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Freitag, 8. April 2022

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 8. Apr. 2022
  • 11 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 9. Mai 2022

Heute, in der Muckibude der Reha-Klinik, ich auf dem Ergometer, entdecke endlich einen Mann, den ich nicht ganz so abstoßend finde. Die ganzen guten Ratschläge meiner Freunde liefen im Vorfeld darauf hinaus: schaff dir auf jeden Fall einen Kurschatten an!!!

Das setzt mich schon von Anfang unter Druck.

Ich kann hier keinen anschauen ohne ihn auf Kurschatten Qualitäten zu scannen.

Welche genau das sein sollen, bin ich mir auch noch nicht so recht im Klaren.

Rein optisch werde ich für gewöhnlich ja nur von den Extremen abgeschreckt: ganz dünn oder ganz dick, langhaarig oder glatzköpfig, wunderschön oder potthäßlich...

Innere Werte adhoc zu erkennen, fällt mir schwer.

Kichern, grinsen, prusten, lachen, das könnte ein Zeichen für Humor sein, und das reicht mir auch schon als Sympathie-Einstieg. Aber hier noch nicht wirklich erlebt.

Durch die Masken kann man ja meist nicht viel von der Mimik erkennen. Der Typ zum Beispiel, der mir beim Essen schräg gegenüber sitzt, und beim Essen dürfen wir natürlich die Masken abnehmen, macht andauernd abwertende Bemerkungen, über das Essen, über die Anwendungen, über den Wind, über den Regen, über die Uhrzeit, über seine schwere Jacke, in einem fort am motzen, seine nach unten gezogenen Mundwinkel sind schon in sein Gesicht eingemeißelt. Absoluter No-Go Typ.

Sobald er die Maske aufsetzt und sich freundlich verabschiedet, seine Augen zu lächelnden Schlitzen werden, kann man nicht mal mehr ahnen was für eine Miesmuschel er ist.

Hier sind in meinen Augen alle sehr unattraktiv, mal passt mir der Jogginganzug nicht, mal der hier überall anwesende Rucksack (ich hab mir glatt auch einen über Amazon hierher bestellt, weil man andauernd irgendetwas mitschleppen muss, aber man hat ja wegen der Krücken keine Hand frei, und Beutel soll man aufgrund der Sturzgefahr nicht an die Krücken hängen), mal lacht er über bescheuerte Witze, die der Therapeut wahrscheinlich zum millionsten mal erzählt, mal macht er selber „lustige“ Kommentare, mal will er einfach nur Anführer sein und erklärt uns anderen Schafen, wo wir jetzt lang müssen, oder was noch geht oder was nicht, mal sieht er einfach so eingeschüchtert aus, dass einem seine Angst sofort abstösst. Ich weiß, mir kann man es einfach nicht recht machen.

Das ist ja im echten Leben auch schon so.

Wie schlimm die Klientel, die mir mal auf meinem kurzen Tinder-Erfahrungstrip angeboten wurde, im Prinzip ist hier das gesamte Panoptikum erneut vertreten.

Nun aber im Fitnessraum diese zumindest nicht abschreckende Gestalt auf dem Laufband. Nicht überheblich, nicht ängstlich, wirkt selbstsicher, Style ist okay, er läuft in einem schlichten blauen Sportanzug lässig auf dem Laufband, Blick gelangweilt geradeaus.

Prima.

Tja, er erinnert mich leicht an Paul McCartney, ausgerechnet, der einzige Beatle, den ich nicht so mochte. Aber was soll's.

Ich kann ihn eh nicht genau sehen, er befindet sich rechts hinter mir, ich müsste mich oft wenden, was ich a) wegen der Hüfte nicht tun soll, und b) das auch noch bescheuert stalkermäßig aussähe. Ausserdem muss ich mich auf mein Getrampel hier konzentrieren, muss 15 Minuten ohne Unterbrechung schaffen, es tut manchmal weh, und ich gerate tatsächlich vor Anstrengung ins Schwitzen. Dabei muss ich täglich nur ein Viertelstündchen radeln. Krass, wie mich das anstrengt, und krass wie meine Nacken-, Schläfen- und Stirnhaare schon feucht sind.

