Mittwoch, 4. November
- Mai Buko
- 4. Nov. 2020
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Nov. 2020
Ohjeh, Zamperoni ist privat, ohne Anzug, in seiner Doku „ Meine amerikanische Familie und ich“ zu sehen. Neben diesen privaten Einblicken, die ich von solchen Leuten nie sehen will, auch früher schon nicht, zum Beispiel bei meinen Lehrern oder bis heute bei meinen Ärzten und Therapeuten, die sollten gefälligst immer das bleiben, was sie sind, unantastbare, geschlechtslose Wesen, sind Zamperonis Aussichten auf die US Wahl ziemlich bedrückend, er schließt echt nicht aus, dass Trump doch noch die Wahl gewinnen könnte.
Auf der Arbeit beginnt die Massentestung: 24 Bewohner begleite ich bis hin zum Abstrich durch Mund und Nase, vor der ich ja auch einen enormen Horror habe. Das Gurgeln letzte Woche hatte ich erleichtert als nicht unangenehm empfunden, aber heute müssen alle wieder durch diese Tortur mit den Stäbchen durch die Nase bis hinter die Augen ins Gehirn. Gefühlt jedenfalls.
Jeden einzelnen den ich begleite, muss ich trösten, den Kopf ein wenig gerade halten, die Hände halten, alle Dementen und auch die Orientierten sind absolut kooperativ doch sobald das Stäbchen nur wenige Zentimeter im Rachen ist, reagieren sie reflexartig, ziehen sich zurück, schlagen die Hand weg, also noch mal neu, bis zu viermal muss man das Stäbchen neu einführen und rumrühren, dann kommt erst der sehr viel absurdere Gang durch die Nase. Das führte neben den Reflexabwehrhandlungen zu Schreien, Schlägen und Tritten. Ich halt es nach dem zehnten Bewohner kaum noch aus, sie tun mir unfassbar leid, ich muss sie bändigen, gut zureden, trösten, dabei werde ich immer kurzatmiger, was die FFP2 Maske noch verstärkt, mir wird richtig schwindelig manchmal.
Ich versuche wegzuschauen wenn das Stäbchen in die Nase eingeführt wird, weil dann wirklich nur noch ein Viertel der Länge unten aus dem Nasenloch raus schaut, das sieht so krass aus, mir dreht sich jedesmal der Magen um, aber ich muss dann doch helfend eingreifen, und wenigstens die Hände der Bewohner festhalten, damit sie nicht so doll um sich schlagen, und dabei sehe ich dann das Elend aus nächster Nähe.
Danach umarme ich manche Bewohnerin, lobe sie für ihre Tapferkeit, bringe sie raus zu einem Kollegen der sie wieder in ihren Wohnbereich bringt, und habe schon den nächsten Schwerhörigen dem ich ins Ohr brülle, dass er nun laut „Aah“ sagen muss, damit man ihm ein Stäbchen in den Rachenraum schieben kann.
Ein Alptraum, der meine Panik vor der eigenen Testung, die gleich nach den Bewohnern ansteht, nur noch anfeuert. Ich gehe dann als dritte von uns Mitarbeitern mutig in den Raum, die Leute von der Uniklinik kennen mich ja nun schon, und auch meine Angst ist ihnen bekannt, Tipps, wie man es erträglicher machen könnte, konnten sie mir auch keine geben, ausser ruhig zu atmen. Bevor er nach dem Rachenabstrich in meine Nase will, bitte ich um einen kurzen Moment, um mich zu sammeln. Ich atme noch einmal tief durch und schließe die Augen. Der Moment als er mit dem Stäbchen hoch oben in der Nase verweilt, praktisch im Gehirn, ich mich krampfartig an den Armlehnen festhalte und ruhig verharre, erinnert mich an die Fassungslosigkeit in einer anderen Situation, eine jeder Vernunft widersprechenden Situation, und zwar der Moment bei der Geburt von Marie, als ihr Köpfchen schon draußen war, und der Rest aber noch in mir, und ich sie mit der nächsten Wehe rauspressen musste.
