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Donnerstag, 24. Dezember

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 24. Dez. 2020
  • 12 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 9. Jan. 2021

Ich bin also wieder zurück in der alten Zahnarzt-Praxis in der Innenstadt, 15 Minuten Radweg von zuhause aus. Betty, die Zahnarzthelferin von früher ist immer noch da, alles tiptop, modern, keine Wartezeit, der Chef der Praxis ist heute mein Zahnarzt, er macht mir keine Vorwürfe dass ich so lange nicht da war, seine Assistentinnen roentgen mich gefühlvoll, ich muss nur zweimal würgen, und auch beim Abdruck meiner Zähne mit dieser Klebemasse behalte ich alles bei mir, knickknack, der Arzt verspricht mir dass die neue Beissschiene noch vor Weihnachten da ist, da er dann aber nicht mehr in der Praxis ist, delegiert er es an seinen Sohn, und lässt ihn herkommen um mich vorzustellen. Da kommt ein Zwölfjähriger rein, schaut sich interessiert meine Roentgenbilder an und freut sich mich kennenzulernen. Ich fass es nicht. Ok, er ist nicht 12 Jahre alt, aber nahezu. Vielleicht Mitte Zwanzig. So jung und schon fertiger Zahnarzt? Naja, er wird wohl nicht viel falsch machen können, hoffe ich mal.


Weil das Forum geschlossen hat, suchen Tommy und ich immer wieder neue Cafés um an leckeren Cappuccino to go zu kommen. Im „Einspänner“ war ich vorher noch nie, sie verkaufen auch Gebäck und selbstgemachte Marmelade, oh, da kann ich nicht widerstehen, eine Johannisbeer-Stachelbeermarmelade muss mit. Wie sich später herausstellt ist das eine der leckersten Marmeladen, die ich je gegessen habe. Johannisbeeren und Stachelbeeren, was für eine geniale Mischung, die würde ich nie selber machen, viel zu teuer und viel zu aufwändig. Als ich das kleine Marmeladengläschen bald leer gefuttert habe, habe ich das halbe Internet nach Nachschub in dieser Früchtemischung gesucht, bin in Bayern fündig geworden, habe drei Gläser viel zu teure Marmelade bestellt, dazu horrende Lieferkosten, aber das Ergebnis ist leider enttäuschend. Sie ist nicht handgemacht, der Geschmack ist nicht schlecht, aber kommt nicht im Geringsten an die aus dem Einspänner ran, sie schmeckt halt nur wie eine gute Marmelade aus dem Supermarkt.


Tommy ist jetzt so richtig auf Weihnachtshorror, seine Mutter ist ins Krankenhaus gekommen, sie muss operiert werden, da bei ihrem Sturz letztens anscheinend doch Wirbel gebrochen sind, was nun zu höllischen Schmerzen führte. Jetzt muss er auf jeden Fall in den Schwarzwald, um sich um seinen Vater zu kümmern, und das auch noch früher als gedacht, er wird schon Sonntag abreisen und dann solange bei seinem Vater bleiben, bis die Mutter Anfang Januar wieder aus dem Krankenhaus kommt. Er fürchtet dem nicht gewachsen zu sein, dem Rund-um-die-Uhr-Betreuer-Job allein bei seinem Vater.

Jeder Trostversuch scheitert, er will daran auch nichts Positives sehen, weil seine Strategie, sich alles bis zum Erbrechen aufs Übelste auszumalen, um dann erleichtert zu sein, wenn es doch nicht so schlimm ist, bisher immer bestens funktioniert hatte.


Jan Hofer moderiert zum letzten Mal die Tagesschau, nach fast 36 Jahren geht er in den Ruhestand. Er nimmt sich am Ende der Tagesschau, nach ein paar persönlichen Dankesworten, die Krawatte ab und wünscht uns: “Machen Sie es gut!“


Jetzt werden jeweils drei FFP2 Masken in den Apotheken an über Sechzigjährige verschenkt.

Die Impfzulassung soll jetzt schon am 21.12. sein, so dass schon nach Weihnachten direkt die ersten Impfungen beginnen können.


