Freitag, 4. Dezember
- Mai Buko
- 4. Dez. 2020
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Dez. 2020
Natürlich war ich Donnerstag noch nicht arbeitsfähig, traute mich aber am Nachmittag raus zu bewegen, um mich vorm Forum mit Tommy und Hansi zu treffen.
Ich verzichtete auf Cappuccino, hatte mir einen Tee mitgebracht, wir wollen das Glück mal nicht zu sehr herausfordern.
Wir setzten uns dann auf Tommys Lieblingsbank, bei der rechts noch eine Zusatzsitzmöglichkeit steht, so dass wir in angemessenem Abstand zu dritt auf unseren mitgebrachten Decken Platz nahmen.
Hansi lernte ich vor gefühlt 50 Jahren, als ich noch den Ausstellungsraum „Raum für Kunst und Musik“ betrieb, kennen.
Das war Mitte der sogenannten Nuller Jahre, glaube ich.
Auf der Aachenerstrasse, ein paar Häuser vom Sixpack entfernt, gab es diesen kleinen Raum mit großem Schaufenster, in dem ich, beauftragt von den beiden eigentlichen Hauptmietern des Raumes, Ralf, der das Sixpack machte, und Gido, ein freiberuflicher Musiker, Bild-und Toningenieur, wöchentlich abwechselnde Ausstellungen organisierte.
Das waren meist Kunstausstellungen, für die sich Kunst-Studenten von befreundeten Kunstprofessoren, wie Rosemarie Trockel oder Walter Dahn, bei mir bewarben. Oder aber auch Auftritte von Musikern.
Weil das Ganze eher unkommerziell angelegt war, und ich immer wieder Benefiz Veranstaltungen, Versteigerungen und Clubparties organisieren musste, um mit diesen Einnahmen die Kosten des Raumes zu finanzieren, die Schulden aber niemals wirklich aufhörten, ich mich aber weigerte das Konzept zu ändern, damit es dadurch tragbarer würde, war klar, dass ich nach circa 2 Jahren damit aufhören musste.
Denn hätte ich das Konzept verändert, und sei es nur, dass ich Miete von den Künstlern, oder Eintritt von den Gästen verlangt hätte, dann hätte es genau den Charme verloren, den es ausmachte. Es war eine unkommerzielle Begegnungsstätte in der sich Künstler jeder Art treffen, kennenlernen, austauschen, vernetzen und natürlich ihre Arbeiten präsentieren konnten, für jeden frei zugänglich. In Eigenverwaltung gestalteten die Künstler den Ablauf ihres Eröffnungsabends und der folgenden Woche, die ihnen zur Verfügung stand, in der sie mit dem Raum machen konnten, was sie wollten, bis zum nächsten Mittwoch, zur nächsten Eröffnung.
Es war so großartig, manchmal richtig crazy, legendär geradezu.
Nach diesen Eröffnungsabenden gingen Tommy und ich jedesmal zu dem Italiener auf der anderen Straßenseite, der schon auf uns wartete und uns, obwohl die Küche eigentlich schon dicht gemacht hatte, nach 23 Uhr noch schnell was kochen ließ.
Spaghetti Vongole meist.
Jedenfalls stellte sich eines Tages Hansi vor.
Er wollte gerne großformatige Fotoarbeiten ausstellen. Hansi hatte in verschiedenen Siedlungen bei fremden Leuten geklingelt und angefragt ob er ihren Fernseher abfotografieren dürfe. Also den dunklen Bildschirm, denn der spiegelte in schwachen Farben den Wohnraum, in dem der Fernseher stand. Ein Mensch, ein gedeckter Tisch, ein Sessel, ein Sofa erahnte man mehr als das man auf Anhieb erkannte, was da los war.
Ich war sofort begeistert, und noch vielmehr von ihm, Hansi, der so ein wundervoller Engel war, dass man sich gleich verlieben musste. Er war offensichtlich schwul und ich musste ihn unbedingt mit Tommy bekannt machen, denn der würde umfallen und sich auch sofort verlieben. Also bat ich Hansi, ob ich ein Foto von ihm machen dürfte, er stimmte zu, und als ich dieses Foto Tommy zeigte, war es auch tatsächlich sogleich um ihn geschehen.
