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Mittwoch, 1. April

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 1. Apr. 2020
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Mai 2020

Wegen Corona, also damit die Leute zuhause bleiben, schenkt Candy Crash den Spielern bis 5. April täglich 24 Stunden lang unbegrenzt Leben. Ich daddel jetzt direkt ohne Ende nach dem Frühstück, und abends beim netflixen, das ist mal klar.


Heute habe ich Jubiläum. Ich habe vor genau sechs Jahren hier angefangen zu arbeiten. Aber leider interessiert das grad niemand, ich kriege weder eine goldene Uhr oder Blumen oder sonstwas. Naja, Corona halt.


Die Mama von Massimo spendet uns fast täglich immer wieder selbstgenähte Masken, die nícht nur besonders hübsch sind, sondern auch besonders praktisch, mit zwei langen Gummis, die um Hals und Kopf gespannt werden, da kann man sie immer wieder kurz runterziehen, um besser Luft zu bekommen, wenn grade keiner in der Nähe ist. Oder wenn man rauchen geht. Ausserdem hat sie in jede obere Naht, also über der Nase, einen dünnen Draht eingeführt, so dass man sie dicht andrücken kann, dann beschlägt die Brille nicht.


Mir wird ein Anruf weitergeleitet, eine Anwohnerin schlägt vor, an einem bestimmten Tag mit vier anderen Musikern, die sich draußen hinter dem Garten, in zwei Meter Abstand aufstellen würden, ein Mitsing-Konzert für unsere Bewohner zu veranstalten. Die Idee find ich toll, wir tüfteln ein wenig, wie das vonstatten gehen könnte, morgen machen wir einen verbindlichen Termin aus.


Heute übernehme ich den Einkaufsdienst, sammle Einkaufswünsche und Geld ein. Ojeh, ich sehe schon, das wird ganz schön viel.

Fahre dann mit dem Fahrrad zum größeren Rewe, der in die andere Richtung liegt.

Meine Kalkulation geht auf, tatsächlich gibt es hier keine Schlange vor der Tür, der Sicherheitsmann winkt mich direkt durch. Allerdings ist das Blöde an diesem Rewe, dass ich hier so selten bin, dass ich deren Aufteilung nicht aus dem Effeff kenne, wie bei den anderen Rewes, die ich üblicherweise frequentiere, und für jeden Quark, jeden Eistee, jeden Wurstbelag, jede Schokolade kreuz und quer cruisen muss, bis ich alles beisammen habe. Meine Güte, das nervt vielleicht.

Mir sind zwei drei Leute mit Klopapier in ihren Einkaufswägen begegnet. Aber bei den Duschgels, Pampers und anderen Hygieneartikeln finde ich nichts. Also keine leeren Regale, sondern gar nichts.

Den nächsten mit Klopapier quatsche ich an, wo haben Sie das denn her?

„Da hinten ist so ein Raum, bei der Tiernahrung. Aber da ist es doch schon immer!“

„Oh, danke!“

Woher soll ich das denn wissen, Du Honk.

Tatsächlich, ein angeschlossener kleiner Raum hat mittig, zwischen all den Produkten für die lieben Haustiere, zwei Türme aufgebaut: einen mit Küchenrollen, einen mit KLOPAPIER.

Wahnsinn, dass einen dieser Anblick mal so in Verzückung geraten lässt.

Sie sind beide schon abgegrast, aber immer noch sind beide Artikel massig vorhanden.

Ich schnapp mir zwei Pakete, eins für mich, eins für einen Kollegen, der mich vor meinem Einkauf verzweifelt, aber scherzhaft fragte, da ihm die Absurdität seiner Bitte völlig klar war, ob ich ihm Klopapier mitbringen könne. Der wird Augen machen!