David meldet sich aus Zypern, seine Flüge seien gecancelt, er kommt also nicht an Weihnachten nach Hause, nach Köln gäbe es erst wieder im Februar Flüge, aber im Januar nach Dortmund, da würde er gucken, dass er so einen nimmt.


Auf der Arbeit sind allein wieder drei Leute aus meinem Team krank. Der Pflegeleiter muss am Miniskus operiert werden und fällt ab sofort auch für mehrere Wochen aus.


Zamperoni grinst immer so verschmitzt wenn er seinen Abschlusssatz „Bleiben Sie zuversichtlich“ sagt, so als ob er es immer noch nicht fassen kann, dass er jetzt seit Corona auch einen rituellen Abschlusssatz hat.


Mitte der Woche bemerke ich, dass ich mittlerweile völlig unkonzentriert bin, entdecke Fehler über Fehler in meinen Planungen, allein heute habe ich mich für ein Gruppenangebot eingetragen, obwohl ich da schon seit einer halben Stunde Feierabend habe, weil ich doch einen Physiotermin habe. Ich verlege Dinge, finde zum Beispiel die Lichterketten nicht mehr, obwohl ich mich daran erinnere, dass ich mir sagte, so hier, in diesem Beutel lege ich sie hierhin. Ich weiß dass es ein gelber Beutel war, nur an dieses „hierhin“ erinnere ich mich nicht mehr, habe kein Bild, keinen Ort dazu. Zuhause bemerke ich, dass ich das Diensttelefon in meine Handtasche gepackt habe.


Einmal bin ich wieder schwer verletzt, weil Tommy mich sitzenlässt, mir nicht mal absagt, weil es so schön mit einem Freund gerade ist, der ihn spontan besucht hat.

Ich sitze in der Kälte und warte auf ihn, schicke ihm Nachrichten, aber es kommt keine Reaktion.

Erst als ich die Bank, auf der ich sitze, resigniert verlasse, kommt eine Nachricht: „Sitze hier noch mit Christoph“. Einfach so, als ob ich Bescheid wüsste, oder als ob das okay wäre, dass er sich deswegen nicht meldet.

Ich bin sehr beleidigt und fühle mich wieder überflüssig. Sobald jemand anders kommt, vergisst er mich, spielen unsere eingespielten Treffen keine Rolle mehr. Ich bin nur der Corona-Notstopfen.

Dann fahr ich halt zu Saturn und hole die Playstation für David ab, die endlich angekommen ist und trotz Lockdown am Hinterausgang abgeholt werden kann.

Ich kette zwar dieses Riesenpaket, was nur schräg gestellt in mein Fahrradkörbchen passt, an seinem dünnen Plastiktragegriff mit dem Fahrradschloss an das Körbchen, aber die ganze Heimfahrt habe ich Herzrasen, weil es dunkel ist, ich durch einsame Straßen fahre, und weiß wie irre diese Playstationnerds sind, wenn nur einer mein Paket da sieht, werde ich überfallen und ausgeraubt.


Die Verpeiltheit hört nicht auf, jetzt habe ich auch noch meine Lebensmitteleinkäufe auf der Arbeit liegen gelassen, dann gibt’s halt heute Abend Pizza.

Beim Treffen mit Tommy ist er offenbar schuldbewusst und bietet ganz lieb an, den Kaffee für uns beide aus dem Hörnchen zu holen.

„Das wirst du wohl ab jetzt die nächsten Jahre noch tun müssen, als Entschädigung für gestern!“

Ich erzähle ihm von einer schönen Doku über Hans Christian Andersen, dass er voll einer von uns war, stets unglücklich verliebt, schwul, neurotisch, hypochondrisch, depressiv, voller Ängste und trotzdem neugierig, ein sensibler Beobachter, eine reine Nervensäge.

Ausserdem hätte ich mich köstlich amüsiert als ich eine Doku über Beethoven anschaute und einem Streichquartett zusah wie es Stücke von ihm spielte. Die Mimik der Musiker war wirklich phänomenal. Alle Facetten von Leid, Liebe, Freude, Wehmut, Erleichterung. Selbst wenn man keinen Ton hören würde, könnte man die Stimmung der Musik ganz genau erkennen. Großartig. Ich mache ein paar Mimiken nach, da lacht Tommy kurz, aber es lenkt ihn kaum ab, er ist weiterhin frustriert weil er am Sonntag in die Heimat muss.