Dieses „Das glaub ich jetzt nicht!“ „Das kann ja wohl nicht wahr sein, was ich hier gerade fühle!“ „Wie kann man sowas eigentlich überleben?“ „Warum falle ich nicht in Ohnmacht?“ war natürlich sehr viel schlimmer und vor allem unbeschreiblich schmerzhaft, geradezu lebensbedrohlich. Aber diese Fassungslosigkeit damals in mir, die ähnelte der jetztigen, als ich diesen Fremdkörper hoch oben in meinem Kopf genau spüre und mir den Reflex, das Teil da raus zu ziehen, verbiete. Der Nasenabstrich dauert nur wenige Sekunden, die sich zwar länger anfühlen, aber wenn es vorbei ist, dann sagt man sich, okay, das war furchtbar unangenehm, aber es dauert nicht lang, und es ist, wie man sieht, durchaus aushaltbar. Im Gegensatz zu Wehen und Geburtststillstand.
Interessant auf welch natürliche Weise die Bewohner reagierten, und wie beherrscht wir Mitarbeiter alle waren. Man verliert also schneller die Beherrschung wenn man alt ist, man kann sich nicht zusammenreißen, man ist wieder Kind und will das einfach nicht und zeigt das mit allen Mitteln. Okay, bei den 24 Bewohnern waren vielleicht 5 dabei, die weder schrieen noch um sich schlugen. Aber für meine privaten Studien reicht das aus als Ergebnis: alte Menschen sind radikal hemmungslos.
Wir ändern im Haus nochmal ein paar Regeln, die Bewohner sollen jetzt möglichst auch Masken tragen wenn sie in Kontakt mit Mitarbeitern und Mitbewohnern sind.
Das Gerücht, das durch ungenaue Formulierung rumgeht, dem auch ich aufgesessen bin, dass die Kölner Feuerwehr in Absprache mit unserer Bürgermeisterin Reker beschlossen hat, dass nun auch die Besucher in Seniorenheimen alle FFP2 Masken tragen müßen, stellt sich als falsch heraus. Warum eigentlich, frag ich in die Runde der Kollegen, das wäre doch sinnvoll, wenn die potentiellen Gefahrenquellen von außen so Infektionen vermeiden.
Aber es gibt nicht genügend solcher Masken, wir kriegen es ja nicht mal hin, dass das gesamte medizinische Personal und die Pfleger damit ausgerüstet sind.
Nachdem wir ja nun aktuell einen wahnsinnigen Verbrauch haben, und auch schon 4000 neue Masken bestellt wurden, wir aber nicht wissen wann die geliefert werden, ist das natürlich ein Argument.
Das Ganze sehen wir nun wirklich als Generalprobe, mit der unerschütterlichen Gewißheit, bei uns gibt es kein Corona. Punkt.
Aber jetzt wissen wir, was wir noch verbessern können, was man vermeiden muss, was man sofort ändern muss. Dazu gehört z.B. dass wir von der sozialen Begleitung nicht mehr durch's ganze Haus wandern um möglichst viele Bewohner zu erreichen, sondern dass wir einzelnen Etagen und Wohnbereichen zugeordnet werden. Auch dokumentieren wir jetzt täglich jeden Kontakt zu Bewohnern, um es im Bedarfsfall besser nachvollziehen zu können. Das ist natürlich viel Schreibkram. Ein Drittel meiner Zeit habe ich so mit Schreiben verbracht.
Nach der Arbeit ist mal wieder jede beschissene Bank besetzt, Tommy und ich wandern durch die Straßen in den Händen unseren Coffee to go vom Forum. Jeder Penner beschlagnahmt eine Bank, manche stehen auch einfach davor und nutzen die Bank zum abstellen ihrer Alkflaschen. Ich werde schon wieder wahnsinnig aggressiv.
Man müsste es gesetzlich verankern lassen, dass einzelne Personen keine Zweierbank in Beschlag nehmen dürfen, oder das Leute sie mit Alkohol vollstellen. Ich möchte das brave Arbeiter nach Feierabend da ihren Cappuccino trinken dürfen und Vorrechte haben.
