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Freitag, 17. April

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 17. Apr. 2020
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 19. Mai 2020

Den Vormittag verbringe ich in nervöser Angst, da sich Tommy weder auf meinen schriftlichen Glückwunsch noch auf meinen Anruf hin meldet.

Kann es sein, dass er sich vor lauter Kummer und wegen seiner Schlafprobleme zuviele Schlaftabletten reingepfiffen hat?

Irgendwann sehe ich, dass er meine Nachricht wenigstens gelesen hat.

Puh, okay.

Mittags meldet er sich dann endlich, wir verabreden uns mit Meret und Gregor auf der Coronawiese. Ich packe noch ein schönes großes indisches Tuch ein, damit wir jeweils zu zweit entweder auf der Bank oder auf der Decke sitzen können. Die anderen haben Cremant und Sektgläser mitgebracht.

Die Stimmung ist zumindest bei Tommy angespannt, wir drei versuchen durch alberne Beiträge etwas Lockerheit zu versprühen. Meistens sitze ich mit Meret auf der Decke und kann vor lauter Hitze und Unbequemlichkeit nicht ruhig sitzen. Oder liegen oder aufstehen oder wieder hinsetzen, Schuhe aus, T-Shirt aus…

Tommy stellt sich immer wieder etwas abseits um zB. mit seiner Familie per Zoom eine Videokonferenz abzuhalten. Meret und ich überlegen uns derweil tolle Methoden, wie wir reich werden könnten.

„Man könnte so etwas wie abziehbare Aufkleber für die Wand erfinden, mit tollen Aussagen, sowas wie „Kaffee, Cappuccino - Latte Macchiato“!“

„Geniale Idee, die könnte man dann Tattoos nennen, und auch Bilder, zum Beipiel so Städteshilouetten zum aufkleben herstellen.“

„Großartig, so ein Köln Panorama zum Beispiel. Fernsehturm, St. Martin, der Dom, die Hohenzollernbrücke! Oder New York!“

„Ja, spitze. Ich hab mir aber auch grad überlegt, dass man davon auch Postkarten produzieren könnte, mit so Sinnsprüchen. Mit ganz tollen Messages. Wie zum Beispiel „Carpe Diem“! Das heißt lobe den Tag. Also das meint, man solle jeden Tag genießen, wie findeste das?“

„Das ist phänomenal! Echt jetzt! Letztens hatte ich auch eine Eingebung. Gregor meinte: willst du noch was Wein, dein Glas ist schon halb leer. Da dachte ich, nee, das ist doch halb voll. Weißt du?“

„Oh Mann, das ist echt deep. Das offenbart ja voll die Persönlichkeit, man könnte fast sagen, der eine sieht es so und ist optimistisch und der andere ist eher pessimistisch. Mensch, da hast du was ganz Elementares mit ausgedrückt. Wow. Wir sind so begnadet. Diese Postkarten würden weggehen wie warme Semmeln, wir werden reich!“


Tommy kommt wieder zurück und scheint nun doch ein wenig seinen Feiertag zu genießen, seine Familie war lieb, die Sonne scheint, der Cremant wirkt, er meint, er sei überfordert gewesen, von überall her kommen Glückwünsche, er könne noch gar nicht allen antworten, und nicht nur digital, zuhause sind viel Pakete, Briefe und Karten angekommen, da müsse er sich später drum kümmern.

Ich muss noch einkaufen, außerdem hat sich David für einen kurzen Besuch angemeldet, der erste seit Anfang Februar, also mache ich gegen halb sechs einen Break, stehe ab dem frühen Abend wieder zur Verfügung, falls Tommy noch was mit mir essen möchte, wir dann was aus einem Restaurant holen. Mit Meret und Gregor fährt er an den Rhein, an die "Kölsche Riviera".


Zuhause angekommen finde ich im Briefkasten eine Postkarte von meiner Lieblingsnichte Milena aus Brüssel. Auf der einen Seite ist das Wort „Koksnutte“ wunderschön ausgemalt, auf der anderen Seite schreibt sie mir zuckersüße Worte voll Liebe.

Als ich sie anrufe um mich zu bedanken, auch für die schöne Erinnerung an die Geschichte mit ihrer Schwester damals.

„Wie, was für eine Geschichte?“

„Ach, du hast mir die Karte gar nicht deswegen geschickt?“

Als ich vor Jahren mal aus Gag zu ihrer Schwester, also meiner anderen Nichte, „Du alte Koksnutte!“ gesagt habe, zu diesem Zeitpunkt war das voll die angesagte lustige Beschimpfung, fand das ihre Schwester aber gar nicht lustig, brach stattdessen für eine lange Zeit den Kontakt zu mir ab. Das wiederum findet Milena sehr lustig, und ist begeistert, wie intuitiv sie die richtige Postkarte für mich ausgesucht hat.

David kündigt sich für ca. 19:20 Uhr an, wird zwar knapp, wenn ich gegen acht mit Tommy essen will, aber er will ja eh nicht lang bleiben, hat großen Schiss, dass er mich anstecken könnte.

