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Freitag, 1. Mai

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 1. Mai 2020
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 19. Mai 2020

Meine Versuche Anouk zu überzeugen, dass, wenn man am Tag der Arbeit arbeitet, ja jede Stunde doppelt zählt, ich also nur 4 Stunden Dienst haben werde, scheiterten kläglich, weil sie einen Link dafür als Beweis haben wollte.

Meine Überstunden sind leider auch im Minus, obwohl ich dieses Zählsystem nie verstehe, vom Gefühl her unfassbar viele Überstunden habe, Anouk mir jedesmal erneut genervt erklärt, wie das errechnet wird, weil sich meine Verwunderung jedesmal so anhört, als ob ich ihr vorwerfe, da irgendetwas bei der Erfassung falsch zu machen, was ich allerdings nicht tue. Ich check es einfach nicht.

Ich kann meinen Dienst also heute nicht verkürzen und muss tatsächlich eine volle Schicht von 8,5 Stunden abrackern. Aber ich bin soooo müde.

Mein Problem ist genau das Gegenteil von Tommys Problem: während er schreckliche Schlafprobleme hat, könnte ich jederzeit sofort einschlafen. Am Dienstag bin ich um 22 Uhr eingeschlafen und habe bis 9 Uhr nahezu durchgeschlafen. Hab Mittwoch dann etwas gefrühstückt, rumgedaddelt, mich nochmal gegen 11 ins Bett gelegt, und wieder bis 15 Uhr geschlafen. Obwohl ich mir viel vorgenommen hatte für meinen freien Tag, habe ich am Ende hauptsächlich abgeschimmelt.

Ich erlaube mir das auch, weil ich so wahnsinnig erschöpft bin.

Dass wir alle so erschöpft sind im sozialen Dienst, haben wir gestern noch zu dritt, Anouk, Kollegin Feist und ich, im Gespräch erörtert. Es ist nicht nur, dass die Situation im Haus anstrengender geworden ist, weil die Bewohner gefrusteter sind, weil keine Besuche mehr erlaubt sind, und sie selber sich auch nicht groß vom Haus entfernen dürfen, sondern auch, weil wir keine Struktur, keine Regelmäßgkeiten mehr im Arbeitsalltag haben, stattdessen allzeit bereit sein müssen, alle Sensoren auf Alarm, psychologische Meisterdienste abliefern, immer wieder aufbauend, optimistisch und tröstend auf jeden eingehen, die einzelnen Aufgaben meist spontan und individuell erledigen, und wir über das Arbeiten hinaus gar keinen richtigen Ausgleich mehr haben, die Welt steht still, wir sind besonders paranoid was Kontaktsperre angeht, im Vergleich zu unseren Freunden, die nicht in einem Altersheim arbeiten.


Ich fange also früh an, damit ich auch früh wieder Feierabend habe. Ich trödel trotzdem beim Frühstück so blöd rum, dass ich 7:30 Uhr Beginn nicht schaffe. Aber um 7:50 Uhr log ich mich ein, und begebe ich mich auf einen Wohnbereich im Erdgeschoss, helfe ein wenig beim Frühstück, tröste Frau B., die immer wieder anfängt zu weinen, die Pflegerin erklärt mir, dass sie das immer tut, wenn sie vorher geduscht wurde. Aber sie beruhigt sich, kann später sogar wieder lachen und isst den anderen Bewohner, die nicht schnell genug sind, die geschmierten Brote weg.


Die Hauptaufgabe, die ich mir für heute vorgenommen habe: mit den betreffenden Bewohnern, deren Namen wir der Aktion „Stift und Papier“ weitergeleitet haben, die gestern angekommenen Briefe zu lesen und zu beantworten. Für diese Aktion haben sich deutschlandweit über 10.000 Menschen gemeldet, die eine Art Brieffreundschaft mit Senioren, die in den Heimen unter Quarantäne stehen, beginnen wollen. Das ist mal wieder sehr rührend, und ich bin so begeistert, dass mir der Umfang da noch gar nicht so bewusst ist.

Um es kurz zu machen: Ich hab von den ersten 14 Briefen nur 5 beantworten können. Und die noch nicht mal „ins Reine" geschrieben.

Angefangen hatte ich bei Frau B. von der zweiten Etage. Sie hat gleich zwei Briefe erhalten. Frau B. kann, wie die meisten Bewohner hier, nicht mehr gut lesen, Handschrift noch weniger, und schreiben geht auch nicht. Wie bei allen folgenden, die ich heute noch besuchen werde.

