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Mittwoch, 10. Juni

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 10. Juni 2020
  • 7 Min. Lesezeit

Das Wetter ist immer noch das reinste Aprilwetter, Regen, Sonne, weit unter 20 Grad, das nervt.

Bin immer noch etwas dünnhäutig, dazu kommt jetzt noch, dass ich heute nacht sehr schlecht geschlafen habe. Aber wenn ich so zittrig innerlich bin, hat das auch was Gutes, dann sind meine Antennen besonders fein und ich hab dann einen noch besseren Zugang zu unseren verwirrten Bewohnern.


Gestern hatte ich noch dem Liebespaar Frau Sch. und Herrn B., die gerade wieder im Begriff waren abzuhauen, ausführlich erklärt, dass Frau Sch. nicht eben noch an der Bushaltestelle war und sie dort also nicht „ihr Kleines“ vergessen habe, weshalb sie sich also nicht sorgen muss, und ganz entspannt hier bei uns in der Hausquarantäne bleiben kann.

Dieses Horrorgefühl kenne ich übrigens nur zu gut. Aus Träumen. Als meine Kinder noch sehr klein waren, träumte ich immer wieder ich hätte den Kinderwagen vorm Supermarkt vergessen, oder überhaupt irgendwo eins meiner Kinder stehen oder liegen gelassen und das erst zuhause bemerkt. So wie ich als Kind tatsächlich hunderte Male mein Fahrrad irgendwo am Supermarkt oder sonstwo hab stehen lassen und zufuss nachhause gelaufen bin.

Dieses Schreckgefühl im Bauch ist furchtbar.

Die Not der armen Frau Sch. ist total nachvollziehbar.

Sie atmet dann nach einer Zeit auch erleichtert auf.

Herr B. ist sowieso immer schnell einsichtig, nickt zustimmend, und zeigt mir mit seinen Blicken, ich habe verstanden, das ist hier meine Frau, die immer solch abstrusen Gedanken hat.

Die beiden denken ja nicht nur, dass sie schon immer zusammen sind, auch Ungereimtheiten stören da nicht, wie zum Beispiel, dass sie beide erwachsene Kinder aus ihren realen Ehen haben, sie binden auch mich in ihr allumfassendes Leben mit ein.

Frau Sch. also gerade auf den neuesten Stand gebracht, wie sich ihre Alters-Erkrankung auf ihre Erinnerung und Wahrnehmung niederschlägt, und verstanden hat, dass sie weder an einer Bushaltestelle gewesen sein kann, noch ein Kleinkind zu beaufsichtigen hat, dass es also diese Krankheit gibt, an der sie und ihr Mann leidet, meint dann abschließend zu mir:

„Das ist wirklich interessant, was es nicht alles gibt! Aber ich glaube Dir! Du warst ja immer ehrlich zu uns. Das sagt auch meine Mutter immer. Ich weiß noch, wie du immer zu uns rauf gekommen bist, als ganz kleines Kind schon, du warst ja andauernd bei uns. Das war immer so schön!“

Diese schöne Erinnerung nehme ich ihr jetzt natürlich nicht, nur wenn sie leidet, versuche ich sie in die Realität zu bringen, wenn ihre Verfassung das zulässt. Oft ist das aber genau das Falsche, da hilft dann nur Validation, also ganz bei ihren Gefühlen bleiben, sie akzeptieren, mein Mitgefühl aussprechen, auf Themen kommen, die ihr zeigen, dass ich sie ernst nehme, und sie nach und nach von ihrem aktuellen Thema, das sie gerade belastet, wegführe.

So hatte ich erstmal, als sie mir erklärte, sie müsse los, nach ihrer Kleinen gucken, mitfühlend geäussert wie schlimm sich das anfühlen muss, dann ihre fantastische Fähigkeit gelobt, wie gut sie sich kümmern würde, wie verantwortungsvoll sie sei, dass sie so schnell in Sorge gerate, was für eine tolle Mama sie gewesen sein muss, als sie noch kleine Kinder hatte, "...wieviele Kinder habe Sie denn eigentlich nochmal?"

Erst als sie sich dadurch schon beruhigen konnte, holte ich sie peu à peu in unsere Wirklichkeit.


Heute führe ich ein ähnliches Gespräch mit Frau K..

