Mittwoch, 7. Oktober
- Mai Buko
- 7. Okt. 2020
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Nov. 2020
Anfang Oktober wurde der Schwindel etwas weniger, aber meine Knochenschmerzen umso größer. Beim Aufstehen setzten sofort Anlaufschmerzen ein, meine linke Leiste spürte ich jetzt immer deutlicher, äußerst unangenehm. Ein neues Marmeladenglas konnte ich erst nach mehreren Anläufen öffnen.
Auf der Arbeit hatte ich montags das Gruppenangebot „Singrunde“, da erschienen glatt 20 Personen, die ich kaum in 1,50 Meter Abstand setzen konnte.
„Leute, das ist toll, aber eigentlich seid ihr viel zu Viele, das werde ich so aus Coronagründen nicht mehr machen können!“ fügte ich erschrocken der Begrüßung hinzu.
„Jetzt hör aber auf, wollen die uns jetzt noch das Atmen verbieten?“
Die Pandemie ist den meisten immer noch zu abstrakt oder einfach nicht präsent. Deshalb muss ich die Grundfakten von Corona immer wieder von Neuem erklären.
„Und deshalb kommen wir alle in den Knast oder in die Hölle!“
„Ach Quatsch, los jetzt. Kein schöner Land in dieser Zeit …“
In der echten Welt ist Corona so selbstverständlich geworden, als hätten die besonderen Umstände schon ewig zu unserem Alltag gehört. Es ist selbstverständlich, mindestens eine Maske mit sich rumzutragen (ich hab meistens 5 Stoffmasken dabei, gefaltet in einem kleinen Säckchen, das in meiner Handtasche verstaut ist. Irgendwer braucht immer mal eine. Tommy, David, selbst Achim habe ich schon eine gegeben. Und ausserdem wechsele ich sie manchmal, aus Style-Gründen)
Und genauso selbstverständlich liegen verlorene oder weggeworfene Masken auf dem Boden. Selbstverständlich bietet gefühlt jeder dritte Laden, ob Modeladen, Änderungsschneiderei oder auch Blumen- und Schmuckladen die unterschiedlichsten selbstproduzierten Masken an. Neuartige Designs aus Kunststoff werden mir bei Instagram alle naslang angeboten. Selbstverständlich schicke ich böse Blicke an meinen Hintermann in der Schlange, wenn er mir zu nah kommt. Selbstverständlich füllen wir in den Cafés und Restaurants die Kontaktdaten aus, oder registrieren uns per QR-Code. Selbstverständlich besuche ich keine Veranstaltungen, bei denen mehr als 10 Mann zu erwarten sind. Letztens war ich im Kino, voll aufgeregt, weil ich mir nicht sicher war, wie heikel das wird. Die Angst bei den Reisen im Flugzeug und auch im Zug steckten mir noch in den Knochen. Doch im Kino hatten Marie und ich drei Reihen nur für uns. Im ganzen Kino waren vielleicht 12 Leute. Okay, es war in einem Off Kino (Odeon) und der Film jetzt auch kein Hollywoodkracher (Jean Seberg - Against All Enemys) und dann noch Donnerstag um 18:30 Uhr. Also ziemlich safe. Selbstverständlich werden alle Feiern bei uns im Haus nicht mal mehr abgesagt, sie finden einfach nicht statt. Für Dienstag hatte ich den Akkordeonmann bestellt, der vor drei Wochen noch bei schönstem Wetter mitten im Garten spielen konnte, und die Bewohner meilenweit entfernt auf der Terrasse saßen. Falls es am Dienstag um 16 Uhr regnet, müssen wir kurzfristig absagen. Bei Eiseskälte kriegen die Bewohner halt Decken umgelegt.
Normal auch, dass es jetzt zu einem „Schweinestau“ kommt, da so viele Schlachtbetriebe coronabedingt, wegen der ganzen Arbeiter die wegen der Infektionen jetzt alle in Quarantäne müssen, nicht mehr alles verarbeiten können.
Und selbstverständlich hört man sich in den Nachrichten die sehr viel schlimmeren Auswirkungen im Ausland an.