Hansi bekam seine Ausstellung, ich kaufte eine Arbeit, die für mich die gleiche Atmosphäre wie ein Stilleben von Rembrandt ausstrahlt, die ich, zwar mittlerweile schon leicht lädiert, zu meinen ewigen Lieblingsstücken meiner eigenen Kunstsammlung zähle.
Hansi und Tommy wurden dann zwar kein Paar, aber Freunde bis heute.
Das Treffen vorm Forum war auch gleich wieder sehr entzückend was an Hansis Charme und Charisma lag, und er sich köstlich amüsierte wenn Tommy und ich uns zankten, er fand das so herrlich Slapstick.
Weil ich bei der Recherche nach Links oder anderem Kram für die Zeit der „Raum für Kunst und Musik“ -Ära nicht wirklich fündig wurde, ich aber auf ein anderes Zeitdokument stieß, einen Tagebucheintrag, damals aber noch nicht öffentlich, was ich ja erst seit Beginn der Corona -Pandemie hier auf dieser Seite öffentlich mache, habe ich beschlossen ihn hier reinzustellen:
Last night Dieter Bohlen saved my Life
Es kam nicht wirklich überraschend, ich litt schon wieder seit einem längeren Zeitraum, also mehr als 3 Wochen, unter einem Stimmungstief, dass mir außer Selbstmitleid vs Selbsthass, auch noch regelmäßige körperliche Symptome bescherte, die mich dazu veranlassten, keine zu großen Bewegungen nach draußen in die soziale Cafehaus-Club-Kultur-Umgebungs-Welt zu machen.
Martina, meine liebe Nachbarin von der Etage unter mir, lud mich beim zufälligen Treffen im Treppenhaus ein, heute abend doch gemeinsam etwas zu kochen. Ihr Mann sei verreist, und meiner ja auch.
Meine reflexartige Abwehr hielt ich im Zaum, bat um kurze Bedenkzeit, ich würde ihr gleich Bescheid sagen. So als ob ich noch irgendeinen wichtigen Termin hätte, den ich auf gar keinenFall vergessen darf. Rauszögerungsstrategie.
Die Argumente für das gemeinsame Kochen überwogen: ich konnte Marie mitnehmen, die dann mit Martinas Tochter Dora spielen würde, so dass ich mich nicht groß kümmern musste, die Aussicht auf ein leckeres Essen, endlich mal etwas anderes als ewig meine Bude um mich rum, unbefangen quatschen zu können, ohne etwas über meine aktuelle Situation preisgeben zu müssen, sie wusste nichts von meiner Krankheit und meinem derzeitigen Depressionsschub.
Also sagte ich zu.
Die Situation wurde dann doch schnell etwas anstrengend, denn das Verheimlichen meines inneren Aufruhrs durch die ungewohnte Umgebung, wie lächerlich, wurde zu einem immer größer werdenden Druck, es darf nicht auffallen, ich muss normal rüberkommen, ist ja nix, komm runter, alles safe, dir passiert nichts, was soll sein.
Es fing mit leichtem Schwindel beim Kartoffelschälen an, den ich erst weg zu ignorieren versuchte, aber das klappte immer weniger. Schwindel setzte ein, und aus Konzentrationsgründen, also das Konzentrieren auf Ruhe bewahren, alles im Griff zu behalten, legte ich das Schälmesser auf Seite, starrte vor mich hin, fixierte die Kartoffelschalen auf dem Zeitungspapier, alles verschwamm, wurde wieder scharf und erschlug mich in seiner Banalität, Kartoffelschalen auf Zeitungspapier, ein noch realeres, unspektakuläreres Setting kann man sich kaum ausdenken.
Martina bekam von all dem nichts mit, sie wuselte in der Küche herum, Gott sei Dank, dachte ich mir, doch sogleich wurde es heftiger, Herzrasen setzte ein und das dumpfe Gefühl am Ende der Welt, am Ende von Allem zu sein, und dass es jetzt nur noch ums nackte Überleben geht.
