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Freitag, 3. Juli

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 3. Juli 2020
  • 4 Min. Lesezeit

Heute ist mir was total Dummes passiert.

Da werden sie mich noch in 87 Jahren mit aufziehen.

Irgendwie war das heute eh nicht mein Tag, auch nicht der von sämtlichen Bewohnern, als wäre schon Vollmond, alle bekloppt.

Paranoia hier, Eifersucht dort, Fluchtgedanken hie, Fluchtumsetzungen da, Geschrei in der Gruppe, Verzweiflung im Kämmerlein, Erkrankungen, Geifer, Tränen, Kotze, Kacke… überall schaute ich vorbei, schlichtete, tröstete, reichte Kamillentee an, holte zurück, begleitete, beantwortete Fragen, stellte den Fernseher wieder richtig ein, drehte die Radiolautstärke mal hoch, woanders runter, kontrollierte die Temperatur bei Besuchern, reichte Kaffee und Kuchen, es war wirklich viel los.

Frau R. kam mit ihrem Rollator an mir vorbei und informierte mich, dass sie mal eben ins Dorf geht, sie müsse was einkaufen.

„Dorf“ nennen manche Bewohner die Hauptstrasse auf der die ganzen Geschäfte liegen. Vor allem die dementen Bewohner nennen das so.

Ich gab ihr noch eine Mundnasenmaske aus dem Dienstzimmer, vor dem ich grade stand, mit auf den Weg. Drei Kollegen saßen da drin, und meinten ich soll ihr eine von den anderen Masken geben, die für die Bewohner und Angehörigen, nicht die, die Pfleger immer nehmen.

Nach einer halben Stunde, ich war längst wieder in meinem Büro und dokumentierte meine Kontakte mit den Bewohnern, rief mich eine Pflegerin an, wo denn Frau R. sei.

„Na, einkaufen!“

„Allein?“

„Äh, ja.“

„Waaaaas???“

In dem Moment wurde mir klar, dass ich eine demente, meist orientierungslose Frau mutterseelenallein in die verwirrende Welt hab losziehen lassen.

Ihre Tochter war gerade angekommen und wollte sie besuchen.

Sofort schwang sich Massimo aufs Rad und fuhr ins Dorf um sie zu suchen, ich tat dasselbe 5 Minuten später.

Mit Herzrasen, wallender Hitze, Selbstvorwürfen und immer noch ungläubig über mein eigenes Fehlverhalten, klapperte ich ein paar Läden ab.

Wie konnte mir das nur passieren?

Es lag an dieser Selbstverständlichkeit mit der sich Frau R. bei mir abmeldete. Und daran, dass ich sie wirklich noch nicht soo gut kenne, ihre Demenz noch nicht soo fortgeschritten ist, und sie oft nicht mal im Ansatz dement wirkt. Trotzdem hätte ich wenigstens die Pfleger fragen müssen, ob das okay ist. Andererseits hatte mich diese Maskentauscherei im Dienstzimmer weiterhin in dieser Selbstverständlichkeit belassen, die hätten doch auch was sagen können! Später meinten sie, sie hätten gedacht, ich sei mit ihr in den Garten oder so. Als ob sie dann eine Maske brauchen würde.

Ich war also schuld, die Aufregung groß, die Panik schwoll an.

Es wäre jetzt nicht wirklich etwas Schlimmes passiert. Sie war warm angezogen, hatte ihren Rollator dabei und brauchte auch nicht dringend irgendwelche lebensnotwendigen Medikamente. Selbst wenn sie kurzerhand in einen Bus gestiegen wäre, am anderen Ende der Stadt angekommen, wäre sie irgendwann aufgeflogen, oder sie hätte selbst um Hilfe gebeten, weil sie sich verlaufen hat, und die Polizei würde sie sicher nachhause bringen.

Das Schlimme war, dass ICH das zu verantworten hatte. Als Demenz-Profi!

Massimo fand sie im „dm“, im „Seifenladen“, wie sie selber später erzählte.

Meine Güte, diese Erleichterung!

Ich entschuldigte mich tausendmal bei der Tochter, die es gar nicht so schlimm fand.

Frau R. verstand den ganzen Tohuwabohu überhaupt nicht, sie hätte doch nur kurz was eingekauft. Massimo erzählte auch, dass sie von allein den richtigen Heimweg angetreten hätte. Es wäre also alles niemals aufgefallen, wenn sie seelenruhig nach einer Zeit zurück gekommen wäre und im Gruppenraum ihren Kaffee zu sich genommen hätte.

Nur weil die Tochter in dem Moment ihres Verschwindens auftauchte, fiel es auf, mit dem Scheinwerfer auf mich.

Diese peinliche Geschichte verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Haus.

Wie gesagt, das wird man mir noch öfter unter die Nase reiben.


Als ich nach Feierabend völlig geschafft im Café bei Tommy ankomme, verlor ich kurz vorher meinen Haustürschlüssel aus meiner Tasche, die offen in meinem Fahrradkörbchen lag. Eine Passantin hob ihn auf und gab ihn mir. Dabei musste ich feststellen, dass als nächstes mein Portemonnaie mit meinem ganzen Leben drin herausgefallen wäre.

Wie unvorsichtig ich schon wieder war! Das nervt ja total! Was ist nur mit mir los?

Ach, da schaue ich doch mal besser nach ob eventuell schon die nächstschlimmste Katastrophe eingetreten ist, ob ich vielleicht den Schlüssel von der Arbeit verloren habe.

Ich finde ihn nicht!

Die ganze Tasche auf den Kopf gestellt, herrjeh, er ist wirklich weg.

Jetzt kann ich den ganzen Scheiß-Weg wieder zurück fahren und akribisch nach dem Scheiß-Schlüssel suchen.

Das ist dann auch schon das zweite Mal, dass ich diesen wichtigen Schlüssel verloren habe.

Das gibt so einen Ärger! Wegen der Schließanlage und so weiter, Zigtausend kostet das, weil man alles neu machen muss, wurde mir schon beim letzen Mal vorgeworfen.

Aber mir fällt ein, dass ich Massimo anrufen kann, er arbeitet noch, und er kann gucken, ob ich ihn vielleicht doch nur einfach liegen gelassen habe.

Lieber Gott, lass es bitte so sein. Hör bitte auf mir Steine in den Weg zu legen.

Ich hab’s ja kapiert. Ich bin unkonzentriert, unvorsichtig, verantwortungslos, leichtsinnig, nicht ganz bei Trost, stimmt alles.

Aber Massimo geht nicht ans Telefon. Dann erreiche ich eine Pflegerin, die Massimo erreicht. Nach ein paar Minuten ruft sie mich zurück. Ich hatte den verkackten Schlüssel in der Bürotür stecken lassen. STECKEN LASSEN! So doof das auch ist, er ist wenigstens nicht verloren gegangen. Danke lieber Gott.

In diesen ersten 15 Minuten im Café ist Tommy mehr oder weniger stiller Beobachter meiner dramatischen Suche, den verzweifelten Selbstgesprächen und den hektischen Anrufen, hat sowieso kaum noch Zeit, möchte gleich zu Kompakt, dort wird draußen solange es hell ist eine kleine Releaseparty gefeiert. Er schüttelt verständnislos den Kopf. Drama, Drama, Drama.

Kein Wunder dass ich zuhause trotz hysterischem Vogelgezwitscher nach wenigen Minuten einschlafe.

Als ich wach werde, schaue ich die Nachrichten. In Botswana sterben hunderte Elefanten. Kippen einfach um. Keiner weiß warum.



ree



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