Obwohl es am Dienstag ausnahmsweise mal nicht regnete , war es dem Akkordeonmann zu kalt, oder die Kälte würde seinem Instrument schaden, deshalb fiel es aus. Vormittags hatten wir eine kurze Schulung über Arbeitsschutz. Die Heimleitung nannte keine Namen bei kuriosen Arbeitsunfällen, aber ich weiß natürlich, dass ich da Spitzenkandidat bin, was Einträge im „Verbandsbuch“ angeht: mit extrastarken Pinnwand-Magneten hatte ich mir mal die Schneidezähne angebrochen, als ich sie mit den Zähnen voneinander lösen wollte, mit den winzigen Glassplittern einer Weihnachtslichterkette eine fiese Entzündung am Daumen herbeigeführt, um nur zwei zu nennen.
An diesem Dienstag schlug mein Vater nach mir, als ich ihm Essen anreichen wollte und ihn dafür immer wieder am Arm berührte und ihn laut ansprach. Er erkannte mich aber offensichtlich nicht, hatte die Augen nur halb geöffnet, und schlidderte in einer Traumwelt herum, in der Berührung Gefahr bedeutete. Also ließ ich ihn.
Später ging ich mit Adele und zwei Bewohnerinnen im Rollstuhl zu der neuen Eisdiele, die sich „Eisliebe“ nennt, um draußen Kaffee zu trinken. Zuerst war es noch ganz amüsant, weil Adele die Frau mit Fragen zu Eissorten anschrie (sie ist etwas schwerhörig) und Passanten sich umdrehten. Aber sie überforderte die arme Frau damit total, bis ich einfach bestimmte, „okay, ein Bällchen Vanille und eins Banane“. Worauf sie erleichtert nickte. „Bällchen“ sagen wir hier in Köln zu Kugel. Das krieg ich auch nicht mehr raus. Aber die Eisverkäufer verstehen schon was ich meine.
Dann fing es an zu regnen, mittlerweile war auch die Hitze, die wir kurz zuvor noch durchs Rollstuhlschieben in uns spürten, gewichen und wir fröstelten. Die Bewohnerinnen hatten wir ja schön in Decken gehüllt. Die mitgebrachten Schirme mussten sie nun halten, während Adele und ich sie durch den Regenguss schoben, geradezu rasten, um so schnell wie möglich wieder ins Heim zu gelangen, ohne dabei komplett zu durchnässen.
Nach der Arbeit fuhr ich noch zum Fahraddoktor, der mir ein neues Rücklicht installierte.
Weil Tommy anderswo verabredet war, besuchte ich noch die Sonnenbank und harrte da wieder gelangweilt die Mindestdauer von 15 Minuten aus, weil ich mir nicht nur den Erhalt meiner leichten Bräune sichern wollte, damit ich nicht ganz so krank aussehe, wie ich mich fühle (und sogar schon darauf angesprochen wurde wie „scheiße“ ich aussehe), sondern auch, um mir eine Portion Vitamin D einzuverleiben, was ja die Stimmung heben soll.
Heute unterhielten sich Frau Z. und Frau St., die seit mindestens einem Jahr im selben Gruppenraum sitzen, auf dem gleichen Gang wohnen, so als ob sie sich gerade erst kennenlernen würden, was sie natürlich annahmen.
„Ach, Sie kommen also auch aus Zollstock?“
„Ja ich wohne am Kalscheurer Weg.“
„Ja, kenne ich, da ist ja auch der Südfriedhof, da liegt meine halbe Familie.“
„Meine auch. Der ist ja wirklich sehr schön, der Friedhof.“
„Ich wohne ja in der Südstadt, und werde hier bald abgeholt.“
„Ich werde auch spätestens am Sonntag von meiner Mutter abgeholt.“
„Aber beschweren kann man sich ja nicht.“
„Nee, wenn es so bleibt, können wir zufrieden sein.“
„Genau, man muss immer nach vorne sehen. Es ist noch immer gut gegangen.“
„Nützt ja alles nichts.“
So ging das in einem fort, nicht auf hochdeutsch sondern in einem, bei beiden identischem, kölschen Singsang.
Mir war mal wieder etwas mehr übel und aufs Klo lief ich am Vormittag auch bestimmt dreimal.
Weil Tommy und ich abends zu einer Lesung von Rocko Schamoni und Gereon Klug ins Gloria gehen wollten, trafen wir uns eine Stunde vorher im „Aller Kollör“ und teilten uns einen leckeren vegetarischen Flammkuchen namens „Champagne“.