Hab ich jetzt schon wieder ein neues Lebens-Level erreicht, indem ich jetzt plötzlich wegen jedem Scheiß schwitze, oder habe ich mich in meinem Leben noch nie so angestrengt, dass ich ins Schwitzen geriet?

Wenn ich ehrlich bin, ist es tatsächlich eher so, dass ich es stets vermied in Schweiß auszubrechen.

Manchmal war es nicht zu verhindern, beim Yoga etwa, oder auf der Arbeit. Und natürlich mein erster großer nicht enden wollender Schweißausbruch des Lebens: die Geburt von David.

Aber hier sind jetzt neue Dimensionen, ich schwitze täglich, und zwar ziemlich schnell, es ist aber auch verflixt anstrengend alles.

Mich hat halt ein Ehrgeiz gepackt, so schnell wie möglich aus dieser Scheiße wieder heraus zu kommen, so schnell wie möglich wieder ein normales Leben zu führen, autonom und ohne Schmerzen, so dass ich gar nicht auf die Idee kam zu pfuschen, wie sonst immer in meinem Leben, mich nur dann besonders anzustrengen wenn die Ballettlehrerin oder die Yogameisterin genau hinschaut. Hier mache ich alles nach Ansage, auch wenn der Therapeut nicht guckt, ich schleppe mich tatsächlich umständlich mit den Krücken durchs Treppenhaus, anstatt jedesmal den Aufzug zu benutzen, und ich mache sogar Übungen allein auf dem Zimmer. Ich übe, übe, übe.

„Practise, practise, practise“ so der Sinnspruch auf den T-Shirts meines Yogastudios, über den ich immer grinsen musste. Hahaha, ihr Streber!

Jetzt bin ich selber eine Streberin.

Auch eine neue Erfahrung.

Früher, wenn ich so Berichte über Menschen im Fernsehen sah, die plötzlich durch ein Unglück gelähmt waren, und dann unter Mordsanstrengungen und offensichtlichen Schmerzen über sich hinauswuchsen und entweder lernten mit ihren Prothesen zu laufen, oder am Ende im Rollstuhl-Handball-Verein voll viel Spaß hatten, und aktiver am Leben teilnahmen als ich jemals ohne Lähmung, dachte ich, ich wäre nicht so, ich würde wahrscheinlich aufgeben, mich meinem Schicksal ergeben, ich würde dann halt vermutlich weinend den Rest meiner Tage im Rollstuhl verbringen. Jetzt weiß ich, entweder würde ich auch in irgend so einem Sportverein landen, oder zumindest sämtliche Ideen zur Verbesserung der Lage entwickeln und versuchen umzusetzen. Denn aktuell habe ich wirklich das Gefühl ich wachse über mich hinaus.

Was für ein merkwürdiger Spruch, fällt mir gerade auf. Hinauswachsen. Über sich.

Auch hier habe ich schon spannende Ideen wie man die Lage etwas verbessern könnte.

Zum Beispiel wie sie das Risiko, dass man sich hier gegenseitig mit Corona ansteckt, minimieren könnte, ohne die Grundrechte zu verletzen. Aber das lass ich (noch) sein. Will mich ja nicht direkt in der ersten Woche unbeliebt machen.

Auch das ist anstrengend. Sich nicht unbeliebt machen, mit meinem Besserwisser-Drive.