Als ich meinen beladenen Wagen nach Einkaufslisten aufs Band sortiere, immer schön so einen Trenner dazwischen, und ich den Abstand genieße, der jetzt Vorschrift ist, und ich in Ruhe, ohne Herzrasen und Schweiß auf der Stirn, wie sonst, wenn ich diese einzelnen Einkäufe in Supermärkten für meine Bewohner tätigte, und die genervten ungeduldigen Leute hinter mir stöhnen hörte, bemerke ich einen älteren Herrn, der sich trotzdem mokiert. Er vermutet einer Hamsterkäuferin auf die Schliche gekommen zu sein. Die ganze Zeit brabbelt er, obwohl er sehen müsste, dass ich zwischendurch immer wieder bezahle.

Eine Verkäuferin kommt von rechts und meint, sie müsste klären, ob ich zwei Pakete Klopapier haben dürfe, weil man nur eins kaufen darf. Aber sie sieht, dass ich mehrere Einkäufe erledige, mittlerweile gibt es ja auch häufiger diese Nachbarschaftshilfen, die für ältere Leute einkaufen gehen, der Anblick ist also inzwischen selbsterklärend, so geht sie nickend wieder. Nicht jedoch der ältere Herr, der jetzt lauter schimpft.

„Das kann man doch gar nicht alles fressen! Klopapier ist ja auch sehr nahrhaft. Unglaublich!“

Als ich meine letzte Rechnung beglichen habe, und die drei großen Taschen vollgepackt, die Klopapierpakete unterm Arm verstaut sind, drehe ich mich zu ihm um und versuche durch meine Atemmaske hindurch so deutlich wie möglich zu sprechen:

„Ich kaufe für viele verschiedene Senioren ein, die jetzt vernünftigerweise zuhause bleiben!“

„Ach, sieh an, da habe ich wohl mal jemand falsch eingeschätzt!“

Draussen verstaue ich alles im Fahrradkorb und behänge den Lenker, so kann ich meinen Packesel schieben, brauche nichts zu schleppen.

Okay, das Klopapier war jetzt nicht für die Bewohner, aber das spielt keine Rolle. Die Freude über den Fund, über das nahende Ende dieser kompletten Einkaufschose, ist ein wenig gewichen, weil mich der Alte so aufgeregt hat.

Aber gut, ich muss das jetzt nur noch ins Heim bugsieren, die Einkaufe verteilen und die Abrechnungen machen, dann hab ich den Scheiß hinter mir.

Der Mann kommt raus und stellt sich neben mich:

„Ist ja sowieso alles Quatsch. Ich bin 80 Jahre alt, wenn ich jetzt sterben sollte, dann ist das halt so. Dieser ganze Zinnober!“

„Aber Sie könnten auch noch andere anstecken, vielleicht jüngere, Vorerkrankte, die noch nicht sterben wollen, und an Corona zu sterben, langsam zu ersticken, ist bestimmt kein angenehmer Tod.“

„Na, dann sterbe ich halt an einem Herzanfall.“

„Na dann, viel Glück!“


Gotte sei Dank macht den ganzen Tag keiner einen doofen Aprilscherz.

Selbst Tommy, den ich vorm Hörnchen zum Cappuccino treffe, der nachts noch eine scheinbar witzige Idee für einen Aprilscherz gehabt hatte, wegen seiner Schlaflosigkeit auch noch schriftlich verfasst hat, merkt am Morgen, dass das alles irgendwie nicht witzig ist.

Die Sonne scheint. Die Frau vom Hörnchen nennt mich "Schatz".

Tommy und ich sitzen auf der Fensterbank, als ich aufstehe und mich in zwei Meter Entfernung vor ihn stelle, bemerke ich am Fenster einen Zettel direkt neben ihm: „Keine Sitzmöglichkeit erlaubt!“

Das fotografiere ich sofort und schicke es ihm. Hach, werden das mal alles lustige Erinnerungen sein.


So wie ich mein Leben in „vor der Geburt meiner Kinder“ und „nachher“ unterteile, oder „vor dem Mauerfall“ , "vor Internet" und „nachher“, werden wir alle zusätzlich noch neue Zeiteinteilungen haben. Vor Corona, während Corona, und nach Corona.



Statistik 22:30 Uhr

77.558 Infizierte 891 Todesfälle


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