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Dienstag, 8. Dezember

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 8. Dez. 2020
  • 5 Min. Lesezeit

Die letzte Woche war für Tommy die Woche der Zurückweisungen.

Nichts wollte so richtig bei ihm klappen, als wir uns zum Cappuccino treffen, wirkt er etwas frustriert. Ich fange an, die positiven Seiten der Ablehnungen zu beleuchten, da unterbricht er mich,

„Das weiß ich selber, du musst mich nicht trösten!“

„Ich wollte dich gar nicht trösten. Ich wollte eigentlich nur darauf hinaus, was für ein Loser du bist. Nichts gelingt dir, du bringst es einfach nicht, und das wird noch ewig so weitergehen, ein Misserfolg nach dem anderen. Du Spacko!“

„Ok, das will ich hören.“

Danach diskutieren wir noch ein bisschen hitzig darüber, ob Männer mehr darunter leiden (optisch) alt zu werden als Frauen, wovon Tommy felsenfest überzeugt ist. Sofort komme ich ihm mit dem allgemein bekannten Druck der Attraktivität bei Frauen, denen sie schon von ganz früh ausgesetzt sind, und leiden dementsprechend dann noch mal wenn der Körper sich altersmäßig verändert, die Haut, der Hals, die Arme, die Beine die grauen Haare usw. Okay, gebe ich zu, immer mehr Männer orientieren sich mittlerweile auch nach einem gewissen Schönheitsideal, dennoch ist ein 60jähriger Mann, mit Geheimratsecken, Glatze oder Bierbauch in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch attraktiver als eine 60jährige Frau mit faltiger Haut, und diese Selbstsicherheit spürt man diesen Männern auch an. Er argumentiert andauernd dagegen. Ich wiederum behaupte dass Männer, je älter sie werden, durchaus ihre Hässlichkeit der Jugend verlieren und immer schöner werden, allein diese charmanten grauen Haare, unterstreiche diese These indem ich auf vorbeilaufende Männer um die 60 zeige, die alle irgendwie gut aussehen. Als er dennoch nicht aufgibt, sage ich ihm, dass ich ihm nicht widerspreche, weil ich eine Besserwisserin bin, sondern weil ich es einfach wirklich besser weiß. Da gibt er endlich auf.


In England wurden die ersten Impfungen ausgeführt, eine 90jährige ist die erste und wird dabei gefilmt, Russland legt nach mit eigenem Impfstoff: „Sputnik V“.


Ich mache mir Sorgen um Achim, denn wir haben ihn seit langem nicht mehr gesehen.

Klar, die Aussengastronomie ist seit Wochen verboten, er findet bestimmt kaum Leute die er draußen anschnorren kann. Dann muss er wohl viel mit der Bahn fahren um auf Leute zu treffen, um an seine täglichen Euros zu kommen. Und deswegen sehen wir ihn wohl nicht mehr. Hoffentlich.


Lori, meine Freundin, die die wundervollen Bewohnerportraits bei uns im Heim gemacht hat, veröffentlicht auf Instagram seit Tagen eine Art Tagebuch-Blog, in dem es um ihren Sohn Toni geht. Er ist drogenabhängig, Epileptiker, und sie beschreibt die fürchterlichen Ereignisse rund um seine mehrstündige Operation am Gehirn, deren möglichen Konsequenzen (bis hin zu „er wird es vielleicht nicht überleben“), dann wie Toni das dann übersteht, aber nicht abzusehen ist, wie weit er sich erholen kann, welche Schäden womöglich bleiben, wie nervös und ängstlich Lori ist, wie Toni, noch gelähmt, nur eins haben will: Drogen, wenigstens etwas zu kiffen, sie erzählt von seinen Wahrnehmungsstörungen, ein ewiges ungeheuerliches Leid auf allen Seiten, dann Tonis Ausbrüche aus der Klinik, und er plötzlich bei ihr vor der Tür steht, den Kommunikationsproblemen mit den behandelnden Ärzten, ihre Handlungsunfähigkeit, es ist kaum zu ertragen, ich kann gar nicht reagieren, es macht mich sprachlos, mir fehlen tatsächlich die Worte, möchte mich deswegen nicht einreihen in die mitfühlenden und aufbauenden Kommentare unter ihren Posts, es erscheint mir alles zu profan und nicht angemessen, mir tut es so wahnsinnig leid, sie beschreibt es auch so herzzerreißend eindringlich, dass ich vollkommen mitgenommen bin, nach jedem Eintrag den sie veröffentlicht. Es ist so schrecklich zu sehen wie ohnmächtig sie ist, ein Alptraum.


