Donnerstag, 4. Juni
- Mai Buko
- 4. Juni 2020
- 6 Min. Lesezeit
Beim Aufwachen schon Horror vor Yoga heute Abend. Ich fühle mich so schwach und steif, keine Ahnung, wie ich mich aufraffen soll heute mitzumachen, oder was es für eine akzeptable Ausrede für Mechthild geben könnte.
Das schönste heute auf der Arbeit ist die Kirschernte.
Heinrich, mein ältester Kollege, sehr wahrscheinlich sogar der Älteste im ganzen Haus, ist unser Mann mit dem grünen Daumen. Er ist für sämtliche Pflanzen verantwortlich, und päppelt sogar alte Christsterne der Bewohner wieder auf. Er hatte schon mehrfach darauf hingewiesen, das der Kirschbaum bei uns im Garten dringend von den Kirschen befreit werden muss. Ich denke ja jedes Jahr, dass die Kirschernte erst so Anfang August sein kann, und jedes Jahr werde ich eines Besseren belehrt. Aber dass unser Baum jetzt schon Anfang Juni bereit ist, ist doch sehr erstaunlich.
Heinrich holt sich also die ausziehbare Leiter vom Haustechniker, lehnt sie geschickt an den Baum, und klettert oben angekommen dann auch noch direkt wie ein junges Äffchen in den dicken Ästen rum, um an die besten, die dunkelsten Kirschen ranzukommen. Ich krieg sofort Herzrasen als ich das sehe, kann da nicht hinschauen, muss wirklich aus dem Garten gehen, Massimo soll alleine aufpassen, dass Heinrich da nicht runterstürzt. Ich rede mir zwar ein, dass wenn er runterfällt, es bestimmt nicht soo schlimm wird, weil der ungemähte Rasen schön weich ist, und die Höhe von ca. 3 Metern jetzt auch nicht so übertrieben hoch ist. Naja, gut, man kann auch dumm aufprallen, schon hat man mehrere Brüche an Armen und Beinen.
Anouk reagiert auch direkt panisch als ich zu ihr petzen gehe, rennt raus, ruft ihm hoch, „Kommen Sie da bitte wieder runter, das ist zu gefährlich.“
Aber Heinrich lacht nur.
„Ich bin weisungsbefugt, bitte kommen Sie runter!“ Sie meint das auch nicht ganz ernst, aber ihre Angst ist ihr anzusehen.
Er ignoriert sie lachend und macht das Eimerchen weiterhin voll mit den herrlichsten Kirschen. Sie verzieht sich resigniert wieder in ihr Büro. Abwechselnd gucken wir beide in 10 Minutenabständen nach, ob noch alles okay ist. Am Ende haben wir ca. 10 Kilo Kirschen, die ich alle fein säuberlich wasche, mir eine Tupperdose vollstopfe, Heinrich eine, und den Rest in große Schüsseln verteile für die Wohnbereiche, die verteilen wir aber erst morgen, bis dahin verstecke ich sie im Kühlschrank der Cafeteria.
Frau Sch.s Schwester kommt zu Besuch, und da es zwischendurch immer regnet, verlagern wir den Treffpunkt in die Cafeteria, in der es ja jetzt 3 Besuchertische gibt, die wir aber nur im Notfall besetzen. Immer besser sich schön an der frischen Luft zu treffen.
Die beiden sind Zwillinge und 93 Jahre alt. Frau Sch. hat eine schwere Lungenerkrankung und ein fahrbares Gerät von dem sie Sauerstoff bekommt, dazu hat sie nur noch ein Bein, und sitzt im Rollstuhl. Sie ist einer meiner Lieblinge im Haus, fit im Kopf, lustig, hilfsbereit, lässig und immer gut angezogen, sie hat einen wirklich guten Style. Wir machen immer Witze darüber, dass sie ja nur einen Schuh braucht, aber natürlich immer ein Paar kaufen muss, den anderen hübschen Schuh würde ich dann gerne haben. Sie lobt auch immer meine Ohrringe und Röcke.
