Freitag, 8. Mai
- Mai Buko
- 8. Mai 2020
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Mai 2020
Heute hab ich Frühdienst, radel quietschfidel durch die Sonne zur Arbeit. Kommt bestimmt vom Yoga gestern. Hab auch gar nicht so schlimm Muskelkater wie befürchtet.
Kaum bin ich im Büro, trage gerade meine Temperatur in die Liste des Gesundheitsamtes ein, werde ich von allen Seiten vollgequatscht. Herbert möchte etwas im Dienstplan für Juni geändert haben. Das gestaltet sich etwas schwierig. Nagut, dann springe ich halt an einem Samstagsdienst für ihn ein. Kollegin Feist möchte, dass ich mit einer Bewohnerin Videotelefonie mache, weil sie bei ihrem Smartphone nicht weiß wie das geht. Anouk fragt nach, ob ich gleich mal bei Frau W. vorbeischauen kann, sie braucht Hilfe beim Verfassen einer Trauerkarte.
Adele hat frei, und Massimo heute seinen letzten Tag im Mai, da er ab Montag eine Woche an einem Online-Seminar teilnehmen muss, und anschließend zwei Wochen Urlaub hat.
Ich habe ab dem 18. Mai Urlaub, also genau ab meinem Geburtstag. Normalerweise würde ich dann in Rom ankommen, mit Melodie. Wir würden dann in die Altstadt in unsere Luxus Ferienwohnung gehen und am Piazza einen Espresso trinken oder gleich mit Rotwein anfangen. Wäre bestimmt sehr schön gewesen.
Frau B. hat eine Antwort auf ihre Antwort bekommen, die lese ich ihr nun vor. Sie beginnt sofort wieder zu erzählen, unterbricht sich aber dauernd selbst, und meint dann, dass sie aufgrund ihrer Schmerzen gar nicht wirklich antworten kann, sie schlägt vor, dass sie mit der Brieffreundin lieber telefonieren möchte. Das formuliere ich dann so in dem Antwortschreiben, muss ich nur später wieder in schön schreiben.
Es findet eine Fallbesprechung statt, der Zustand von Frau M., die nun 4 Wochen bei uns ist, wird besprochen. Wie üblich setzen sich der Pflegeleiter, die diensthabenden Pfleger und jemand vom sozialen Dienst, heute ich, in den Besprechungsraum und beraten, wie es aussieht, was man machen kann. Frau M. zieht sich zurück, möchte nur auf ihrem Zimmer bleiben, lehnt Kontakte zu Mitbewohnern ab, nimmt auch ihre Mahlzeiten auf ihrem Zimmer ein, die wiederum lehnt sie größtenteils ab, höchstens Suppe, Yoghurts und Shakes nimmt sie zu sich. Auch hygienische Maßnahmen lehnt sie ab, will sich selbst kümmern. Sie hat Lungenkrebs, ist abgemagert und wirkt unglücklich.
Die Pflege bietet weiterhin Unterstützung bei Waschungen an, stellt selber Milchshakes oder Kompotte her, Suppen werden für sie vom Mittag auch für abends verwahrt, hochkalorisches Pulver wird beigefügt, Trinkprotokolle angelegt, ein Neurologe soll hinzugenommen werden, der beurteilen soll, ob ein Antidepressivum sinnvoll wäre, wir von der sozialen Begleitung sollen versuchen tieferen Kontakt zu ihr herzustellen, Interessen und Vorlieben aus ihr rauskitzeln, versuchen zu verstehen aus welchen Gründen sie Nahrung und Kontakte ablehnt.
Das versuche ich dann zwei Stunden später. Mit dem Vorwand, ein Brief für sie wäre angekommen, erkläre ich ihr zunächst einmal die „Stift und Papier-Aktion“.
Wenn ich einfach nur gesagt hätte, ich wollte mich nach ihr erkundigen, hätte sie mich höflich schnell abgefertigt. So hört sie sich höflich den Brief an, und siehe da, nach und nach kommen ihre ersten Kommentare.
Sie habe früher gern gekocht. Da hake ich ein, was sie denn gern gegessen habe, sie würde ja jetzt kaum was essen, ob man ihr nicht eine Freude machen könnte, mit einem Lieblingsgericht. Zuerst meint sie, dass sie aufgrund ihrer schlecht sitzenden Prothese nicht mehr essen könne, das kennen wir, das ist ihr Hauptargument um uns abzuwimmeln. Das Anpassen ihrer Prothese durch einen Zahnarzt lehnt sie auch ab.
Dann erklärt sie mir, dass sie aber sowieso überhaupt keinen Appetit mehr habe, es wäre alles nur noch schrecklich, sie habe keine Lust, dass sich die Mitbewohner im Gruppenraum das Maul darüber zerreissen, dass sie Lungenkrebs habe, es gehe niemanden was an, das wäre ihr Leid, damit müsse nur sie allein klarkommen.
Die Trauer über den Verlust ihrer Tochter, die Krebserkrankung ihres Sohnes, das Aufgeben ihrer Wohnung, die Aussicht auf den kurzen Rest ihres Lebens, alles purzelt aus ihr raus, ihre Beweggründe sind so nachvollziehbar, sie hat einfach keinen Bock mehr. Dass sie, wenn sie nachts oft lange wachliegt, nur hofft, dass sie bald für immer einschläft.
Es vermischen sich zwar durch ihre beginnende Demenz Wahrheiten mit verwirrten Wahrnehmungen, aber der Grundtenor ist klar und so dokumentiere ich dieses Gespräch später, damit den anderen Kollegen diese Info zur Verfügung steht. Ein Interesse habe ich ihr noch entlocken können, sie höre gern Andy Borg und habe manchmal zu Hause dazu getanzt, damit sie nicht umkippt, habe sie sich am Sessel dazu festgehalten. Ich verspreche ihr, dass ich Andy Borg Musik besorge und bald mit ihr tanzen würde. Da lacht sie.
Auf dem Parkplatz kleben Anouk und die Heimleitung mit Gaffa-Tape Markierungen auf den Boden, damit die Angehörigen wissen, wo sie sich hinstellen können und wo die Bewohner hinkommen. Das sieht bescheuert aus.
Erschöpft lassen sich Tommy und ich auf der Treppe vor der Bottmühle nieder, er hat mir Erdbeeren mitgebracht.
Mitten in der Plauderei zanken wir uns plötzlich. Es wird immer heftiger, auch laut und atemlos, wir finden keine Lösung. Es geht nicht mal darum, dass wir verschiedener Ansicht über etwas sind, sondern dass wir anscheinend nonstop aneinander vorbeireden.
Nach dem „Vier Ohren Prinzip“ von Schulz von Thun, verwechseln unsere Ohren offenbar die Botschaften, wir fühlen uns jeweils missverstanden oder angegriffen, und poltern los.
Was auch immer, ich bezeichne ihn als Snob, er nennt mich eine selbstgerechte Besserwisserin. Wir sind beide ziemlich wütend.
Selbst als wir unseren Streit auf der Metaebene nachbesprechen, bringt das nichts, weil wir auch da offenbar aneinander vorbei reden. Wir schweigen dann resigniert ein paar Momente, bis ich bitte das Thema zu wechseln, er stimmt zu, auf diese Weise beruhigen wir uns wieder, so dass wir am Ende wie versöhnt auseinandergehen können.
Statistik, 23:00 Uhr
170.489 Infizierte 7.468 Todesfälle 141.938 wieder gesund

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