Mittlerweile ist es jetzt genau ein Jahr her, dass der Corona-Virus in Wuhan bekannt wurde.


In einer Live Schalte zwischen Merkel, Spahn und Biontech-Chef Uğur Şahin feiern sie den neuen Impfstoff. Şahin ist so sympathisch, ich freu mich für ihn.

Die Impfungen gehen ab 27. Dezember los.

Und zwar in dieser Reihenfolge:

Stufe 1

  • Pflegeheime und Mitarbeiter

  • Menschen ab 80 Jahre

  • Menschen, die in medizinischen Einrichtungen arbeiten

Stufe 2

  • Menschen ab 70 Jahre

  • Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen

  • Geistig und körperlich Behinderte

  • Menschen die mit geistig und körperlich Behinderten arbeiten

  • Kontaktpersonen von pflegebedürftigen oder schwangeren Menschen

  • Polizei und Ordnungskräfte

Stufe 3

  • Menschen ab 60 Jahre

  • Personen mit erhöhtem Risiko, darunter HIV-Infizierte, Krebserkrankte, Diabetiker und Menschen mit Adipositas

  • Personen in relevanten staatlichen Einrichtungen und in Unternehmen kritischer Infrastruktur, zum Beispiel in Apotheken, Transportwesen, Abfallwirtschaft.

  • Personen die im Lebensmittelhandel arbeiten

  • Lehrer und Erzieher

Paul McCartney bringt ein Album raus, das der Pandemie gewidmet ist. Da bin ich ja mal gespannt, allerdings greife die Impfung auch da.


In den USA ist ein zweiter Impfstoff durch eine Notgenehmigung zugelassen: „Moderna“, und wird schon verteilt.


Bei den Weihnachtsplanungen der Leute in meinem Umfeld wird ausgereizt, was die Regeln so hergeben. Mir war nicht klar, wie emotional dieses Weihnachtsfest belegt ist, weil es mir tatsächlich nicht so wichtig ist, aber es schleudert sämtliche Leute in ein Dilemma, dass sie bereit sind Risiken einzugehen, klar, kurz vorher wird ein Schnelltest gemacht, auch wenn jeder weiß, dass der nur eine Momentaufnahme darstellt, die noch nicht mal 100% sicher ist. Man reist, man feiert mit den Eltern, den Kindern, man reduziert zwar, aber man trifft sich. Ich bin froh, dass ich weder Eltern noch Schwiegereltern habe, denen ich möglicherweise durch meine Absage vor den Kopf stoße. Marie will mit mir feiern, vorher wird sie auch einen Schnelltest machen, ich werde mit meinen Kollegen am 22.12. einen PCR-Test machen, das Ergebnis wird Heiligabend da sein.


Bevor Tommy abreist treffen wir uns mittags noch einmal zu einem letzten gemeinsamen Cappuccino in diesem Jahr, Mechthild kommt zufällig vorbei und raucht noch eine mit mir.

Als ich zuhause ankomme, klingelt kurze Zeit später Meret bei mir, wir wollten uns auch noch mal kurz treffen, unten im Park etwas spazieren gehen, sie möchte aber mal kurz hoch kommen und auf die Toilette. Das war ein Trick, denn sie muss gar nicht, hat stattdessen einen Riesen Korb dabei, sehr wahrscheinlich ein feiner Fresskorb, aber ich werde ihn erst Heiligabend auspacken. Für Marie hat sie auch ein Geschenk mitgebracht.

Diese Meret!

Ich sagte ja schon mal: Merets zweiter Vorname ist Großzügigkeit, ihr dritter Edelmut.


Drosten ist bei der Weihnachtssendung von Fest und Flauschig per Video dazu geschaltet. Hach Gott, er ist so sympathisch. Er gibt zu, dass er auch mal wieder gerne auf ein Konzert gehen würde, Jochen Distelmeyer live zu hören, wäre schon was schönes. Allerdings geht er nicht davon aus, dass der Kulturbetrieb vor Herbst wieder normal in Gang kommen könne.


Am Montag ist der kürzeste Tag des Jahres, danach werden die Tage endlich wieder länger und dann ist der Frühling und der Sommer ja auch schon bald in Sicht...so schnell wie hier die Zeit verfliegt.