In den Nachrichten: nach dem islamistischen Terroranschlag in Nizza vor ein paar Tagen eine weitere Terrorattacke in Wien. In einer beliebten Ausgehmeile hat ein in weiß gekleideter Mann, ein Sympathisant des IS, innerhalb von knapp 10 Minuten 4 Menschen getötet und über 20 schwer verletzt, bevor er erschossen wurde. Er war genau wie der Attentäter aus Nizza erst Anfang 20.
Am Dienstag erhalte ich von meiner Corona App eine Nachricht, wow, sie funktioniert also doch, und zeigt mir das Ergebnis vom gestrigen Test an: negativ. Das ging ja schnell.
Die Bewohner haben natürlich diese App nicht, und auf deren Resultate müssen wir wohl noch etwas warten.
Dieter Altenkirchen, der Sohn einer Bewohnerin, zu der ich ein enges Verhältnis hatte bevor sie vor ein paar Jahren verstorben ist, und ich seitdem mit ihm in losem Kontakt stehe, schickt mir in unregelmäßigen Abständen „nette Videos“ per WhatsApp. Meist irgendwas mit dem 1. FC Köln, oder etwas in kölscher Mundart, Carolin Kebekus und Hänneschen Theater, oder kölsche Durchhalteparolen. Heute ein Musicclip von den „Rabaue“ mit dem Stück „Op eimol“ . Ich kann gar nicht mit Worten beschreiben, wie schlimm dieses sentimentale, „wir halten alle zusammen“ Gesülze ist. Aber was noch viel schlimmer ist, wie kommt Dieter Altenkirchen darauf, dass mich dieser ganze Kölsch-Driss interessiert? Und wie komme ich aus dieser Nummer wieder raus? Gar nicht. Denn ich bin höflich. Ich reagiere nur selten auf solche Nachrichten, das ist schon unhöflich genug.
Als ich Tommy vor'm Forum treffe und ihm sofort Vorwürfe mache, weil er sein Scheißtelefon ewig auf lautlos gestellt hat, deshalb meine 27 Anrufe nicht bemerkte, die ich vor’m Merzenich tätigte, weil ich mich lieber mit ihm dort in der Nähe treffen wollte, weil dort Bänke frei waren, meint er ich soll es mal lieber nicht mit meiner einzigen sozialen Kontaktperson im Lockdown verscherzen. Ups, da hat er Recht. Ich muss meine Motzereien zukünftig subtiler und in verringerter Frequenz abschießen.
Die ersten Meldungen kommen über die Wahl in den USA. Der richtige Livestream fängt aber erst nach Mitternacht an, schade. Werde mich morgen früh überraschen lassen, ob Trump endlich weg ist.
In Trump-Speech schickt mit Tommy ein Foto von seinem selbstgekochtem Abendessen.
„I cooked good, maybe great“
Natürlich antworte ich ihm im gleichen Stil:
„Maybe this is the best food that you ever cooked in your life. Maybe this is the best food in the world.“
Er schickt noch ein „Mit grünen Erbsen!“ hinterher.
Ich: „Frische?“ Denn ich hatte gestern tatsächlich frische grüne Erbsen beim Türken gekauft. Die waren fantastisch.
Er: “Tiefkühltruhe. Maybe the best ever.“
Ich: „Naja, besser als aus dem Glas. Du machst Fortschritte! Vielleicht die besten Fortschritte die du je gemacht hast.“
Heute am Mittwoch schaue ich morgens neugierig ins Internet und bin schockiert: Oh Gott, jetzt in dieser Sekunde, um 7:25 Uhr hat Biden 219 Stimmen und Trump 212.
Alles ist möglich. Unglaublich.
Den ganzen Tag geht das so weiter, immer nur ein kleiner Abstand zwischen den beiden. Meine Güte, wird Zamperoni noch Recht behalten? Oder ist es unmöglich, dass Trump Präsident bleibt, wovonTommy mich jedesmal überzeugen will.
Das kann ja wohl nicht wahr sein. Spinnen die Amis?
Die Testergebnisse der Bewohner sind da, alle negativ. Puh! Dafür hat sich diese Sado-Testung gelohnt. Tonnenweise fallen Steine von der Herzen der Heimleiterin, sämtlichen Mitarbeitern und sogar von ein paar Bewohnern.
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