Ich habe der Schwester, die mir die Thrombose-Spritze ohne eine Bauchfalte in der Hand zu halten reinjagen wollte, zwar noch gebeten, dass wenigstens ich dann meine Bauchfalte festhalte, aber als sie die Spritzte drin hatte und sie mich dann aufforderte, die Falte loszulassen, damit sie nun das Zeug da rein spritzen kann, und man ja „nicht in eine Falte injizieren darf, das könnte sich stauen“, widersprach ich gezwungenermaßen auch nicht, obwohl mir auf den Lippen lag:

„Ich will Ihr Weltbild als Krankenschwester jetzt nicht ins Wanken bringen, aber das stimmt nicht, im Gegenteil, man soll die Bauchfalte auch während der Injektion festhalten, so stand es in der Betriebsanleitung der Spritzen, die ich für meine Zeit zu Hause hatte, so verfuhren die Schwestern im Krankenhaus, und auch all Ihre Kolleginnen halten die Bauchfalte fest! Man kann das auch googeln!“

Natürlich können einem fast alle hier leid tun, die hier gelandet sind. Hier in dieser Klinik sind hauptsächlich Patienten mit einem künstlichen Hüft- oder Knie-Gelenk, oder Krebspatienten nach Bestrahlung oder Chemo. Die mit den künstlichen Gelenken (TEP) haben schon mal Gruppenanwendungen gemeinsam. Wie Gangschulung draupen auf dem Gelände, oder Krankengymnastik in der Turnhalle. Mit den Krebspatienten haben wir weniger Kontakt.

Aber man erkennt sie. Sie laufen ohne Krücken oder Rollatoren, und haben Beanies auf dem Kopf. Die Frauen jedenfalls. Eine sitzt bei den Mahlzeiten neben mir, aber von der erzähle ich vielleicht später mal. Das muss ich erst noch innerlich abklären, ob ich es karmamäßig vertreten kann, so über jemand abzulästern, der wirklich schrecklich an Krebs erkrankt war. Oder noch ist? Kommt man als weiterhin vom Tod Bedrohter noch in Reha?

Diese Frau, sag ich mal ganz neutral, treibt mich jetzt schon in den Wahnsinn.


Ich arbeite ansonsten daran, dass mich alle relevanten Leute hier lieben. Die vom Empfang, die Schwestern sowieso, alle Therapeuten und alle Leute, die mit dem Essen hier zu tun haben.

Das ist reiner Überlebenswille und Opportunismus, ich möchte, dass mir alle gut gesonnen sind, wenn ich extra Wünsche habe.

Und wer mich kennt, weiß dass ich immer irgendwelche Extrawünsche habe.

„Nein, bitte keine Tabletten, ich kann die dicken Brummer nicht schlucken. Ja, Schmerzmittel gerne als Tropfen und gegen die Thrombose lieber Spritzen!“

„Ach, könnten Sie mir bitte zwei Extrakissen bringen, die könnte ich mir als Seitenschläferkissen umbauen.“

„Ach, wie dumm, das hat leider gestern nacht gar nicht geklappt mit den Kissen, könnten Sie mir bitte eine Schlafdecke bringen, die würde ich dann rollen, und das könnte vielleicht funktionieren, damit ich auf der linken Seite schlafen kann, ohne dass meine operierte Hüfte belastet wird.“

„Entschuldigung, könnten Sie mal schauen, Sie haben eben ein Paket mit einem kleinen Seitenschläferkissen für mich erhalten, das wurde mir gerade per Mail mitgeteilt. Nein, Sie haben mir noch keine Benachrichtigung ins Fach gelegt, können Sie es mir bitte trotzdem schon aushändigen?“

„Verzeihung, können Sie mir bitte die doppelte Menge Orangensaft bringen, ich muss soviel trinken, weil ich Flohsamenschalen einnehme.“

„Lieber Herr Therapeut, ich habe da eine riesige Flasche Voltaren-Schmerzgel auf Ihrem Tisch gesehen, dürfte ich da vielleicht ein ganz klein bisschen von haben?“


Herrjeh, ich krieg ja schon beim Lesen das Kotzen.

Aber ich sag sowas dann supersweet, lächele unter meiner Maske, bedanke mich überschwänglich. Hab auch schon überlegt ob ich Trinkgeld hier und da springen lasse. Aber wieviel gibt man da?

5 oder 10 Euro? Und dann heimlich in die Hand drücken? Das sehen doch alle. Es gibt hier kein heimlich.

