Freitag, 5. Juni
- Mai Buko
- 5. Juni 2020
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Juni 2020
Mann, hab ich Muskelkater.
Adele meint, Muskelkater ist doch schön.
„Ich stehe aber nicht so auf Schmerzen.“
„Aber das sind doch gute Schmerzen, man weiß doch woher sie kommen.“
„Ja, weil man steif wie ein Stock ist, und scheiße unbeweglich ist.“
„Also, ich find das schön.“
Hm, dann gehe ich eben zu Anouk jammern.
„Oje, du Arme. Aber Muskelkater finde ich irgendwie gut. Habe ich gerne.“
Die spinnen doch alle.
Anouk hatte mich schon als ich ankam sofort informiert, dass es Frau St. nicht so gut geht. Also richtig nicht gut. Also, dass ich doch mal den Pfarrer kontaktieren soll, ob er nicht vorbeikommen kann.
Sie spricht es nicht aus, aber Frau St. liegt anscheinend im Sterben.
Das ist ja überraschend. Es tut mir sofort schrecklich leid, weil ich sie sicherlich unheimlich vermissen werde, ihre schwäbischen Befehle, ihre Hilfe- und Mamarufe, ihre nervigen Verkeilungen zwischen irgendwelchen Hindernissen, ihre charmante Art, wenn sie darum bittet, bei einem leben zu dürfen, wenn sie sagt, "Ich bin so entzückt von Ihrer Schönheit."
Aber sie will seit einem Jahr nichts anderes als sterben, sie will zu ihrem verstorbenen Mann, sie will einfach nicht mehr hier sein.
Zuerst rufe ich den Pfarrer auf dem Festnetz an und spreche ihm auf die Mailbox. Weil ich da ziemlich konfus draufgelabert habe, schreibe ich ihm noch eine Mail, entschuldige mich für den Anruf, und dafür, dass ich vergessen habe mich rechtzeitig um das besprochene Pfingstfeuer mit dem kleinen Gottesdienst zu kümmern, er möge mich doch mal bitte zurück rufen. Als ich die Mail abgeschickt habe, kommt Anouk in unser Dienstzimmer und meint sie hätte noch eine Handynummer von ihm.
Also rufe ich ihn nochmal an. Diesmal geht er dran, und ich melde mich wie aus der Pistole geschossen mit meinem Mädchennamen. Herrje! Ich korrigiere mich sofort, er lacht, ich lache, und dann erzähle ich ihm von Frau St. Er kann aber nicht vor 13 Uhr kommen, sagt er.
„Das macht nichts, das ist toll!“
Ich füge noch scherzhaft ein theatralisches „Wir werden sie bis dahin am Leben halten“ hinzu.
Das mit dem Mädchennamen schon wieder, liegt einzig und allein daran, dass ich vorhin Massimo erzählt hatte, dass ich Dösel gestern auf meinem Urlaubsantrag meinen Mädchennamen eingetragen habe. Trotzdem ist das ziemlich panne. Mehlwürmer in meinem Kopf?
Ich bitte Anouk mich zu begleiten, denn ich möchte zu Fr. St., mich von ihr verabschieden. Wir betreten vorsichtig ihr Zimmer, ihr Bett steht jetzt mittig, so dass man von beiden Seiten an sie rankommt. Ich begrüße sie und sie streckt mir schon zärtlich ihre beiden Arme entgegen. Sie sieht gut aus, leicht gebräunt, das Gesicht gar nicht eingefallen, ihr Blick ist klar, das Getränk, das ich ihr reiche, kann sie mühelos aus der Schnabeltasse trinken. Anouk und ich gucken uns erstaunt an.
„Wie geht es Ihnen, meine Liebe?“
„Gut!“
Wir bleiben noch ein wenig bei ihr, streicheln ihre Hände, ihre Schultern, ihren Kopf, sie spricht nicht viel, sagt nur, dass sie etwas schlafen möchte, da ziehe ich den roten Vorhang etwas zu, das gibt ein angenehmes Licht, und wir gehen wieder.
Wir sind richtig perplex, so sieht doch keine Sterbende aus. Im Ernst?
Klar, die Pfleger haben da immer einen siebten Sinn für, aber wie kommen sie darauf, sie ist bestimmt nur etwas krank.
Wir fragen den Pflegeleiter was da los ist, er erklärt, dass sie heute Nacht schlimme Herzaussetzer hatte, dass sie jetzt nicht wirklich präfinal ist, aber doch palliativ versorgt wird. Und im Prinzip könnte sie zwar noch Wochen oder gar Monate leben, aber auch jederzeit, in einer Stunde zum Beispiel, einen weiteren Aussetzer haben, der tödlich ist.
In Anouks Mittagspause richte ich die Burrata für uns beide an. Es heißt nämlich die, nicht der Burrata, wie ich herausgefunden habe. Wikipediaeintrag: „Die Burrata wurde 1956 in der Nähe von Andria erfunden, als ein starker Schneefall den Transport der Milch von außerhalb gelegenen Höfen in den Ort verhinderte. Um die Sahne zu konservieren, wurde sie in Mozzarella-Säckchen verpackt.“
Das Säckchen lässt sich wunderbar teilen, ich hab ein besonderes Olivenöl mitgebracht, das ich darüber träufele, nur noch Salz und Pfeffer drauf, mmmmh, das ist der Mercedes unter den Mozzarellas.
