Freitag, 9. Oktober
- Mai Buko
- 9. Okt. 2020
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Nov. 2020
Frau Z. hat am Unterarm eine Hautstelle, die ist ganz dünn, das haben viele alte Menschen und man nennt das Pergamenthaut. Darunter konnte man ein Hämatom sehen. Beim Ankleiden von Frau Z. ist dann passiert, was häufig in solchen Fällen passiert, die Haut reißt, und dann blutet es wie verrückt. Frau Z. dreht direkt komplett durch, schreit um Hilfe, das höre ich, als ich mich noch etwas entfernt mit einer anderen Bewohnerin unterhalte, und laufe zu ihr ins Zimmer. Sie wehrt sich gegen die Versuche der Pflegerin, ihren Arm zu verbinden, schreit weiterhin um Hilfe und „Mörderin!“ und schlägt um sich. Die Pflegerin hat von den Schlägen und Kratzern schon rote Striemen am Hals, als ich Frau Z.
versuche zu beruhigen. Obwohl ich ihr "Liebchen" und eine enge Vertraute bin, lässt sie sich von mir erst nicht die Hände halten. Dann weint sie und erzählt mir, dass diese furchtbare Person schon damals so schlimm zu ihr war, bei der Evakuierung. Sie erzählt von der Familie auf dem Hof, auf dem sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern untergekommen war, und den Töchtern dort, und diese eine, mit der sie nun die Pflegerin verwechselt. Die wiederum arbeitet sich nun von der Seite an sie ran, also nicht in dem Blickfeld von Frau Z., die sich mir zugewandt hat und weinend in ihren Erinnerungen stecken geblieben ist. Ich tröste und streichle sie, während die Pflegerin die Blutung stoppt, und den Arm verbindet. Anschließend nehme ich sie mit und verlasse die gewohnte Umgebung und begebe mich mit ihr ins Erdgeschoss. Sie ist weiterhin kaum zu beruhigen und besteht darauf, dass sie umgebracht werden sollte, und heute Nacht dasselbe Luder das auch schon versucht habe. Und immer wieder das Eintauchen in ihre Zeit der Evakuierung und ihre offenbar schlimmen Erlebnissen dort. Ich tröste sie so gut ich kann, umarme sie, lasse sie an meiner Schulter weinen, streiche ihr über den Kopf, bis sie ein wenig ruhiger wird. Dann endlich kann ich sie ablenken, ganz andere Themen aufbringen, zeige ihr die immer noch bunt und prächtig blühenden Blumenkästen, die ich vor dem Sommer dort gepflanzt habe. Das ist wirklich für jeden beeindruckend, wie geradezu grell die Petunien, Wandelröschen und Fuchsia da immer noch leuchten. Nach einer Zeit erzählt sie selbst von Blumen, kann auch wieder lächeln, also bringe ich sie wieder auf ihren Wohnbereich, schiebe sie an ihren Tischplatz, denn gleich gibt es Essen.
Vorher hatte ich ein Gruppenangebot: Wellness. Das läuft mittlerweile nur noch darauf hinaus, dass sich bestimmte Damen die Fingernägel lackieren lassen möchten. Glitzerndes Pastellrosa ist seit Wochen der Renner. Am Nachmittag mache ich noch ein weiteres Gruppenangebot, weil Alma, die eigentlich für dieses Angebot vorgesehen ist, nicht kommen kann, da die KVB streikt, und sie ihren Dienst wann anders machen wird. Ich mache dann Gedächtnistraining, und zwar in Form von dem allseits bekannten Stadt, Land, Fluss-Spiel. Auf eine große Flipchart habe ich Überbegriffe geschrieben, tatsächlich als erstes Stadt und Land, aber Fluss habe ich schon vor Jahren gestrichen, da versagen zu viele, das ist frustrierend, und frustrieren wollen wir ja niemanden. Ich habe dann heute „Pflanze“, „Promi“, „das mag ich gerne“, „Tier“, „Beruf“, „Kölner Strassennamen“, „das packe ich in den Koffer, wenn ich in Urlaub fahre“, „das ist ein tolles Geschenk“, oder „was ist rund“ geschrieben. Ich variiere die Begriffe, je nachdem wer mitmacht, dann kann auch schon mal „Krankheit“, „Schimpfwort“, „Todesart“ oder „Mordinstrument“ vorkommen. Ich mach das ja schon seit Jahren, und auch wenn es für fast alle jedesmal neu ist und ich die Regeln immer wieder erklären muss, soll es mir ja auch nicht langweilig dabei werden. Der Klassiker ist jedesmal die Rubrik „was ist rund“, bei der alle sofort „Ball“ rufen, völlig egal, welcher Buchstabe gerade dran ist.