Die gleichzeitige Erkenntnis, dass das maßlos übertrieben und unangemessen ist, schwächte mein Gefühl nicht etwa, sondern verstärkte es. Denn der Terror inside ist nicht zu erklären, ist vollkommen irrational.
Diese Situationen kannte ich natürlich, hatte sie zwar bisher allesamt überlebt, aber die jeweils aktuelle Version eines solchen Anfalls versetzt einen trotzdem in Todesangst.
Nichts spielt dann mehr eine Rolle, alles verliert seine Bedeutung, die Situation hier gerade ist dann nicht mehr peinlich, die Scham verschwindet, die Konzentration steigt, man ist gespannt wie ein Flitzebogen, der Geist hellwach, alles auf Alarm.
Wenn man dann noch fähig ist zu sprechen, teilt man jemandem in kurzen Worten den Zustand mit, ansonsten sucht man sich umgehend eine Stelle zum hinlegen, notfalls auf den blanken Küchen- oder Badezimmerboden, legt sich hin, probiert vorsichtig optimale Haltungen aus, die sich im Millimeterbereich bewegen.
Das können manchmal ganz merkwürdige Positionen sein: eine Hand unters Steißbein, die andere aus dem Bett nach unten hängend, die Füße ein wenig erhöht oder so ähnlich, und versucht so gut wie möglich die nun unweigerlich kommende Zeit auszuhalten.
Bei Martina betrug diese Aushaltezeit tragischerweise mehrere Stunden. Normalerweise kündigte sich so eine Panikattacke bei mir durch Herzrasen an, dieses Herzrasen verursachte selbstverständlich Angst, diese Angst wurde gesteigert durch die bald einsetzende Atemnot und endete in behutsamem in die Butterbrottüte atmen und inneren Monologen mit selbstberuhigenden Phrasen, bis es sich langsam auflöste. Alles in allem dauerte so etwas höchstens 15 Minuten.
Hier, bei der Nachbarin atmete ich schon einige Minuten höchst konzentriert bevor ich noch kurz mitteilen konnte, „Mir ist nicht gut, muss mich mal hinlegen…“.
Martina verfrachtete mich sofort besorgt ins Gästezimmer auf eine Matratze auf dem Boden, schob mir ein Kissen unter die Fesseln, eins unter meinen rechten Arm. Sie deckte mich mit einer weichen Decke zu, denn meine hektische Atmung war mittlerweile in ein heftiges Zittern übergangen. Ich zuckte am ganzen Körper. Die Zähne schlugen heftig aufeinander, es klapperte ungebremst und laut.
Sprechen ging nicht mehr.
Martina verstand anscheinend alles was ich wortlos mitteilen konnte.
Man sah und hörte, dass es mir nicht gut ging.
In diesem Gästezimmer, stand neben meinem Ruhelager ein kleiner Ghettoblaster.
Sie fragte mich ob ich vielleicht Musik hören möchte, ob mich das entspanne. Ich wusste nicht, schaute sie hilflos an, unfähig zu sprechen, so muss sich ein Wachkomapatient fühlen, konzentriert aufs Überleben.
Sie übernahm die nonverbale Kommunikation und hielt verschiedene CD-Boxen hoch, und ich entschied mich durch starren Blick aus mir unbekannten Gründen für die gerade erschienene von ihm selbst vorgelesene Autobiographie von Dieter Bohlen.
Skurriler Humor war jetzt bestimmt nicht der Beweggrund für diese Entscheidung, denn so heftig hatte es mich schon lange nicht mehr erwischt.
Doch Dieter Bohlen saved my life.
Das ist mein Ernst.
Bis heute bin ich ihm dankbar, und habe oft überlegt, ob ich ihm das mal schreiben soll, oder zumindest bei Amazon eine Rezension hinterlassen, die den therapeutischen Wert seines Buches hervorhebt.
Wunderbar, diese intime Situation zwischen ihm und mir, in meinem Anfall, nur er und ich.