Er meldet sich aber erst um kurz nach acht mit,

„Also, ich mach mich dann mal jetzt auf den Weg…“

Ich raste aus, bin tief beleidigt, werfe ihm Respektlosigkeit, Unverbindlichkeit, und verletzendes Verhalten vor. Da ich mich jetzt beeilen muss, weil das Restaurant bald schließen wird, beende ich das Gespräch rigoros.

Natürlich ärgere ich mich über mich selber, weil ich doch weiß, dass David immer eine eigene Zeitwahrnehmung hat, wir uns immer, wirklich immer, darüber streiten, dass er sich nie, niemals, an verabredete Zeiten hält, was ganz oft dann bei mir zu Komplikationen führt, und ich vor Ärger jedesmal in die Luft gehe, und mir schwöre, mich nie wieder auf ihn zu verlassen. Bei der nächsten Verabredung habe ich alles vergessen, und gehe ganz selbstverständlich davon aus, dass er in einem angemessen Zeitrahmen kommt. Schon allein weil er ja weiß, wie persönlich ich das nehme.

Bis ich am Restaurant angekommen bin, hat er mehrmals versucht mich anzurufen und mir mehrere Nachrichten geschrieben. Während ich auf das Essen warte, rufe ich ihn also zurück, um Frieden zu schließen, damit ich auch ausgeglichener bin, wenn ich gleich wieder auf den sensiblen Tommy treffe.

Er entschuldigt sich umständlich, versucht mir trotzdem klar zu machen, dass ich die Doofe bin, weil ich seine Weigerung, sich an Zeiten zu halten, jedesmal persönlich nehme, obwohl es doch nur ein kleines Manko seiner Persönlichkeit darstellt, dass er, wenn er sich jetzt irgendwie beeilen müsste, sich lieber diesen Stress des Beeilens erspart. Er würde ja auch meine Persönlichkeitsfehler akzeptieren, zum Beispiel, dass ich oft so belehrend zu ihm bin, obwohl er längst erwachsen ist.

Ich könnte schon wieder ausrasten, halte ihm seinen in der Pubertät festbetonierten egoistischen Rebellenscheiß vor, wir streiten also wieder bis ich kurzatmig bin, aber wir kriegen die Kurve, haben uns wieder lieb, und treffen uns dann lieber irgendwann spontan, wenn es bei uns beiden kurzfristig passt. Das ist am sichersten.

Das Essen ist fertig, ich bin emotional derbe aufgewühlt, der dünnhäutige Tommy, meine Schwäche aufgrund der heute mehrmals aufgetauchten Durchfälle, die Enttäuschung, dass ich meinen geliebten und sehr vermissten Sohn doch nicht sehen kann, der überflüssige Streit mit ihm, die jetzige Herausforderung, all das nicht zu zeigen um einen harmonischen Abend mit Tommy zu verbringen, Jungejunge!

Als ich in Tommys Strasse einbiege, scheint es Punkt 21 Uhr zu sein, denn plötzlich wird aus allen Fenstern und Balkonen geklatscht und gejuchzt. Ich rolle da auf der menschenleeren Strasse, es fühlt sich kurz an, als ob sie mich persönlich beklatschen, auf der Tour de France oder so, und ich zische ein „Och, haltet doch die Fresse!“, aber der Applaus wird lauter und zieht sich über die ganze lange Strasse, es ist unfassbar, ich bekomme Gänsehaut, und fange augenblicklich an zu heulen. Meine Güte, die machen das echt immer noch, aus Solidarität, mit soviel Freude, so viele Menschen, ich bin total ergriffen und kriege mich gar nicht ein. Schluchzend schließe ich mein Rad ab, der Beifall nimmt kein Ende und ist immer noch total überwältigend. Als ich heulend in Tommys Wohnung ankomme, Brille voller Tränen, laufende Nase, vermutet er sofort „Ojeh, David?“

„Nein, mit David habe ich mich vertragen. Die haben da alle geklatscht gerade, das war so ergreifend, ich hab sowas ja noch nie erlebt. Bei mir im Hinterhof klatscht ja keiner. Und ich war so böse sofort, hab gesagt, sie sollen die Fresse halten. Aber es war so toll, so intensiv. Ich habe das noch nie mitbekommen, wie sich das anhört, das war ja unglaublich!“

Unter meinem Geschluchze konnte er bestimmt kaum was verstehen, aber ich plappere immer weiter und schneutze mir abschließend die Nase. Tommy steht ratlos zwei Meter vor mir und meint: „Ich kann dich ja nicht in den Arm nehmen..“

„ Egal, ist ja schon gut, jetzt ist alles raus. Ich beruhige mich jetzt. Lass uns essen.“


Vom Wein trinke ich drei Gläser, sehr schnell, bin angenehm beduselt als ich mich nach dem Essen und einer ausnahmsweise erlaubten Zigarette an seinem Fenster nach Hause fahre.

Wenn ich nicht um neun Uhr in diese Klatschorgie geraten wäre, wo sich all meine aufgestauten Gefühle auf eine wunderbare Weise entladen konnten, wie wäre wohl der restliche Abend geworden? Ach, es ist doch immer wieder wunderbar, wie einem Zufälle in die Hände spielen können.


Statistik 23:00 Uhr

139.702 Infizierte 4.203 Todesfälle 83.114 wieder gesund



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