Tommy erklärt mir, dass er sich um 17 Uhr auf ein Getränk mit einem Freund trifft, also sage ich ihm, dass ich nach Feierabend dann halt noch etwas einkaufen werde und mich melde, worauf er wieder antwortet, dass es nur ein Quickie mit dem Freund sei. Klappt also.
Als ich mit allem fertig bin, schick ich ihm gegen 18 Uhr eine Nachricht, aber er reagiert nicht. Ich schicke ihm noch drei weitere, als ich vorm Forum sitze und als er auf keine in der nächsten Dreiviertel Stunde reagiert, gehe ich beleidigt nachhause. Da kommt endlich eine Antwort: „Ist doch ein längeres Date geworden“.
Da bin ich noch beleidigter und antworte nicht. Ich weiß, dass ich kein Anrecht auf ihn habe, mir ist auch klar, dass er sich nicht mit seinen Verabredungen nach meinem kleinen Zeitfenster richten muss, und auch dass beleidigt sein deswegen bescheuert ist, aber ich bin es, fühle mich verletzt, hinten angestellt, nicht so wichtig undsoweiter, und das Schlimme ist, dass ich ihm deswegen jetzt noch nichtmal Vorwürfe machen kann. Also schmolle ich für mich alleine zuhause und widme mich den üblen Nachrichten um die Entwicklung der Coronazahlen. In Deutschland gibt es heute an einem Tag 4000 neue Infektionen, in Köln 606, das ist eine Inzidenzzahl von 49,8. Alles klar, ab 50 werden die Maßnahmen verschärft. Wird dann morgen wohl soweit sein. Soll mir recht sein. Diese ganzen Idioten, die sich so verhalten als wäre Corona vorbei, keine Maske tragen oder unter der Nase oder am Kinn, die sich in Horden treffen und keinen Abstand halten.
Heute mache ich extra Frühdienst, und die letzten beiden Tage hatte ich ein paar Überstunden gemacht, sodass ich deswegen heute früher gehen kann.
Heute ist nämlich der große Tag, ich hab zum Essen eingeladen und muss noch viel vorbereiten, vor allem aufräumen und putzen.
Marie und ich planen das seit einer Woche. Marie hatte Lust, ein bestimmtes neuenglisches, richtig altes Rezept nachzukochen, da aber alle ihre Freundinnen Veganer oder mindestens Vegetarier sind, und in dem Gericht sowohl Muscheln als auch Speck vorkommen, konnte sie niemand dazu einladen, und man braucht aufgrund der Menge mindestens 6 Personen. Deshalb schlug ich vor, dass sie bei mir für mich und meine Freunde kocht, also Tommy, Meret und Gregor, Martin und Münti, dann sind wir zwar zu siebt, das wird auch knapp am Tisch, aber es geht noch, und es ist noch nicht so kalt, dass ich immer wieder lüften kann.
Münti und Martin haben schon direkt vor einer Woche, als ich die Einladung rumschickte, abgesagt. Tommy legte sich eine zeitlang nicht fest, und sagte dann Mittwoch ab.
Ich hatte schon versucht ersatzweise Melodie und ihren Martin einzuladen, aber die konnten auch nicht. Blieben als nur noch wir 4. Egal, Marie und ich hatten Bock, waren sogar ganz aufgeregt. Sie, weil es ein völlig neues und riskantes Gericht war, und ich, weil es die erste Einladung seit Corona, also seit mehr als einem halben Jahr war, und ich es schön machen wollte. Gestern hatte ich schon die Sachen für die Vorspeise gekauft, frische Johannisbeeren für den Nachtisch und schöne Blumen für die Tischdeko. Heute morgen hatte ich einen Cremant kaltgestellt, weil Meret und Gregor den so gern trinken.