Ich hatte in der Dokumentation gelesen, dass sie gestern Abend gegen 22 Uhr von der Polizei nach Hause gebracht wurde, sie dann angab, sie habe Hunger und ihr sei kalt, worauf sie warm gekleidet und Butterbrote geschmiert wurden.

Als ich sie heute darauf anspreche, streitet sie ab, von der Polizei nach Hause gebracht worden zu sein.

Weil sie aber interessiert an dieser Polizeigeschichte ist und nachfragt, taste ich mich vorsichtig an sie ran, als ich checke, sie ist bereit, erkläre ich auch ihr ihre Erkrankung, sie nickt zustimmend, an dem Phänomen der Vergesslichkeit ist sie weitaus interessierter als das Liebespärchen gestern und vervollständigt meine Sätze:

„Und dann denkt man, das wäre nicht geschehen, es ist einfach weg!“

„Richtig! Dafür haben Sie und auch andere Menschen, die an dieser Vergesslichkeit leiden, ein unfassbares Lanzeitgedächtnis, Sie können alte Gedichte oder Volkslieder komplett auswendig aufsagen oder singen. Oder mir genau sagen, welche Farbe Ihr Kleid hatte, das Sie trugen, als Ihr Mann um Ihre Hand anhielt. Oder wie es roch, als Ihre Mutter Pudding für Sie kochte.“

Sie nickt. Als ich beginne „Die Gedanken sind frei“ zu singen, stimmt sie textsicher mit ein.

Sie ist auch sehr interessiert, was es mit diesem Corona-Virus auf sich hat, und ich erkläre ihr sehr wahrscheinlich zum zehntenmal seit Corona, weshalb wir hier keine Besuche empfangen können, wie schlimm es in Brasilien momentan aussieht, weshalb alle mit Masken und nur abgezählt in die Supermärkte dürfen, wie sich das auf die Wirtschaft ausschlägt. Sie gibt schlaue Zwischenkommentare, checkt genau was los ist, dabei weiß ich, dass ich morgen all das erneut mit ihr besprechen könnte, vielleicht auch mache, weil es sie so interessiert, sie jedesmal voll dabei ist.


Die Heimleiterin rief mich gestern zu sich ins Büro, und wie aus heiterem Himmel sagte sie in einem autoritären Ton eine Aufgabe, die ich für eine Kollegin geplant hatte, ab, und lässt keine weitere Diskussion zu.

Ich hatte deswegen die Nacht schlecht geschlafen, immer wieder bin ich wachgeworden mit halbgaren Formulierungen, die ich ihr sagen oder schreiben wollte.

Aber ich darf ja nichts sagen. Sie hat mir doch den Mund verboten. Wie einem kleinen Kind.

„Keine Diskussion!“

Das war so demütigend.

Und dass sie etwas absagte, das ich geplant hatte, was ganz offensichtlich auf eine Beschwerde dieser Kollegin zurückzuführen war, suggerierte mir, dass sie mir misstraut was meine Beweggründe für diese Entscheidung gewesen sind, zumal sie mich ja nicht mal mit einbezog oder nachfragte. Das war so niederschmetternd.

Das musste ich gestern noch den restlichen Arbeitstag stillschweigend ertragen, da sie mir ja den Mund verbot.

Heute belastet mich das immer noch sehr. Ich empfinde es immer noch als eine große Respektlosigkeit mir gegenüber, und ich kann weiterhin nichts dagegen tun.

Mit der betreffenden Kollegin führte ich bei ihrem Dienstantritt ein klärendes Gespräch, wobei wir uns halbwegs darauf einigen konnten, bei zukünftigen Ereignissen solcher Art, direkt miteinander zu sprechen. Aber das ist nicht mein Hauptproblem. Ich bin mir sogar sicher, dass sie beim nächsten Mal, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt, auch wieder sofort zu einer Vorgesetzten läuft.

Schlimm ist, wie die Heimleiterin damit umgegangen ist.


Ich gehe ihr also heute so gut es geht aus dem Weg, wenn wir etwas zu besprechen haben, reagiere ich professionell, aber ich bleibe distanziert, gehe keine mit ihr rauchen.

Sie ist zwar überaus freundlich zu mir, aber das ändert nichts.

Morgen, am Feiertag, habe ich ja nur einen kurzen Dienst, ohne sie oder Kollegen, danach langes freies Wochenende, sollte das nicht ausreichen, mich zu beruhigen, muss ich sie nächste Woche darauf ansprechen, sonst krieg ich ein Magengeschwür oder muss kündigen.