Ihre Zwillingsschwester wohnt in einem betreuten Wohnheim und hat keine sichtbaren Erkrankungen. Sie kommt durch den Haupteingang, setzt sich im Foyer erschöpft in einen Sessel, dort mache ich das Screening mit ihr, die Cafeteria ist nur 5 Meter entfernt. Eigentlich dürfen keine Angehörige durchs Haus, sie müssen aussen rum, vom Garten aus in die Cafeteria. Ich frage Anouk ob ich die alte Dame nicht schnell vom Foyer aus in die Cafeteria bringen darf, aber sie zögert.
„Das geht doch nicht! Dann wollen das alle so machen!“
„Draussen regnet es aber wieder, und es ist keiner da, es kann keiner sehen, komm schon!“ „Hm, na gut. Aber macht schnell!“
Ich bringe sie also schnell in die Cafeteria, platziere sie am Tisch, da meint sie:
„Ich müsste mal eben auf die Toilette.“
Achso, ja, das kann ja auch vorkommen! Dann muss sie ja auch durchs Haus, um auf die Besuchertoilette zu gelangen. Tja.
Also begleite ich sie zur Toilette. Während sie da drin ist, hole ich Frau Sch. aus ihrem Zimmer und schiebe sie in die Cafeteria auf den Platz gegenüber ihrer Schwester.
Die kommt dann auch schon zurück und will sie erstmal so richtig drücken. Ich gehe reflexartig dazwischen.
„Mimi, meine Liebe, da fahre ich 2 Stunden hierher, habe dich seit Monaten nicht gesehen, wir haben nur eine halbe Stunde, und da darf ich dich nicht mal umarmen?“
Sie setzt sich enttäuscht auf ihren Platz.
Mir zerreißt es das Herz, und ich lasse die beiden alleine.
Draussen jammere ich die Heimleiterin voll, wie traurig das sei, sie dürfen sich nicht mal umarmen!
„Ihr seid so tapfer, wie ihr das immer abwickelt, ich könnte das gar nicht so streng wie ihr. Ich würde weggucken.“
Es sind nicht ihre Maßnahmen, sondern die des Gesundheitsamts, aber sie hat uns alle gebrieft, wie diese Besuche auszusehen haben.
Der nächste Besuch steht gleich an, ich muss eine Tochter hinten am Gartentörchen abholen, ihre Mutter wird auch bald nach unten in die Cafeteria gebracht.
Da gehe ich zu den Zwillingen und sage: „Ich gehe jetzt eine weitere Besucherin holen, in der Zeit könnt Ihr euch drücken und alles. Nur wenn wir hier rein kommen, dann müssen Sie wieder da sitzen. Und wenn Sie wollen dürfen Sie auch länger bleiben, es gibt sonst keinen Termin mehr, der Platz ist also frei.“
Die lässt sich die Schwester nicht zweimal sagen und huscht zu Fr. Sch.
Die Heimleitung und Anouk lachen sich im Büro kaputt, ich hatte einen Urlaubsantrag für eine Woche Urlaub im Juli abgegeben, weil Anouk mich immer wieder bat, das endlich zu tun, denn wir müssen eigentlich unsere kompletten Urlaubswünsche schon im November für das kommende Jahr abgeben, aber ich hatte noch 4 Tage übrig, und jetzt lachten sie beide und meinten, tja, das gibt wohl nix mit dem Urlaub.
„Wieso?“ frag ich irritiert.
Die Heimleiterin zeigt mir den Wisch.
„Diese Person gibt es nicht in unserem Haus, da kann die Personalabteilung lange suchen.“
Ich hatte meinen Mädchennamen angegeben.
