hängen Eier auf, stellen Hasen und Küken auf Tische und Schränke, das nimmt doch mehr Zeit in Anspruch als geplant, also verschieben wir das Eierfärben auf morgen.


Auf dem Rückweg fahre ich am Volksgarten vorbei, seit Tagen haben wir um die 20 Grad, das merkt man den Wiesen an, alles voll. Aber tatsächlich alle in gebührendem Abstand. Geht doch!


Tommy und ich kaufen nach unserer Lagebesprechung mit Cappuccino noch beim Türken das restliche Basilikum auf, und ich mache zum Abendessen ein herrliches Pesto, denn Parmesan und Pinienkerne habe ich selbstverständlich als gute Trümmerfrau stets vorrätig.


Statistik 23:00 Uhr

110.698 Infizierte 2.192 Todesfälle


ree




Comments


Abo-Formular

Vielen Dank!

  • Facebook
  • Instagram

©2020 Corona Tagebuch. Erstellt mit Wix.com

bottom of page