Ich öffne den ersten Brief, drei Seiten vollgeschrieben und ein Foto von der Frau. Es ist so herzerwärmend, sie ist 24 Jahre alt, bildhübsch, schreibt von sich, ihrer Familie, ihrer Arbeit, ihren Hobbys.

Frau B. erzählt sehr gerne, alle drei Sätze kommentiert sie das Geschriebene und fängt schon an, eigene Erfahrungen dazu zu erzählen. Ich muss sie etwas zügeln, bitte sie, das zu behalten, das könnten wir ihr ja gleich schreiben in ihrem Antwortbrief.

Die Anrede und der Dank für den Brief ist schnell formuliert, dann poltern angefangene Sätze, Gedankensprünge, Wichtiges, also brauchbares für den Brief, Unwichtiges, von Hölzchen auf Stöckchen, es ist schön zu sehen, wie sie strahlt und in Erinnerungen schwelgt, aber ich kann das ja nicht alles mit reinnehmen, also filtere ich, formuliere Sätze, frage, ob das so in ihrem Sinn ist, ich treffe es dann meist, Gott sei Dank, nehme Bezug auf Fragen der Briefeschreiberin, lenke und formuliere, lasse es mir bestätigen, schreibe, füge hinzu, höre Frau B.s wunderbaren Erinnerungen an Jamaika und Südengland zu, nach einer Dreiviertel Stunde ist der erste Antwortbrief auf meinem Notizblock fertig gestellt. Jetzt noch die Adresse dazu notieren, damit ich später alles richtig eintüten kann, wenn ich es dann auf schönem Briefpapier in Schönschrift niedergeschrieben hab.

Das mit der Schönschrift werde ich später verwerfen, ich werde es am besten ausdrucken, weil es doch bei den meisten viel Text ist, der da rauskommt. Eine Tochter, die in dem Moment anruft, als ich bei einer anderen Bewohnerin bin, und ich ihr erkläre, was ich gerade bei ihrer Mutter mache, möchte von allem eine Kopie haben, ich merke, wie ausufernd das Ganze wird.

Wie deep die Gespräche teilweise sind, wie überraschend sonst eher stumme Menschen plötzlich klare Antworten geben, wie diese Briefe überhaupt so rührend und liebevoll sind, einer Bewohnerin kommen spontan die Tränen, wie mich und die Bewohner das auf eine gute Art mitnimmt, all das zeigt mir, wie ich diese Aktion völlig unterschätzt habe. Ähnlich wie bei dem Mitsingkonzert. Tolle Idee, aber die Rattenschwänze, die das mit sich bringt, nicht im Blick.

Frau B. lese ich den zweiten an sie gerichteten Brief vor, und das ganze Procedere fängt von vorne an. Rührung, Erinnerungen, Formulierungen, Geduld, Anteilnahme, bei belastenden Erinnerungen, die plötzlich im Raum stehen, versuchen zu trösten und abzulenken, wieder zurück zu kommen, zu dem Brief.

Das Ganze nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Nach jeder Briefaktion muss ich erstmal eine rauchen gehen.

Dazwischen kommen natürlich noch sämtliche Zwischenfälle, in verschiedenen Küchen aushelfen, Spülmaschinen ein- oder ausräumen, Pakete von Angehörigen, die sie auf den Rollwagen im Foyer abgelegt, oder mich an der Tür erwischt und in die Hand gedrückt haben, zu ihrer Frau oder Mama bringen, Bewohner zu Gartenzaun-Dates in den Garten begleiten, Frau St. beruhigen oder aus einer ausweglosen Situation befreien, Essen anreichen, Getränke ausschenken, ein Ohr hier und da haben, im Büro das gerade Erledigte dokumentieren, bevor ich das wieder vergesse.

Als ich mich schon ausgeloggt habe, und gerade gehen will, erwische ich die rote Zora, die es trotz verschlossener Eingangstür ins Foyer geschafft hat, und schmeiße sie in hartem Ton raus.

Die rote Zora ist eine Anwohnerin, die uns seit ungefähr zwei Jahren „besucht“. Sie ist selber eine Seniorin, sucht wohl Freunde, quatscht alle Bewohner an, aber auf so eine neugierige, distanzlose und impertinente Art, dass einige Bewohner regelmäßig die Flucht ergreifen, wenn die rothaarige Fremde wieder auftaucht, sich ins Foyer setzt oder auf die Terrasse, und die Leute aushorcht. Später geht sie dann in die Bäckerei oder andere Geschäfte auf der Einkaufsstrasse und erzählt, wie furchtbar es bei uns.