Ausserdem stehen sich Saturn und Jupiter so nahe, dass sie zusammen wie ein einziger Stern aussehen. Das wird erst in 80 Jahren wieder der Fall sein. Wo ich dann wohl bin?


Marie ist so sprudelig und unermüdlich gut gelaunt, dieses Praktikum, so anstrengend es auch ist, hat anscheinend all ihre Lebensgeister geweckt. Egal was schief geht, sie amüsiert sich, schickt mir Fotos von schönen Regenbögen, Nachrichten in denen sie mir erzählt, dass sie ihren frühen Feierabend damit verbringt da auf dem Land die Natur und den Wald zu erkunden, und als sie sich verläuft, schickt sie mir eine Sprachnachricht, in der sie sich herzlich darüber kaputt lacht. Da ist nichts mehr von Enttäuschung, Verdruß, Zukunftsangst, oder gar Panik, sie ruht förmlich in sich selbst, es macht Spaß ihre Lebensfreude zu sehen.


Endlich ist Heiligabend, ich fahre früher zum Dienst, weil ich noch so vieles vorbereiten muss. Die Tischdekorationen hatte ich schon im Vorfeld für alle sechs Wohnbereiche in einzelne Tüten verpackt. Zwei Tüten für jeden von uns, für mich, für Adele und für die Lieblingskollegin. Ich suche noch im Internet die Weihnachtsgeschichte nach Matthäus, drucke sie für jeden von uns aus, damit wir sie später vorlesen können. Jetzt schneide ich nur noch die Tannenzweige, die ich im Garten gelagert hatte, in kleine Stücke, als Untergrund für die Tischdekorationen und Lichterketten, und verteile auch sie zu den Kisten, die ich noch mit Tischdecken und Servietten bestückt habe, damit meine beiden Kolleginnen, die mittlerweile auch eingetroffen sind, sie für ihre Wohnbereiche abholen können. Ich erkläre noch mal alles, den Ablauf, die Deko, wie man die Servietten aufrecht faltet, und mache mich auf den Weg zu meinem Wohnbereich, der ersten Etage.


Gestern wurde den Angehörigen mitgeteilt, dass sie sich über die Weihnachtstage von 12 bis 15 Uhr bei uns einem Schnelltest unterziehen können, wenn sie ihre Liebsten besuchen.

Ich erwarte jetzt Anstürme, aber es hält sich tatsächlich in Grenzen, bringt jedoch trotzdem meinen Zeitplan etwas durcheinander.


Ich werde gerade rechtzeitig mit dem Schmücken der Wohngruppen fertig als die erste Weihnachtsfeier, also nur ein Kaffeeklatsch mit Bescherung, bei der ich zu Beginn die Weihnachtsgeschichte vorlese, beginnt. Dann verteile ich die Geschenke an die Bewohner, einmal eins von uns, also vom Haus, ein Nachtlicht für jeden, und dann die herrlichen Geschenke von dieser Kölner Stiftung, für die wir vor einem Monat Geschenkvorschläge für die Bewohner aufgeschrieben hatten. Jetzt bekommen sie Lichtobjekte, feine Schals und Halstücher, gute Parfums und Pflegeprodukte, Eierlikör, Wein und Sekt, Handschuhe, Portemonnaies, Wandkalender, und noch mehr wirklich wertvolle Geschenke. Beim Auspacken muss ich meistens helfen, Karten vorlesen, und Schultern streicheln, weil so manch einsame Bewohnerin jetzt vor Rührung weint. Kaum bin ich da durch, rase ich auf die andere Wohngruppe, wo zeitversetzt jetzt das gleiche Programm abläuft.

Mir ist die ganze Zeit wahnsinnig heiß, mein Samtweihnachtskleid mit den Perlenfransen ist zwar ganz bezaubernd, aber viel zu warm in diesen stets überheizten Räumen.

Mein Papa weigerte sich das Bett zu verlassen, also bringe ich ihm und auch den anderen bettlägerigen Bewohnern die Geschenke ans Bett und bleibe ein wenig bei ihnen.