Auf der Arbeit war dann wieder ein heilloses Durcheinander, improvisieren war angesagt, ein wenig Hektik, und zwischendurch kommt eine Nachricht von Meret, ob es sich bei dem Gericht zufällig um Eintopf oder Fischsuppe handeln würde, das möge sie nämlich nicht.
Ich antworte noch leicht amüsiert, dass es sich genau um so etwas handeln wird, weil ich davon ausgehe, dass sie einen Scherz macht, um mich zu ärgern. Dann purzeln die Nachrichten nur so hintereinander rein, ich kann mich erst nicht damit befassen, weil es auf der Arbeit wieder drunter und drüber geht, aber in einem ruhigen Moment lese ich all diese Nachrichten, in denen sie erklärt, dass sie sich echt ekle davor, ob ich nicht lieber dann jemand anders einladen möchte, ich soll bitte nicht böse sein.
Mir steigen sofort die Tränen in die Augen, vor Enttäuschung und Ärger, wieso macht sie sowas? Sie könnte doch einfach dann nicht davon essen, wenn es wirklich so eklig ist, ich war ja auch bis zum Schluss skeptisch, was das Menu anging, wollte aber Marie nicht den Spaß verderben, ausserdem gab es ja noch eine Vorspeise und ich hätte auch sonst noch was hervor gezaubert, wenn es denn dermaßen undenkbar gewesen wäre, es wenigstens mal zu versuchen. Es ging doch um viel mehr, als nur um diese Speise, ich wollte einen schönen Abend für uns gestalten. Wie gemein, wie herzlos! Und hätte sie das nicht gestern oder an all den anderen Tagen, an denen wir diese Woche über das Essen sprachen, ansprechen können?
Jetzt waren die 2 Kilo Muscheln vorbestellt. Ach herrje, ich musste schnell Marie informieren, bevor sie losgeht und den ganzen Rest auf dem Biomarkt kaufen geht. Als sie das hörte, fing sie zu weinen an, was bei mir auch wieder zu Tränen führte. Ich antwortete Meret schnell, dass wir das Ganze abblasen und ich halt jetzt versuche, den Schaden in Grenzen zu halten und mich um die Venusmuscheln kümmern muss. Darauf folgten wieder ein paar Nachrichten, „Nu bist du doch sauer“.
Ja, na klar, was denkt sie denn bloß?
Und Vorschläge, wer uns die Menge Muscheln abnehmen könnte.
Marie und ich trafen uns nach meinem Feierabend, um die vorbestellten Muscheln abzuholen. Die nette Fischverkäuferin war damit einverstanden, dass wir nur noch 1 Kilo abnahmen. Danach tranken wir einen Kaffee im Sette und waren sowas von demotiviert, an kochen mochte keiner von uns mehr denken. Das war gelaufen. Wir verabredeten uns für morgen, da wollten wir uns dann aus den Muscheln eine Vongole machen. Aber jetzt nur noch seine Ruhe haben, nachhause gehen, ins Bett legen.
Auf dem Heimweg kommt mir die Absage von Tommy und sein Treffen mit dem Freund gestern noch mal in den Sinn, zusammen mit der Absage von Meret heute fühle ich mich grad total ungeliebt, unbedeutend, verlassen, allein. Ich bin tieftraurig, pessimistisch, und die Schmerzen an allen Knochen verstärken meine Unlust an diesem Leben, meine Güte, soll das jetzt alles so weitergehen?
Zuhause fängt gerade rechtzeitig der Schlagzeugunterricht in der Schule unter mir an. So Horror jedesmal, heute aber besonders nervend. Immer der gleiche Beat, den die üben:
dumm-dumm, dumm
dumm-dumm, dumm
pata pata peng

Comentários