Niedergedrückt beschließe ich nach Feierabend zum Trost meinen Gutschein für den Schmuckladen, den mir Sunia zum Geburtstag geschenkt hatte, einzulösen, bevor ich mich mit Tommy im Sette treffe.

Ich finde auch tatsächlich ein Paar Ohrringe mit passender Halskette, die mir sehr gefallen. Mit den drei Teilen in einer Hand stöbere ich auf dem Weg zur Kasse noch ein wenig in den Auslagen. Als ich meine Waren auf die Kassentheke lege, fehlt ein Ohrring!

Ich taste mich ab, ziehe meine Jacke aus, schüttele mich, räume meine riesige Handtasche mit all dem peinlichem Inhalt auf dem Boden aus, greife in die Ränder meine Turnschuhe, krabbel auf dem Boden, schaue unter die Vitrinen, unter der Heizung, gehe den Weg nochmal ab, untersuche nochmal die Auslagen auf den Kommoden. Nichts.

Die Verkäuferin ist genauso fassungslos wie ich, lehnt das Angebot meine Tasche auch mal zu durchsuchen ab. Ich muss aber jetzt los, bin schon viel zu lange hier, Tommy wartet.

Ratlos schaue ich die Verkäuferin an, und erkläre ihr, dass ich jetzt aber los muss, morgen ganz sicher wieder komme, vielleicht finde ich oder sie ja bis dahin den Ohrring.

„Das find ich aber nicht gut, dass Sie mich mit dem Problem hier allein lassen. Ich kann mit einem einzelnen Ohrring ja auch nichts anfangen. Wir sollten uns den Schaden wenigstens teilen!“

Ich bin zwar überrascht, aber stimme zu, überreiche ihr meinen Gutschein, und meine, dass wir das dann ja morgen verrechnen können, wenn ich wiederkomme. Dabei schau ich noch mal verzweifelt über die Auslagen und sehe dann plötzlich diesen Scheiß-Ohrring an einem anderen ausgestellten Stück hängen. Die Freude ist groß, mir aber die Lust vergangen, der Gutschein wird mir zurück gegeben, die Ohrringe und die Kette will sie mir bis morgen im Hinterraum zurücklegen.

Das tut sie allerdings nicht, denn nachdem ich mit Tommy nach unserem Treffen doch noch mal in den Laden gehe, damit er mich etwas beraten kann, hat sie die Teile wieder in den Verkaufsraum gelegt, was mich auch schon wieder verärgert.

Was ist nur mit den Leuten los? Strahle ich irgendetwas aus wie, hallo, verarscht mich doch bitte alle!

Tommy bleibt bei einem Paar Ohrringe stehen, die er sehr hübsch findet. Es sind silberne mit einem türkisfarbenen Stein. Er erzählt mir von seiner Junkie-Freundin, „also quasi deine Vorgängerin“, die immer Schmuck mit Türkisen trug, und wenn sie dann völlig high war, leuchteten ihre blauen Augen in demselben Türkis wie ihr Schmuck.

Ich bin zwar kein Junkie und habe grüne Augen, aber Silber und Türkis passen sehr gut zu meinem silbergrauem und blauem Haar, also kaufe ich sie mir. Und dazu das Paar, von dem der eine plötzlich verschwunden war. Und aus Trotz noch einiges mehr, um es der blöden Verkäuferin heimzuzahlen.


Der Tag ist aber noch längst nicht zu Ende. Ich muss mir ja noch was kochen.

Da ich mir in letzter Zeit öfter mal die Spitze meines Zopfes angesengt und verkokelt hatte, weil ich zu nah am Gasherd stand, bin ich jetzt aufgrund meiner Pechsträhne besonders vorsichtig. Nach einer Viertelstunde merke ich, dass der Spargel und die Kartoffeln gar nicht mehr kochen. Ein Blick unter die Töpfe zeigt, das kein Gas mehr kommt. Das fehlt mir gerade noch!

Die schwere Gasflasche muss ich ungefähr alle halbe Jahre wechseln, jetzt ist es dann offensichtlich soweit. Das gehört eh auch nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, auf den Thrill, der da jedesmal entsteht, wenn ich die neue Flasche anschließe, kann ich besonders heute gerne verzichten.

Aber nützt ja alles nix.


ree




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