Als ich oben mal nachschaue ob in den Wohngruppen, für die die Lieblingskollegin zuständig war, alles in Ordnung ist, sehe ich nur einen Tannenzweig auf einem leeren Tisch. Als ich frage, ob sie etwa die Dekorationen aufgeräumt haben, die sollten doch ruhig liegen bleiben, da meint die Kollegin, „Nee, wieso, da ist doch die Deko!“

Ich muss fast weinen, als ich diese trostlosen Tische da sehe, mir fehlen die Worte.

Im Bastelzimmer, wo ich all die vorbereiteten Sachen gelagert habe, liegen die Tüten mit dem Goldglitzer, den Glöckchen, den Lichterketten, den Kugeln, den leuchtenden Tannenzapfen und selbstgebastelten Weihnachtsbäumchen aus schillernden Pfeiffenreinigern noch unberührt in ihren Tüten. Geht diese doofe Kuh wirklich so weit, nur um mich zu unterwandern, meinen Ansagen nur ja nicht zu folgen, den Bewohnern damit ein so tristes Weihnachtsfest zu bescheren? Ich schlucke zweimal, sage nichts und verlasse die Etage.

Dann ist auch schon offiziell mein Dienst zuende. Da ich aber noch dokumentieren muss, und ein wenig aufräumen und tatsächlich auch noch Mails beantworten, mache ich ein wenig Überstunden, sammle anschließend im ganzen Haus all die rumfliegenden Tüten mit Nikoläusen und Christstollen ein, die zuhauf schon vor zwei Wochen von uns beliefernden Apotheken gespendet wurden, die offenbar aber keiner mehr hier will, und werde sie auf meinem Rückweg an alle Obdachlosen verschenken, die mir begegnen.

Am Volksgarten komme ich an den gruseligen Russen vorbei, die schon morgens da besoffen rumrandalieren. Ängstlich rufe ich „Hallo!“ in die Dunkelheit, zwei Russen kommen strammen Schrittes auf mich zu, das wirkt geradezu bedrohlich, da habe ich schon die Hände voller Nikoläuse und Stollen, strecke sie ihnen entgegen und sage:

“Hier für Sie! Frohe Weihnachten!“

Der mürrische Blick ändert sich sofort, beide lächeln, hauchen mir dankbar ihre Fahne entgegen und bedanken sich in gebrochenem Deutsch.

Die nächsten sind die Leute, die sich eine Unterkunft unter dem Severinstorbogen gebaut haben, auch sie lächeln, so wie noch zwei Strassenmusiker. Den Rest bringe ich ins Männerwohnheim in meiner Strasse und sage dem Portier, dass dies für Achim sei. Er kennt aber keinen Achim. Nach Beschreibungen wie Achim aussieht, meint der Portier, ach Joachim! Vielen Dank!


Seit dem Nachmittag war Marie schon bei mir zuhause war und hatte den Rest, den Rotkohl von ihrem Biobauernhof und die Kartoffeln fertig gekocht, die Rouladen in Rotweinsauce hatte ich gestern schon gemacht. Jetzt bereiten wir noch den Nachtisch vor: Mascarpone mit Sahne und heißen Himbeeren, der traditionelle Weihnachtsnachtisch in unserer kleinen Familie. Wir stoßen mit Wein an, genießen unser Festmahl. David kommt per Videocall dazu als wir gerade mit der Hauptspeise fertig sind. So verbringen wir eine Dreiviertelstunde zusammen, seine Freundin ist dann auch zum Schluss dabei, Marie und ich prosten ihnen mit dem herrlichen Eierlikör zu, den Adele selbstgemacht und mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Es ist alles so entspannt, ich auch schon leicht angeschickert, dass wir uns nach dem Telefonat auf's Sofa fläzen und „Midsommar“, einen sehr bizarren Horrorfilm, anschauen, den ich hiermit nochmal ausdrücklich empfehlen möchte.

Kurz vor Mitternacht geht Marie.

Das war das unbeschwerteste Weihnachtsfest, das ich je hatte.


So beseelt schaue ich mir die Liveübertragung der mitternächtlichen Christmette im Kölner Dom an. Es fängt schon gut an. Ein mittdreißiger etwas pummeliger Mann in Messdieneroutfit singt in dieser kirchlichen Singsangmelodie die Entstehungsgeschichte der Erde, von vor Millionen von Jahren bis hin zu Christi Geburt. Das ist ja schon mal sehr aufgeschlossen.