Manche Bewohner schaffen es nicht sich zu schützen, können sich nicht abgrenzen, bleiben höflich bei den Verhören der roten Zora, und andere wiederum checken es nicht, denken die gehört zu uns, erzählen ihr vetrauensvoll Dinge über sich und andere Bewohner, was die Hexe dann wieder verdreht und weiter verbreitet. Kurz: Sie ist uns seit zwei Jahren ein Dorn im Auge, und wir schmeißen sie regelmäßig raus. Sie scheint selber nicht ganz dicht zu sein, hat auch einen Betreuer, den wir manchmal anrufen müssen. Seit Corona, checkt sie das Besuchsverbot nicht, die ganze Situation womöglich nicht, und wenn ich mit dem Bußgeld von 200 Euro drohe, reagiert sie oft mit: “Das zahl ich Ihnen, keine Sorge, ich hole mir nur noch schnell einen Kaffee, immer mit der Ruhe.“

„Nein, Sie holen sich keinen Kaffee, sie verlassen jetzt das Haus, und zwar sofort!“

„Ach, was. Ich muss mich mal kurz setzen. Geben sie mir einen Kaffee.“

„Bitte gehen Sie, es herrscht Besuchsverbot!“

„Wer sagt das denn, da steht doch nichts!“

„Doch, an jeder Tür hängen Plakate! Und die ganze Welt weiß Bescheid! “

„Pffff. Hab ich nicht gesehen. Immer mit der Ruhe. Haben Sie eine Zigarette für mich? Ach egal, ich hab selber welche.“

Bei ihr hat jeder Mitarbeiter alle Empathie verloren, an ihr können wir bei unseren Rausschmissen unsere Angespanntheit entladen, Aggressionen rauslassen, ohne dass es sie je treffen würde. Teflon-Zora.


Beim Treffen mit Tommy wird es plötzlich sehr schnell dunkel, es donnert, fängt furchtbar an zu regnen, in der Befürchtung, dass es sich jetzt „einregnet“ und nur noch schlimmer wird, verlasse ich unseren Unterstand und radel schnell nach Hause, komme völlig durchnässt an, hänge die nassen Sachen zum trocknen auf, rubbel mich selbst trocken, und als ich fertig bin, strahlt die Sonne aufs Herrlichste.

Jetzt habe ich aber keinen Bock mehr raus, verbringe den restlichen Tag im Bett, bin zu faul und zu müde für alles, mache mir abends eine Chili sin Carne Dose auf, zappe mich so durch, schlafe immer wieder mal ein, stoße dann auf eine wunderbare Doku über Joaquin Phoenix, die er selbst gemacht hat, über seinen Absprung aus der Schauspielerei und der Begleitung in sein neues Leben als Rap-Musiker. Das ist so unglaublich, dass ich nach 20 Minuten erstmal auf Pause drücke, und das recherchiere.

Ha! Mir ist völlig entgangen, dass Joaquin Phoenix vor ungefähr 10 Jahren tatsächlich seinen Ausstieg bekannt gegeben hat, und dann zwei Jahre mit seinem Schwager, dem Bruder von Ben Affleck, an dieser Doku gearbeitet hat. Am Tag der Premiere 2011 verrät aber Casey Affleck, dass alles nur fake ist, Joaquin das alles nur gespielt hat und zwei Jahre lang die Öffentlichkeit hinters Licht geführt hat.

Und das macht er wunderbar. Ich krieg mich gar nicht mehr ein. Wie er das durchzieht, P. Diddy als Produzenten gewinnen will, bei Letterman ablooset, wie er kokst und kifft, fett und anscheinend übel riechend wird, sich Nutten bestellt, er seinen Assistenten beschimpft, der ihm dann aus Rache nachts auf den Kopf kackt, es ist herrlich, wie uneitel er sich ekelhaft und wunderlich darstellt. Dafür sollte er einen Oskar kriegen!

Ich musste so lachen, dass ich um ein Uhr nachts wieder hellwach war. Da half nur noch Licht aus und der Podcast von den Pfarrerstöchtern mit einem Beitrag über Sodom und Gomorrha.


Statistik. 23:00 Uhr

163.936 Infizierte 6.708 Todesfälle 126.900 wieder gesund


ree


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