Freitag, 10. Juli
- Mai Buko
- 10. Juli 2020
- 4 Min. Lesezeit
Die Nacht konnte ich vor Aufregung kaum schlafen, ich fahre nach Hamburg!
Alles hat gut geklappt, ich hab alles richtig gemacht, das Ticket ist in meiner DB-App hinterlegt, der reservierte Platz ist frei und in Fahrtrichtung.
Jetzt muss ich nur noch 4 Stunden aushalten ohne einmal rauchen zu können.
Das klappt die ersten zwei Stunden hervorragend, aber je mehr ich an meiner Stulle rumknabbere umso größer wird der Schmacht.
Beim Lesen überfällt mich nach 15 Minuten jedesmal eine so ungeheure Müdigkeit, dass ich die Augen schließe, nicht zum Schlafen, um Gottes Willen, niemals könnte ich in der Öffentlichkeit schlafen, sondern um mir selber ein Schnippchen zu schlagen, ein bisschen Augen zu, ist wie ein bisschen schlafen und dann geht’s frisch weiter mit Lesen. So wechsele ich das die ganze Fahrt ab.
Die Maske hab ich die meiste Zeit unterm Kinn, ich sitze eh seit Münster alleine in meiner Reihe. Und die Kontrolleure sagen auch nichts.
Endlich kommt der Zug um halb sieben mit 20 Minuten Verspätung in Hamburg an.
Die monotone, ruhige Zugfahrt, bei der man ganz bei sich war, wird von dem Gewimmel der Menschen am Bahnsteig jäh abgelöst und zur größten Herausforderung.
Fast laufen Frank und ich aneinander vorbei.
Es ist so schön ihn wiederzusehen, das letzte Mal haben wir uns nur kurz in Belgien bei einem Festival sehen können, das war vor zwei oder drei Jahren. Er versucht die Stange von meinem Trolly auszuziehen, kriegt fast einen Nervenzusammenbruch, weil es nicht geht, denn ich habe den kleinen Scheißkoffer schon im Zug geschrottet, als ich meine Fressdose und die Flasche Wasser aus der Aussentasche operieren musste. Dabei bin ich wohl an das innere Gestänge gekommen. Das ist eh ein altes Erbstück einer ehemaligen Bewohnerin, und war schon bei meiner letzten Reise nach Sofia zu Josek angeknackst. Aber was soll’s, ich hab’s doch, das Geld muss fließen, ich hol mir hier in Hamburg einfach einen neuen bei einem der Millionen Türken Shops, bei denen wir mittlerweile angelangt sind.
Am Bahnhof, und hier am Steindamm, alles ist der reinste Moloch, oder schöner ausgedrückt: ich fühl mich wie in New York, ein Treiben, ein Durcheinander, alle Hautfarben dieser Welt, Neonlichter, glitzernde Läden, rumhängende zwielichtige Typen, ein bisschen gefährlich, verhüllte Frauen beim Einkauf, ein bisschen Markt in Marrakesch, und mittendrin mein Hotel, die Nacht zu 50 Euro.
In der ersten Etage liegt die Rezeption, da steigen wir zufuss eine enge Treppe hoch. Beim Concierge wünsche ich mir ein „besonders schönes Zimmer“, nach hinten raus, das will er mir gerne erfüllen. Ich komme auf die 4 Etage in ein Zimmer mit einem großen französischem Bett, einem Schreibtisch, einer Dusche mit festgetackertem Duschgel, alles sauber und okay, ein Fenster zum Hof, nicht einsehbar und gut zum heimlichen Rauchen. Nur der Geruch, ekelhaft. Zuerst denk ich, das ist im Zimmer und erinnert schwer an Urin. Aber mittlerweile habe ich festgestellt dass es aus dem Bad kommt, und eher Moder oder Schimmel ist. Da im Bad alles picobello renoviert und gereinigt aussieht, kommt es vielleicht aus der Lüftung? Das gilt es noch heraus zu kriegen.