Dann ziehen die ganzen Priester, Pfarrer, Bischöfe und Erzbischof Kardinal Woelki ein, die Messdiener wedeln Weihrauch in die coronabedingt spärlich besetzten Bänke, alle tragen Masken.

Zwei junge Mädchen singen engelsgleich aus irgendeiner Ecke, eine davon ist etwas schwach auf der Brust.

Als Woelki am Altar ankommt und beginnen will, hapert es mit der Technik, das ist witzig, wie er immer hilfesuchend nach links schaut und stöhnt.

Als erstes spricht er die Pandemie an, und das Nächstenliebe ja auch bedeutet sich an die Regeln zu halten um damit andere zu schützen.

Es folgt ein normaler Ablauf von Gebeten und Lesungen, die Mädchen singen Kyrie Eleison, endlich kommt „Gloria, In Excelsis Deo“, da singe ich laut mit, der Ton kackt zwischenzeitlich noch mal ab, eine leicht lispelnde Frau liest den Titus Brief, „Gottefs“, „Titufs“, „defs Retterfs,“, ich bin da genauso unbarmherzig, wie wenn jemand schielt und mich anguckt, oder wenn Rezo stottert, so wie letztens in einem Beitrag mit Ranga Yogeshwar. Mir tut das leid, aber ich kann das echt nicht ertragen, kann leider nie so tun, als bemerke ich das nicht, werde deswegen immer nervös und doof.

Das Evangelium des Lukas singt ein Pfarrer auch sehr schön in diesem Singsang vor. Die Messdiener stehen neben ihm in einer Wolke aus Weihrauch, dazu die Masken, die armen. Ich kann den Geruch von Weihrauch echt nicht ab, mir wird schnell schwindelig davon.

Bei den Fürbitten wird sogar für die gebetet, die unter sexueller Gewalt leiden mussten.

Aha, jetzt wird’s interessant.

Natürlich wird auch für die Verstorbenen der Corona Pandemie gebetet.

Und die heutige Kollekte geht an die Menschen in Lateinamerika, die besonders unter der Pandemie leiden.

Dann kommt meine Lieblingsstelle, seitdem ich ein kleines Kind bin.

Woelki hebt die geweihte Hostie und sagt:

„Seht, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt“ worauf wir dann sagen: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund!“ Man kann nicht sehen, ob die Hostien dann verteilt werden, das wäre ja ganz schön riskant mit geöffnetem Mund da zu stehen, weil jetzt nur noch die singenden Mädchen im Bild sind.

Ich sehe auf dem Youtube Kanal dass gerade 782 aktive Zuschauer dabei sind.

Nur 782 Bescheuerte wie ich?

Bei der Verabschiedung wendet sich Woelki noch mit ein paar „persönlichen Worten“ an die Gemeinde. Er geht auf die Pressemeldungen zu seinem Missbrauchs-Umgangs-Skandal ein und bittet um Verzeihung was er damit seiner Zunft angetan habe, er habe vor zwei Jahren sein Wort gegeben, die Vorgänge aufzuklären und die Verantwortlichen zu benennen, er stehe weiterhin zu diesem Wort, auch wenn das öffentlich anders gesehen und angezweifelt wird.

Das ist ja unglaublich. Er entschuldigt sich nicht dafür, dass er einen schuldigen Priester gedeckt hat, er missbraucht jetzt die Christmette um abzuwiegeln und sich persönlich in ein besseres Licht zu stellen.

Danach verlassen alle Priester den Altar und begeben sich auf ihren Gang durch die Kirche. Die beiden Mädchen singen „Stille Nacht, Heilige Nacht“, dann beginnt das barocke Rausschmeißer-Orgelgeschwurbel. Bis der letzte Ton verklingt sind seit Anfang der Messe eine Stunde und 25 Minuten vergangen.

Im Abspann sehe ich, dass eins der Mädchen den selben Nachnamen wie der Organist trägt. Vetternwirtschaft, wohin man nur schaut. Klüngelei, wie man bei uns in Köln sagt.




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