Tommy erzählte von dem kleinen Bett, in dem er bei seinem Elternbesuch letzte Woche schlafen musste, das wäre nur 70 Zentimeter breit gewesen. Wir zankten uns noch ein wenig darüber, welches Maß das übliche Einzelbettmaß war, er ging von 70 aus, ich von 90, eventuell vielleicht auch mal 80 Zentimeter, aber er bestand darauf, dass es auf jeden Fall so klein sei, so winzigbreit, so breit halt wie zwei Penislängen. Ab da war seine Penislänge Grundlage jedes weiteren Gags im Laufe des Abends.
Der falsche Rocko kam natürlich auch wieder vorbei und hätte Tommy beinah aus Versehen gegrüßt. Der Typ nervt weiterhin so dermaßen, wenn der wüßte wie Tommy und ich immer abkotzen, wenn er unsere Cafés und Restaurants besucht. Oder gar neben uns sitzt mit seinen ebenso verabscheuenswürdigen Kumpels. Was für ein teuflisches Ding, wenn er gleich auch noch zu Rocko und Gereon ins Gloria kommen würde!
Das Gloria hatte alles bestens vorbereitet, Sitzreihen in gutem Abstand, von mehreren Gängen durchbrochen, es gab nur eine Richtung, in die man laufen durfte, Maskenpflicht die ganze Zeit, und bei der Deckenhöhe von 6-7 Metern, gaben sie an, dass durch die Klimaanlage alle 10 Minuten der Sauerstoff komplett ausgetauscht würde. Und als alles vorbei war, gingen die Leute nach der Reihe von hinten nach vorne in zeitlichen Abständen wieder raus.
Die Lesung, es ging um ihren Podcast „Auf der Bahn“, gestaltete sich am Anfang etwas zäh, so dass Gereon nach dem ersten kurzen Abschnitt dem Publikum erklären musste, dass wenn es dunkel auf der Bühne wird, es Zeit für das Publikum ist, zu klatschen. Irgendwann war der Knoten geplatzt und es war wie immer sehr, sehr lustig. Befremdlich war, dass Rocko seine Haare sehr kurz trug und diese weißblond gefärbt hatte. Damit sah er plötzlich Evil-Rocko noch mehr ähnlich, obwohl der ja dunkle Haare hat. Es war wohl die Kurzhaarfrisur. Anschließend trafen wir uns noch mit den paar anderen üblichen Kölner Freunden vorm Gloria und überlegten, wo jetzt alle noch draußen zusammen was trinken könnten. Nach ewigem Hin und Her, Electra ja oder nein, MD Bar, ja oder nein, empfahl ich irgendwas auf der Aachenerstraße. "Halt du dich doch raus", meinte Tommy, "du willst doch eh nachhause gehen!" "Aber ich kümmere mich sorgend um die Gäste und auf der Aachener findet ihr bestimmt was und das Hotel ist auch direkt da." Das leuchtete allen ein, und so begleitete ich sie bis zum Rudolfplatz, wo ich eigentlich die kleine Truppe verlassen wollte, um in die U Bahn zu steigen. Aber dann sah ich, dass das „La Stada“ brennende Kerzen draußen auf den Tischen stehen hatte und unter den Sonnenschirmen Heizstrahler hingen, was furchtbar einladend zu mir rüber leuchtete. Also überredete ich alle, dass wir dahin gehen, und das war dann so toll, dass wir in dem Laden, in den ich schon als Teenager gegangen war, nun auf dem Trottoir saßen, alle mit Bier, ich mit rituellem Kakao, den ich seit den Siebzigern dort trinke, und dass es nun so gemütlich und lustig war, und obwohl wir fast 10 Leute waren, war es trotzdem angenehm safe. Torsten, Claritas kleiner Bruder, war auch dabei, er erzählte, dass er uns gesucht hatte, und im Sixpack eingekehrt war, weil er uns dort vermutete. Vor 25 Jahren ungefähr machte Torsten als langmähniger Rocker das Sixpack, dem damaligen Absturzladen Number One, und normalerweise wurden alle After-Show-Partys bei ihm gefeiert. Legendär war das, meine Güte!
Heute gab er bei der Registrierung einen falschen Namen an, John Cale, glaub ich, beschrieb die Plastik-Trennwände an der Bar und das Hipster-Ambiente, aber in irgendeiner Ecke hing noch das Ölgemälde von dem großen Schiff auf stürmischer See, das er damals dort aufgehangen hatte.
Heute ist Torsten Pilot.
Ich erzählte noch kurz bevor ich dann ging Rocko von Tommys Penislänge, was Tommy zu unterbrechen versuchte.
„Ach, das will er doch gar nicht hören!“
Doch, genau sowas wollte Rocko hören.

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