Donnerstag, 7. Mai
- Mai Buko
- 7. Mai 2020
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Mai 2020
Wetter soll gut werden heute, zum ersten Mal wieder mit nackten Beinen zur Arbeit.
Die angekündigten Lockerungen der Heimbesuche schlugen natürlich bei uns ein wie eine Bombe. Das Telefon klingelte ununterbrochen, es meldeten sich Angehörige, selbst verunsichert, und Anouk hatte fast den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als zu erklären und um Verständnis zu bitten. Der Vorstand und die Heimleitung hatten einen Brief formuliert, der per Mail oder Post an alle Angehörigen verschickt wurde, um die Katastrophe der ab (ausgerechnet) Muttertag geltenden Öffnungen für Besuche in Seniorenheimen im Zaum zu halten. Darin wird um Verständnis gebeten, dass wir jetzt nicht leichtfertig das Erreichte, den Schutz des Lebens der uns anvertrauten Menschen, durch diese Lockerungen des Besuchsverbots auf Spiel setzen, und dass sie sich bitte bis Ende Mai, Anfang Juni noch gedulden möchten, bis wir ein Konzept zusammengestellt haben, dass das Ansteckungsrisiko bei Besuchen so gering wie möglich hält.
Viele Angehörte reagierten verständnisvoll.
Heute geht das Brainstorming weiter, wo können sich Bewohner und Angehörige in einem Raum treffen, der groß genug ist um den Mindestabstand einhalten zu können, der ununterbrochen gut zu lüften ist, wo kann man sich draußen treffen, auf dem Parkplatz? welche Sitzmöglichkeiten, Überdachung?, welche Markierungen halten auf Steinboden, Absperrbänder?, noch mehr Schutzmasken müssen bestellt werden, Terminpläne für die Besuche müssen erstellt werden, Formulare für die Angaben der Besucher müssen bereit gestellt werden, Maximalzeiten für Besuche festlegen, es purzeln nur so die Einzelheiten, an was wir alles denken müssen, und wie wir das professionell umsetzen, um unsere Bemühungen der letzten Wochen, Monate, nicht sinnlos werden zu lassen.
Viele der Mitarbeiter sind müde und wahnsinnig frustriert, wir haben unsere Privatleben umgestellt, haben auf alles von Anfang an verzichtet, der Schutz der Bewohner war unser einziger Gedanke, und jetzt soll alles auf Spiel gesetzt werden?
Gleichzeitig werden ja jetzt auch noch alle Gastronomiebetriebe, Schwimmbäder und sogar Grenzen wieder geöffnet, im Prinzip alles wie vorher, nur dass die krasseste Risikogruppe jetzt der Bedrohung ausgesetzt wird.
Im Grunde haben wir vorher schon seit Wochen durch unsere Gartenzaundates, den Parkplatzdates, Fensterdates, der Videotelefonie für eine gute, vor allem sichere Alternative gesorgt.
Wir sind fassungslos, was für ein populistisches Meisterwerk! Ausgerechnet am Muttertag den ersten offenen Tag anzukündigen!
Anouk verwaltet weiterhin die Anfragen, auch Freunde der Bewohner melden sich jetzt, wollen wieder Schach spielen kommen, oder mit dem Hündchen mal Tag sagen, einige wollen Muttertag vorbeikommen.
Das wäre ja überhaupt nicht umzusetzen, wenn sich da mehr als 10 Personen, die jeweils eine Stunde für einen Besuch hätten, von morgens bis abends nacheinander dran sind.
Aber wie gesagt, die meisten Angehörigen sind verständnisvoll, verschieben ihre Besuche, für Muttertag haben wir bisher nur drei Anmeldungen, und ca. 15 Leute wollen Päckchen oder Blumen für die Mama vorbeibringen, welche wir, bzw. Adele, die an dem Tag Dienst hat, dann weiter reichen. Aber die, die unangekündigt kommen werden, können wir natürlich nicht mit einkalkulieren.
Immer wieder Brainstorming und Fassungslosigkeit zwischendurch, ansonsten transkribiere ich weiterhin die fertigen Briefe der Bewohner an die Leute.
Lese meinem Papa und Frau St., die beide jetzt auch Post erhalten haben, den Brief vor und verfasse Antworten. Papa hat sich wirklich gefreut, vor allem über eine Kinderzeichnung, die dem Brief beigefügt war.
Frau St. hingegen ist von dem Bild der Postkarte total begeistert, „Mein Gott, wie schön!“, verliert aber leider nach 5 Sätzen die Konzentration, beginnt um Hilfe zu rufen, immer wieder höre ich auf zu lesen und erkläre ihr, was ich hier mache, sie nickt, und ruft nach 20 Sekunden wieder „Hilfe“, bis ich abbreche.
Ihr Brief, also der ihrer „Brieffreundin“, wird zu dem Stapel gelegt, den wir schon angehäuft haben, von unbeantwortbaren Briefen, da die Bewohner entweder kein Interesse gezeigt haben, oder anderswie unfähig sind, eine Brieffreundschaft zu pflegen.
Für diese Leute muss ich mir noch einen Antworttext ausdenken, der Dank ausdrückt, weil diese Briefe wirklich lieb sind, und gleichzeitig klar macht, dass eine Brieffreundschaft leider nicht drin ist. Damit werde ich mich sehr wahrscheinlich erst am Samstag mit befassen können, da hab ich wieder einen langen Dienst, denn heute und sehr wahrscheinlich morgen auch noch, werden außer dem neuen Stress durch die Aufhebung des Besuchsverbot, sehr viel Allzeit-bereit-Aufgaben anfallen.
Tommy wartet schon auf dem Severinskirchplatz auf mich. Nachdem wir unseren Kaffee geholt haben, kriegt er sich auch überhaupt nicht mehr ein, was das für eine Scheiße ist, mit diesen Lockerungen.
Ich bin ja eigentlich auch für Lockerungen, freue mich auf Cafés und Restaurants, die ich hoffentlich bald wieder besuchen kann, verstehe den wirtschaftlichen Druck in sämtlichen Bereichen. Aber halt nicht so, wie es jetzt geplant ist. Alles gleichzeitig, von Null auf Hundert. Tommy schüttelt nur resignierend den Kopf. „Dann haben wir spätestens im Herbst die zweite Welle, alle Veranstaltungen, die wir vielleicht für dahin planen können, werden dann wieder im neuen Lockdown verschwinden.“
Zuhause richte ich mir schnell einen Übungsplatz für Yoga ein, lade die App runter, über die der Kurs gestreamt wird, stelle den Computer auf mein Wäschereck, damit der Untergrund eben ist, lege ich ein paar Schalllatten unter den Rechner, und los geht’s.
Das ist soo cool!
Mechthild sieht uns alle und kann sich jeden näher ranholen, und korrigieren. Da ich Schmerzen in meinen Knien habe, kann ich manche Sachen nicht mit machen.
“Dann entlaste das Knie, leg das Bein mal da auf dem Heizkörper neben dir ab, so ist gut“ oder „Nimm doch den Gurt!“, „Für dich ist genug jetzt, leg dich schonmal in Shavasana“
Das ist herrlich. Bin fix und fertig danach. Super anstrengend, nach der langen Zeit ohne Yoga. Und unbeweglich wie ein Elefant. Aber so könnte ich ewig Yoga machen.
Jemand der in meinem Zimmer ist, mir Anweisungen gibt, mich ausschimpft oder mit mir lacht. Wunderbar!
Statistik, 23:00 Uhr
169.430 Infizierte 7.392 Todesfälle 140.004 wieder gesund

Comentarios