Die Heimleiterin informiert mich, dass der Pfarrer schon bei Frau St. ist, und ich gehe schnell auch dahin. Sie sieht jetzt allerdings schon viel eher wie eine Sterbende aus. Sie nimmt den Pfarrer wahr, ist ganz ruhig, nimmt ab und zu Blickkontakt auf, ansonsten schaut sie nur starr geradeaus.
Der Pfarrer hatte für sie gebetet und lässt ihr ein paar geweihte Kerzen da.
Draussen erkläre ich, dass ich keine Ahnung habe, ob sie wirklich jetzt bald stirbt, aber wir sind uns beide einig, dass es doch schön ist, dass sie noch mitgekriegt hat, dass er da war, und sie gesegnet hat.
Er informiert mich noch was es für schöne christliche Feiertage in den nächsten Wochen gibt, und wir beschließen wieder uns etwas für einen dieser Tage auszudenken.
Es regnet mal wieder ohne Unterlass, als ich Feierabend habe schnappe ich mir mein Not-Regencape, das ich in unserem Dienstzimmer deponiert habe, und fahre durch Pfützen und Regenwindboen zum Zülpicher Platz um im Eiscafé Cortina Peter zu treffen.
Ich war mit Peter vor Jahren zusammen, und die Vermutung lag nahe, dass er noch Videoequipment von mir hat, das ich die letzten Tage überall gesucht hatte, um meine alten Hi-8 Filme anzuschauen und zu digitalisieren. Tatsächlich hatte er eine Videokamera von mir und gibt mir noch einen Grabber mit, mit dem ich angeblich mühelos das Zeug digitalisieren kann. Es ist ganz lustig mit ihm, wir sind uns beide einig, dass die Zeit des totalen Lockdowns sehr schön war, diese Ruhe, kein Fluglärm, die leeren Straßen, er konnte sogar seit Jahren wieder bei offenem Fenster schlafen, er wohnt direkt über der Partymeile am Zülpicher Platz, kein grölendes Feierpublikum das ihm vor die Haustür pisste oder kotzte.
Alles vorbei, alles wie immer.
Zuhause bemerke ich dann, dass immer noch die entscheidenen Kabel fehlen, nämlich die, die die Kamera mit dem Grabber verbinden. Ich mach kurzen Prozess und bestelle sie mir, zumindest gehe ich davon aus, dass es die richtigen sind, damit sie mir morgen früh geliefert werden, ich will unbedingt diese Aufnahmen sichern.
Denn ich hatte über den Sucher der Kamera schon ein wenig angeschaut, und war den Tränen nahe, Marie und David als winzig kleine Kinder, lispelnd und zum Fressen süß, Aufnahmen vom Raven, in den 90ern, das Partyboot in Konstanz am Bodensee, die ersten Auftritte von Whirlpool Productions, Tommy, ganz jung, als er gerade nach Köln gekommen war, ich schmelze so dahin.
Für 20:30 Uhr hat Meret einen Tisch für uns vier im Peppe reserviert. Wir sind alle müde und erschöpft, frieren um die Wette, aber der Plan ist ja nach dem Essen noch ins Keimaks zu gehen, Cocktails trinken. Ich glaube, ich gehe da nicht mehr mit, bin wirklich zu erschlagen.
Aber Gregor und Meret müssen Zeit totschlagen, dürfen nicht zu früh nach Hause, weil ihre Tochter da eine kleine Corona-Party, äh, Abiturfeier veranstaltet.
Das Essen ist ganz okay, wir haben alle unterschiedliche Pastagerichte bestellt, die Kellnerin ist wie immer überfordert und lethargisch, sammelt nicht gerade Sympathiepunkte. Zum Dessert Tiramisu mit Nutella.
Ich komme dann doch noch mit ins Keimaks.
Wir bestellen uns alle einen Sour, Tommy und Meret Whiskey, ich Wodka, Gregor einen Rotwein. Meret verlangt Cocktailkirschen in den Drinks, die wir auch alle bekommen, leider ohne Stiel, deshalb können wir nicht versuchen mit der Zunge einen Knoten da rein zu machen, was wir vor 10 Jahren im Sixpack noch konnten.
Meret zieht mich schon seit dem Peppe andauernd auf, findet es affig, dass ich „recherchieren“ sage, wenn ich einem Thema hinterhergoogle. Tommy schämt sich wieder fremd für mich, weil ich ein bisschen singe, er regt sich zudem immer wieder künstlich auf, weil Meret und ich Zwischenkommentare während seiner Erzählungen abgeben. Wir könnten nicht zuhören, ihn nicht ausreden lassen, das wäre unmöglich. Meret und ich bestehen darauf, dass sich das Kommunikation nennt, dass das ja nur unser Interesse an seinen Themen unterstreicht. Nur Gregor ist wie immer zu allen gleich lieb und mein Trost an diesem Abend.
Wir recherchieren, äh, googeln auf Gregors Handy den Begriff „Eierpenis“, weil in der Doku über den Sexualstraftäter Jeffrey Epstein, während eines Verhörs unter anderem seine Penisform beschrieben wird. Wir werden jedoch nicht fündig, ich habe immer noch keine Vorstellung davon wie so ein Eierpenis aussehen soll, kurz, unten dick und oben spitz zulaufend. Hört sich zumindest ekelhaft an.
Die anderen bestellen sich schon die nächsten Drinks, aber ich kann nicht mehr, klaue noch schnell eine kleine Rose aus der Vase, weil sie so betörend duftet, verabschiede mich und fahre schnurstracks nach Hause.

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