An meinem Sonntagsdienst, als Nikolaus war, verteilte ich an unsere 80 Bewohner 80 Schokoladen-Nikoläuse.


Anfang der Woche kommen diese Kack-Glühweintouren auch ganz öffentlich in Verruf.

Das ändert aber erstmal nichts, ich muss mir immer noch täglich meinen Weg durch die rumstehenden Menschenmassen im Slalomparcours nachhause bahnen.

Merkel: „Wir reden zu viel über Glühwein-Stände und zu wenig über Krankenpfleger und Krankenschwestern“


Meine zweiter Physiotermin wird zu einem Schmerzerlebnis der besonderen Art. Der Therapeut beschäftigt sich ausschließlich mit meinen Halswirbeln, drückt hier und da, ich fasse es nicht, was für Schmerzen das sind, mir kommen die Tränen, aber ich will es aushalten, er bittet mich auch um Aushalten, denn sonst bringe das nichts, es könnte auch sein, dass ich anschließend Kopfschmerzen bekomme, aber dann könnte ich die ja besser akzeptieren wenn ich wüsste wo die herrühren. Na herrlich. Schniefend bedanke ich mich zum Abschied, und lass mir Zeit beim Anziehen, ich muss mich erstmal wieder sammeln.


Die Hauswirtschaftschefin (eine der wenigen die sich richtig gut mir meiner „Lieblingskollegin“ versteht) pampt mich die letzten Tage für jeden Blödsinn an, ihr Ton ist ekelhaft und respektlos. Das konnte ich immer wieder beobachten wenn sie mit ihren Untergebenen sprach, und war jedesmal entsetzt. Jetzt spricht sie also auch noch mit mir in diesem genervten respektlosen Ton. Ich bleibe aber ruhig, pampe nicht zurück, gewähre ihr eine Schonfrist, da sie sich vielleicht wegen des Weihnachtsstresses der aktuell bei uns im Haus herrscht, nicht im Griff hat. Im Januar werde ich aber zurückpampen, wenn sie nicht damit aufhört.

Ich begebe mich allerdings in Anouks Büro, sie ist heute nicht da, um von da aus zu arbeiten, um nicht mit dieser anstrengenden Person in einem Raum zu sein. Sie kommt trotzdem ab und zu angeschossen um wieder irgendetwas in einem völlig unangemessenen Ton zu kommentieren.

Sie mischt sich auch ein als Adele wegen eines langen Spätdienstes sofort mit ihrer Mittagspause beginnt, um direkt etwas zu essen, da sie aufgrund des Tagesplanes wohl sonst nicht mehr dazu kommt. Obwohl sie das nicht das Geringste angeht, was meine Mitarbeiter wann wie tun, putzt sie sie verständnislos runter, das geht ja gar nicht, mit einer Pause den Dienst zu beginnen, unmöglich. Sie hofft ja auch, dass wenn Anouk in Mutterschaftsurlaub geht, und eine Vertretung für sie eingestellt wird, dann endlich „Zucht und Ordnung“ bei uns im sozialen Dienst eintritt. Oh Mann, was ist nur mit dieser Frau los.


Kein Wunder, dass mein Bauch schmerzt. Er ist weiterhin wie mit Steinen gefüllt, schwer und aufgeplustert, ich hab kaum noch Appetit, zuhause geht’s dann mit Durchfall weiter, was tatsächlich eine kurze Entlastung darstellt, allerdings in phänomenalem Durst und allgemeiner Schwäche endet.


Die Virologen fordern eindringlich, dass sofort gehandelt werden muss, da der Lockdown Light offensichtlich gescheitert ist.


Mittwoch bis Freitag, also ab morgen, arbeite ich jeweils von 11:00 bis 19:30 Uhr, weil ich alle drei Weihnachtsessen der jeweiligen Feiern der Wohnbereiche begleite. Vorher natürlich die jeweiligen Wohngruppen weihnachtlich schmücke und die Tische festlich eindecke.

Hab ein wenig Angst, wie ich das aushalte, die Hauswirtschaftsfrau wird nämlich auch immer dabei sein, und die Plätzchenback-Aktionen im Vorfeld sind zeitlich so knapp bemessen, das sieht nach Stress aus, die Lieblingskollegin hat auch schon wieder Oberwasser, wenn ich schon ihr aufdringliches, aufgesetztes lautes Lachen in der Ferne höre, krampft sich bei mir alles zusammen.

Ob mein Bauch wohl mitspielt, oder ob mich wieder unberechenbarer Durchfall an mein Zuhause kettet?




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