Meine Güte, wie konnte das denn passieren? Ach, ich weiß, ich hatte kurz vorher einen Briefumschlag mit Geburtstagsgeld für Mateo gefüllt, also Papas Enkel, und mit dem Namen meines Vaters, der ja mein Mädchenname ist, beschriftet. Krass. Ich werde immer dementer.
Heute mache ich etwas früher frei, damit ich mit Tommy noch schnell einen Kaffee trinken kann, bevor ich nachhause muss, um meinen Yogaplatz einzurichten. Beim wiederholten Mailcheck sehe ich, dass ich noch keinen Zoom-Link für die Teilnahme erhalten habe, und spekuliere schon, dass das vielleicht ein Zeichen ist, und Yoga für mich ausfällt, weil höhere Mächte das befohlen haben. Aber Tommy meint, ich soll Mechthild mal lieber fragen. Mir ist klar, wenn ich Mechthild anrufe, dann bekomme ich auch noch einen Link, dann komm ich aus der Nummer nicht mehr raus, und muss mitmachen. Die noch größere Macht Mechthilds lässt mich ihre Nummer wählen. Natürlich sorgt sie dafür, dass mir ein Link geschickt wird.
„Aber mach dir keine Umstände, wenn es zu kompliziert ist, und nicht klappt, dann ist es nicht so schlimm.“
„Wie bitte?“
„Ich bin so müde!“
„Das will ich gar nicht hören, bis gleich, du Dussel!“
„Ich hab ja gar nix gesagt, also gut, bis gleich.“
Das Scheiß-Sofa wieder wegrücken, die Matte hinlegen, Bolster, Klötze, Gurt an die Seite und ein Stuhl in der Nähe.
Zoom an, hallo alle.
Ich kann leider aus Platzgründen meine Matte nicht so legen, dass Mechthild mich seitlich sieht. Meistens steht sogar noch der Stuhl so vor mir, dass sie kaum etwas sehen kann. Das nutze ich aber nicht aus um zu pfuschen, wie ich es oft im Studio mache, wenn sie gerade nicht guckt, ihre Macht ist heute so eindringlich, dass ich alles bis zur Erschöpfung mitmache. Ich stöhne laut, fluche, mache weinerliche Geräusche, aber der Ton von uns Teilnehmern ist ja Gott sei Dank während der Session ausgeschaltet.
Es geht heute wieder mal um die Schlüsselbeine, dazu aber auch noch die Achselhöhlen und die Schulterblätter nicht vergessen, alle Feinarbeiten der letzten drei Wochen kommen jetzt zum Tragen und ein weiterer Fokus liegt auf der Zunge.
„Geht mal da hin. Fühlt mal genau nach. Ist sie auf beiden Seiten gleich weich? Verkrampft sie bei manchen Haltungen?“
Also ich merke nichts, und beachte sie auch nicht weiter, nur wenn Mechthild wieder sagt, na, was macht die Zunge, denke ich wieder an sie. Viel schlimmer sind diese anstrengenden Dehnübungen bei denen die Schlüsselbeine nach vorne gestreckt werden sollen,
„Wie ein Lenker, an dem ich euch ziehe!“
Mir tut schon nach 15 Minuten mein ganzer Brustkorb weh, und wenn ich die Beine strecke, komme ich mit den Händen nicht an die Füße, jedenfalls nicht wenn die Schlüsselbeine nach vorne ziehen sollen. Es ist das reinste Elend.
Ich beende das Drama 15 Minuten vor offiziellem Schluss, und bewege mich schon mal heimlich in die Entspannungsphase, lege mich flach auf den Rücken, während die anderen noch schön weiter Rückenbeugen überm Stuhl machen. Das entgeht Mechthild natürlich nicht und sie fragt mich was los sei, ob ich genug habe. Da sie mich nicht hört, mache ich diese Handbewegung als würde ich mir die Kehle durchschneiden. Da nickt sie und meint: „Gut. Dann leg dir bitte noch ein Bolster unter die Knie. Machs gut. Tschö.“

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