Seine knötelige, nordische und vor allem unverkennbare Bohlenstimme blubberte in so einem Fluss ungeheuerliche Banalitäten daher, dass mich das total erdete. Das war so REAL. So echte Welt. Das konnte einfach keinen Zugang in eine paranormale, angstbeherrschte Parallelwelt finden. Das war so sehr down to earth, auch wenn ich oft den Inhalt gar nicht verstand, sondern nur diesen monotonen Geräuschebrei, dass ich diesen Klangteppich als wohltuend und beruhigend empfand.
Zumindest führte das zu einer Art Stagnation meiner bis dahin immer weiter hochschraubenden Panik, und dieses Level des Stillstands musste ich jetzt einfach nur noch aushalten. Da es ab jetzt nicht schlimmer wurde, blinzelte ein wenig Hoffnung auf, vielleicht könnte ich mich gleich ein wenig bewegen, oder gar sprechen.
Eine Steigerung dieses Panikgefühls bevor ich mit dem Hörbuch anfing konnte ich mir aber auch beim besten Willen nicht vorstellen.
Ohnmacht oder Herzstillstand vielleicht.
Martina kam zwischendurch immer mal wieder rein, erzählte mir, dass Marie schön spielt, alles in Ordnung sei.
Dass ich nicht antworten konnte, wenn sie sich nach meinem Befinden erkundigte, irritierte sie auch nicht im Geringsten. Sie war so unbekümmert, wie nur jemand sein kann, der noch nie diese dunkle Seite erlebt hat und keinen Schimmer davon hat, was da gerade in mir abging.
Sie wechselte auch immer lieb die einzelnen CDs in der richtigen Reihenfolge, obwohl ich das gar nicht bemerkt hätte, wenn sie immer denselben Teil abgespielt hätte, da ich den Storys eh nicht folgen konnte.
Meine Dankbarkeit an Dieter Bohlen wurde noch in meiner Lähmung sehr groß. Ich liebte ihn nahezu. Er war mir die ganze Zeit so nah, als würde er nur für mich da quasseln, um mich zu beruhigen, als wäre genau das sein Anliegen: mich in Sicherheit zu bringen.
Seine Stimme, seine Trash-TV-Stimme, seine absolut irdische Existenz war so rettend.
Sein Verweilen bei mir, mit mir, so schützend. Seine alle Probleme dieser Welt hinweg fegende Stimme, die Stimme des Dieter Bohlen, dieser Dieter Bohlen, den kein Mensch den ich kenne schätzt: reiner Balsam!
Ja genau, man hat ihn unterschätzt, man weiß gar nicht welch heilende Kräfte er hat, welche kurativen Fähigkeiten er besitzt und so mirnichtsdirnichts raushaut.
Dieser Dieter Bohlen ist der beste Mensch der Welt und holt mich hier von meinem Horrortrip runter.
Es hatte Stunden gedauert, dieses Hörbuch bestand aus fünf oder sechs CDs, und mein Zustand der Lähmung und konzentrierten Beherrschung, eingefangen in einer Glocke aus Angst, umwabert von dieser rettenden Stimme aus der Welt. Der richtigen Welt. Mutter Erde.
Erde an Mai: Du bist hier! Alles wird gut!
Denn Dieter Bohlen schwafelte.
Wie ich später erfuhr hieß dieses Werk „Nichts als die Wahrheit“.
Wie Recht er hatte. Mein Gott, wie prophetisch.
Ich kann es reinen Herzens nur weiterempfehlen!
Mein Mann war zwischenzeitlich von seiner Reise zurückgekehrt und war einigermaßen erschrocken mich hier bei den Nachbarn auf einer Matratze auf dem Boden liegend vorzufinden.
Mir ging es ja tendenziell immer besser, auch wenn der Schock über diesen Zustand mir noch tief in den Knochen lag, so war ich doch irgendwann fähig mich bruchstückhaft zu artikulieren, konnte meinen Mann und Martina beruhigen. Es wurde zwar zwischenzeitlich ein Notarzt gerufen, doch der kam erst, als ich schon wieder oben in meine Wohnung gebracht und ins Bett gelegt worden war. Noch immer war ich Dieter Bohlen dankbar, meine Lähmung löste sich nach und nach, als der Arzt dann kam, tröstete er mich verständnisvoll, spritzte mir Valium, und ich glitt in eine warme Entspannung.
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