Ausserdem blick ich noch gar nicht durch, hab bis jetzt bestimmt mit 20 verschiedenen Leuten zu tun gehabt, vielleicht geb ich aus Versehen jemand doppelt Trinkgeld, und einem anderen nichts.

Allein die Jungs und Mädchen, die einem abends helfen das Abendbrot zusammen zu stellen und es an den Tisch bringen, diese Superhasen, die bestimmt ihr Taschengeld nach der Schule hier durch diesen Mini-Job aufbessern, das sind schon bestimmt 6 Personen, und alle so umwerfend hübsch und liebenswürdig. Tommy würde in Ohnmacht fallen. Er würde garantiert eine Behinderung vortäuschen nur um von diesen bezaubernden Engelchen bedient zu werden.

Überhaupt sind alle relevanten Angestellten hier nicht älter als mein Zahnarzt zuhause. Also 12. Sämtliche Therapeuten, Verwaltungsangestellte, Schwestern und Pfleger sind reine Zwölfjährige.

Sehr attraktiv, dynamisch, gut gestylt, lächelnd, freundlich, gebildet.

Pfleger Sebastian sticht selbst von denen noch mal heraus. Er ist im ganzen Haus beliebt, wenn er kommt schauen alle ganz verzückt, machen flirty Bemerkungen, er lacht oder lächelt andauernd, macht Scherze, je nach Geschlecht eher derb und macho oder charmant und lovely und versprüht eine enorme Lebenslust.

Er ist bis zum Hals tätowiert, trägt über seinem Undercut einen dunkelhaarigen Dutt, in der vorgeschriebenen komplett weißen Arbeitskleidung wirkt er übernatürlich rein, kompetent und engelhaft. Wüchsen ihm hinten Flügel aus den Schulterblättern, kein Mensch würde sich wundern.

Am Tag meiner Ankunft sind wir uns ungefähr viermal an unterschiedlichen Orten im Haus begegnet, jedesmal zwitscherte er mir auffallend fröhlich ein langgezogenes „Hi!“ entgegen.

Mich davon geschmeichelt zu fühlen hielt gerade mal bis zum nächsten Tag, da er mich einerseits nicht wirklich wieder erkannte, als ich mich bei ihm erkundigte, wann denn die Wasserkästen so immer geliefert würden, und andererseits hatte ich da schon beobachten können, dass er so ziemlich alle Menschen mit seinem verbindlich strahlendem Blick so herzlich grüßte.

Es gibt so Menschen, das ist wirklich ein Phänomen. Wenn diese Art Mensch dir etwas Aufmerksamkeit schenkt, dann denkst du, du bist der einzige Mensch, den er so behandelt, nur zu dir ist er so aufmerksam und liebenswürdig. Er lässt dich spüren, dass du etwas Besonderes bist. Man fühlt sich so gut in der Nähe dieser Personen, dass man denkt, man wäre der Mittelpunkt der Welt.

Pfleger Sebastian ist so einer. Meine Freundin Pipi, deren Mann mich vor jetzt knapp 3 Wochen operiert hat, ist auch so eine Person. Sie hat früher, während ihres Studiums, in Bars und Cafés gearbeitet, sie war aufgrund ihrer bezaubernden Begabung so beliebt, ich glaube, sie hätte allein vom Trinkgeld leben können.

Diese angeborene Fähigkeit oder diesen angeborenen Persönlichkeitszug haben übrigens auch viele Serienkiller vorzuweisen. Immer wieder berichten überlebende Opfer von der unglaublichen Nähe und Verbindlichkeit dieser Typen, die einen sämtliche Vorsichtsmaßnahmen über den Haufen werfen ließ.

Für Pipi lege ich meine Hand ins Feuer, aber Pfleger Sebastian kenne ich ja nicht, keine Ahnung ob er am Ende ein sadistischer Soziopath ist, im Keller Patienten aufschlitzt oder tatsächlich ohne Kalkül ganz unbekümmert mit seiner Zuwendung nur so um sich schmeißt.