Der Aufzug ist der Hammer. Da passen maximal zwei Personen rein. Oder einer mit Koffer. Zuerst wartet man dann 5000 Stunden dass sich die Türe schließt, dann braucht es weitere Millionen Stunden, bis er ankommt, dann ist man aber nicht auf der 5. Etage angekommen, wo man aussteigen muss, wenn man in die 4. möchte, sondern auf der 1. Etage. Weil der Aufzug so eingestellt ist, dass er bei jeder Fahrt dort hält und die Türe öffnet, weil da die Rezeption ist. Dann schließt sich die Tür nach einer gefühlten Ewigkeit und begibt sich in Zeitlupe weiter nach oben. Runter gehe ich jetzt immer durchs Treppenhaus.
Nachdem ich den Koffer abgestellt hatte, den Computer im Bett versteckt, ganz schlauer Trick, gehen wir zu Frank, der um die Ecke wohnt.
Er macht mir einen frischen leckeren Smoothie, wir erzählen was, dann ziehe ich einen Judoanzug von ihm an, und wir „rollen“ ein wenig auf den Matten. Er zeigt mir ein paar Grundtechniken des Brazilian Jiu Jitsu, und ich muss zugeben, das macht echt Spaß.
Es gibt zwar auch hier direkt wieder Einschränkungen, als er meinem Hals zu nahe kommt, um einen „Choke“ zu machen, gerate ich schon in Panik und klopfe zweimal, was das Zeichen für „Bitte aufhören!“ ist.
Aber ich lerne wie die Abwehrtechnik „Shrimp“ funktioniert, Frank lobt mich, und meint ich hätte wirklich Talent.
Das freut mich sehr, vielleicht finde ich ja in Köln jemanden mit dem ich das machen kann, zumindest mal versuchen, denn mit einem Fremden möchte ich nicht in so einen nahen Körperkontakt kommen. Mit Frank war das okay, weil ich ihn mag, aber was, wenn der andere ein stinkender unsympathischer Kerl ist?
Das Gute an BJJ wäre ja, dass ich darüber meine Kondition und Kraft steigern könnte, und das nicht so langweilig wäre wie „Walking“ oder sowas, worüber ich schon nachgedacht hatte, nach meinem Abkacken bei der letzten Yoga-Session. BJJ erinnert mich sogar ein wenig an Yoga, wegen der Körperhaltungen und Drehungen, und wie bildlich das beschrieben wird, und ich begreife, dass sich das, je mehr man das kann, in eine Art Schach verwandelt, durch die Strategien, die man lernt und variiert, und dabei natürlich auf einen Partner oder Gegner trifft, der ebenfalls mit Strategien arbeitet, die man abwehren muss. Frank und ich rangeln da und geraten echt ins Schwitzen, ein paar Mal klopft sogar Frank zweimal ab, da ich durch eine gerade erlernte Hebeltechnik seine Atemwege blockiere.
Später kocht er etwas fantastisches Asiatisches. So lecker! Gisa ist zum Essen dazu gekommen, und wir trinken Champagner. Beide freuen sich über die Abzüge der Annemarie Schwarzenbach Fotografien, die ich den beiden mitgebracht habe, die ich echt gestern noch in letzter Sekunde geliefert bekommen hatte.
Es ist wirklich toll, hier zu sein, in Franks gemütlicher Wohnung mit all dem Krimskrams, den Pflanzen, Bildern, der perfekten Küche mit Kräutern und Gewürzen und dem Loch in der Arbeitsplatte, in das man den Müll schiebt, dem Daybed im Studio, den Kampf-Matten im Schlafzimmer, und der Sauna im Wohnzimmer, all die Eindrücke, die ganze Reise, die vielen Menschen auf der Strasse vor meinem Hotel, das Kämpfen mit Frank, ich bin wahnsinnig erschöpft und möchte zurück ins Hotel. Frank begleitet mich noch, da ich jetzt doch etwas Angst habe, im Dunkeln. Noch während der ersten „Sternengeschichten“-Podcastfolge schlafe ich ein.

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