Aber schon interessiert er mich nicht mehr, ich mag ja nur Leute die etwas Besonderes in mir sehen. Ha!

Allerdings kann das auch nach hinten losgehen.

Eine schlimme Demütigung in dieser Richtung ist mir gerade heute morgen widerfahren.

Eine junge Pflegerin spricht mich auf meine Haarfarbe an (es befinden sich dort noch verwaschene Reste der Farbe „Midnight Blue“, und blitzen hellblau bis türkis zwischen all meinen weißen, silbernen und grauen Haaren hervor), sie findet das sehr schön, richtig toll.

Ich ja auch, und bedanke mich herzlich. Wie schön, dass sie sieht, dass ich besonders bin, oder eine besonders schöne Haarfarbe, die sich von selbst weiter entwickelt hat, gewähren lasse.

Sie selbst hat kurze rosa Haare. Wir Haarfärberinnen, also die mit den unnatürlichen Farben, wir schätzen und erkennen uns. Wir sprechen uns auch an. Wie Busfahrer, die sich grüßen, oder Ente-Fahrer, oder Tätowierte, die sich ihre Tattoos zeigen, oder Raucher in versteckten Raucherecken. Sie kommen sich nah.

Die liebe Schwester kann sich kaum losreißen und beim Weggehen dreht sie sich noch mal um und sichtlich nach dem richtigen Wort suchend, presst sie noch ein:

„Das sieht richtig... flott...!!!...aus!“

Flott!

OH MEIN GOTT! Jetzt ist es also so weit.

Das sagt man zu Omas, wenn sie irgendwas Keckes an sich haben.

Zu Omas!

Zu alten Frauen!

Hier bin ich tatsächlich eine alte Frau. Eine beliebige alte Frau.

Kein entzückender Engel, wie bei mir auf der Arbeit, keine gestörte Diva, wie bei meinen Freunden, keine 12jährige, keine interessante, keine liebenswerte, keine besondere Person.

Ich bin wie die anderen Frauen hier, eine Alte mit einer Prothese im Leib, die gefälligst ihr Programm durchziehen soll.

Herrjeh, wer hoch fliegt, fällt tief, sagt man.

Aber ist es denn wirklich so anmassend, sich für speziell zu halten?

Machen das die anderen Frauen hier nicht auch alle insgeheim?

Sollte das nicht eigentlich jeder tun?

Ist das nicht die sogenannte Eigenliebe, die so gesund sein soll?

Also bitte! Ich rede jetzt nicht von Narzissmus, nicht von Borderline oder sonstigen Persönlichkeitsstörungen, sondern von dem gesunden Mass an Eigenliebe.

Was mir offenbar in der ersten Hälfte meines Lebens komplett fehlte, und dadurch zu Suchtverhalten, Depressionen, Angstneurosen, Zwangshandlungen und dergleichen führte, und jetzt vielleicht dafür etwas stärker ausgeprägt ist. Also mein Selbstbewusstsein.

Erst seitdem ich mich für eigentlich sympathisch und liebenswert halte, geht es mir doch so gut.

Jedenfalls ist es ein Schock, hier plötzlich der Austauschbarkeit ausgesetzt zu sein.

Die eine oder andere ältere Dame. Diese hier hat halt hellblaue Flecken im Haar.

Frech. Flott. Mein Gott.

Und dass ich hier niemanden finde, mit dem ich ein Wort wechseln will, liegt ja auch daran, dass ich ebenso alle über einen Kamm schere.

Alle gleich, alle uninteressant.

Selbst die mit bunten Strähnchen im Haar. Weil sie in den falschen Farben sind, oder an den falschen Stellen. Herrjeh.

Nirgendwo ein Flackern, nirgends ein Sympathieblitz, kein zweiter verstohlener Blick.

Niemand von diesen Menschen, und es sind längst nicht nur Senioren hier, auch viele Jüngere, 30jährige, mit denen ich meist gut kann, interessiert mich, und selbst die Schwulen hier, die mich normalerweise zielsicher ansteuern, sind fad und grau.

Meine Güte, ja, stimmt, ich bin vielleicht zwischendurch mal hier mal da etwas arrogant, aber es ist doch nicht überheblich, wenn ich bezweifele, dass ich hier jemandem begeistert das neue Schlammpeitziger-Video vorspielen kann, mich mit jemandem über „Fest und Flauschig“ und „Kaulitz-Hills“ austauschen kann, dass mich hier wohl irgendwer mit Stefan Zweig Zitaten oder Agrumi-Rezepten überraschen wird, dass hier sowas wie Ironie und Zynismus in einer Unterhaltung funktioniert, oder dass ich verpeilt sein darf, ohne schief angeguckt zu werden.

Das ist aber auch nicht so wichtig, ich verachte hier deswegen niemanden, vielleicht finden wir einen anderen verbindenden Weg, einen gemeinsamen humorvollen Umgang mit der Fahrstuhlsituation vor Ort zum Beispiel, denn die ist wirklich absurd.

Dass man nicht mehr oder immer weniger zueinander passt, kenne ich spätestens als ich in die Dreißiger kam. Da interessierten sich allmählich sämtliche Freunde nicht mehr in gleichem Maße für aktuelle Musik, Literatur, Pop und Kultur, oder Albernheiten, Exzesse und durchtanzte Nächte.

Entweder blieben dann noch andere verbindende Themen, oder man verlor sich ganz aus den Augen.

So ist das nunmal. Ich hab vielleicht maximal noch 3-4 Freunde, die ich seit meiner Schulzeit kenne, alle anderen kamen erst in den letzten Jahren dazu.

Tatsächlich habe ich seit mindestens 3 Jahren niemanden mehr kennengelernt, mit dem ich mich enger befreundet habe.

Wozu auch, ich hab genug Freunde, kann mich ja kaum allen widmen.

Aber die Freunde, mit denen ich mich heute umgebe, sind ungefähr in meinem Alter, plus minus 15 Jahre, die interessieren sich noch für alles Neue, und sie sind lustig, genial, clever und cool, liebenswürdig und inspirierend!

Das gilt für Tommy, Meret, Josek, Carina, Britt, Clarita, Frank, Gisa, Sunia usw.

Sie alle sind so besonders, sehr speziell.

Ich werde keinen wie sie hier in dieser Klinik treffen.

Na gut, ich bin offen, wenn ich es hierhin geschafft habe, dann vielleicht auch jemand anders, egal ob weiblich oder männlich.

Vielleicht dieser Typ da auf dem Laufband. Aber als Kurschatten braucht er ja nicht meine Interessen zu teilen, Freunde brauchen wir ja nicht werden, beim Kurschatten-Verhältnis sind andere Faktoren wichtig. Könnte es da irgendwie funken?

Plötzlich geht er auf den Tresen zu, bespricht sich mit der Therapeutin.

Huch!

Es ist eine Frau!

Sie ist aus der onkologischen Gruppe. Beide Brüste weg. Die Haare als Kurzhaarfrisur schon wieder nachgewachsen.

Eigentlich ja egal, wenn es funkt, dann dürfte das Geschlecht ja egal sein.

Aber hat es überhaupt gefunkt?

Oder war es nur ein kurzer Moment des Nicht-Sofort-Ablehnens?

Aufgrund falscher Tatsachen auch noch?

Ich beobachte sie jetzt unverhohlen, wie sie sich mit der Therapeutin unterhält, wie sie da steht, wie sie guckt, ihre Stimme, ihr Blick.

Sie beschwert sich in einem unsympathischen Ton über irgendwelchen Kram am Laufband. Ihren eben noch souverän gelangweilten Blick erkenne ich nun im Nachhinein als reines arrogantes Getue.

Das Paul McCartney-hafte in ihrem Gesicht kommt jetzt irgendwie noch schlimmer rüber.

Eine Frau mit so einer englischen Jungs-Fresse und Hundeaugen.

So schnell zerplatzen Träume.





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