Donnerstag, 11. Februar 2021
- Mai Buko
- 11. Feb. 2021
- 5 Min. Lesezeit
Weiberfastnacht.
Hier in Köln ein sehr wichtiger Tag.
Für mich persönlich nicht.
Bei mir ist es eher so was wie Hass-Liebe, was Karneval angeht.
Wenn ich denn mal irgendwo verkleidet feiere, oder beim Rosenmontagszug am Strassenrand stehe, dann bin ich fröhlich, gerührt, glücklich, aufgedreht, hysterisch, offen bis distanzlos, ein Spaßpaket, Madame 100.000 Volt.
Wenn ich aber nicht feiere, und durch mein Veedel (Vringsveedel) muss, dann hasse ich alle grölenden Betrunkenen, alle fantasielosen Kostüme, alle aufreizenden Kostüme, alle Gruppenkostüme, alle fremdknutschenden Pärchen, ich hasse die rockigen modernen Karnevalslieder, die ausufernden Strassenkrawalle, die Glasscherben, die Absperrungen, die aufdringlichen Lustigen und natürlich die Pisse und Kotze überall.
Insofern war ich nicht traurig als schon am 11.11. letztes Jahr der Auftakt der Session und auch schon das komplette Karnevalsspektakel für dieses Jahr abgesagt wurde.
Aber überall treffe ich heute auf wehmütige Erinnerungen, auf Facebook, Instagram und auch bei Tommy.
Letztes Jahr Weiberfastnacht gab es wie üblich die große Party, die Tommy seit Jahren an Weiberfastnacht veranstaltet. Diese Partys sind immer outdoor, immer herausragend, immer Techno. Alle kommen kostümiert und drehen durch.
Letztes Jahr war es wirklich spitze, ich ging als Engel mit großen weißen Federflügeln, womit ich überall hängenblieb, hatte Lichterketten um mich rum gebunden und einen schwebenden Heiligenschein, ich trank so gut wie keinen Alkohol, tanzte wie ein Derwisch, und als ich am Ende der Party erschöpft, vollends zerrupft und abgetakelt an eine Wand gelehnt auf Tommy wartete um endlich mit ihm nach Hause zu fahren, ließ ich mich zu meiner eigenen Überraschung auf einen fremden Rave-Jungen ein und drei Sekunden nach unserem Kennenlernen knutschte ich mit ihm rum.
Weil er so süß aussah mit seinen riesigen dunklen Rehaugen, und weil er wie besessen von mir war, als wäre ich der tollste der Mensch der Welt und er so überglücklich, dass er mich jetzt gefunden hat. Das schmeichelte mir natürlich enorm, aber er hatte ja auch mit all seinen Vergötterungen Recht, und wenn das einer in wenigen Sekunden checkt, wie großartig ich bin, dann kann an plötzlicher heftiger Nähe ja nichts Falsches sein.
Er war auf Pille, stellte ich nach einer Zeit fest, und sagte ihm das, um ihm und mir klar zu machen, dass er deswegen so übertreibe, und nicht etwa die große Liebe über ihn hereingestürzt sei, da meinte er, da seien seine Sinne erst recht geschärft, und er wisse einfach dass es Schicksal sei, dass wir zueinander gefunden haben und küsste mich immer weiter, er konnte sein Glück nicht fassen, dass ich mich darauf einließ.
Marie kellnerte auf der Party und ich versuchte anfangs noch diese Knutscherei vor ihr zu verbergen, mein Gott, ihre abgeranzte Mutter mit den zerfledderten Flügeln, den Lichterketten, die hinter ihr über den Boden schleiften, knutschte da mit einem Jüngling rum, wie unangenehm.
Doch irgendwann bekam sie es mit und schaute ab da immer dezent weg.
Tommy war geradezu fassungslos, ausgerechnet ich knutschte da rum, obwohl er doch unbedingt knutschen wollte und ich doch sonst nie Interesse an solchen Spielchen hatte. Was soll das?
Die Party draußen war ja längst zuende, die meisten Gäste schon gegangen, aber ein paar Hardliner blieben wie wir im Clubraum, ein DJ fing an aufzulegen, direkt ganz wundervolle Musik, die Stimmung war full of Love, alle die noch da waren lächelten sich gegenseitig glückselig an, auch wir beide tanzten händchenhaltend während wir uns anlächelten und immer wieder küssten.
Ich grinste kurz zu Tommy rüber und knutschte dann wieder, hörte mir weiter die Anbetungen, Versprechungen und Pläne meines Verehrers an.
Aber wo sollte das hinführen?
Das war alles ganz schön, aber bei mir funkte es einfach nicht.
Ich war ja auch nicht auf Pille oder LSD, oder irgendeiner anderen halluzinogenen Droge, die mir versicherte, dass dieser Junge hier mein Traummann sei.
Irgendwann verlor ich dann den Spaß an der Sache, ein bisschen sexy Thrill und Öl auf meine Seele hatten mir gut getan, das reichte, also wollte ich jetzt gehen und schnell nachhause.
Tommy hatte noch einen Chauffeur, der eigentlich die ganze Zeit auf uns wartete und nicht ahnte, dass es da drinnen gerade weiterging. Tommy überließ ihn mir liebenswürdigerweise, weil er noch etwas bleiben wollte, und er hatte meine Not erkannt, dass ich jetzt genug hatte, und sofort hier weg musste.
Der verliebte Raver konnte es nicht fassen, kritzelte mir noch seinen Vornamen und seine Telefonnummer auf einen Zettel, ich soll mich bitte, bitte melden.
Und weg war ich.
Er hatte mitbekommen, dass Marie meine Tochter ist, und setzte sich nun an die Theke und versuchte von ihr meine Telefonnummer rauszubekommen. Sie schrieb mir SMS, dass er jetzt sogar Runden ausgäbe, um sie zu beeindrucken, damit sie meine Nummer rausrückte. Doch sie blieb standhaft.
Nach ein paar Tagen dachte ich, ach, eigentlich war er ja ganz süß, ich will ihn zwar nicht anrufen, aber vielleicht finde ich ihn in irgendwelchen Netzwerken, und stalkte anhand des Vornamens und der Erinnerung, dass er in einem Dorf in der Eifel wohnt, solange rum bis ich seinen Instagram Account fand. Das war eine reine Detektivarbeit, unfassbar wie ich mich da reinhängte, und auch noch endlich Erfolg hatte, ohne zu wissen, was ich jetzt eigentlich genau wollte.
Um es kurz zu machen: Ich schrieb ihm eine unverfängliche Nachricht auf Instagram, dass ich gern wüsste wie er so wäre wenn er nicht grade auf Pille ist, und seine Antwort kam wenige Minuten später:
„Es war ein Fehler. Ich will dich nicht kennenlernen.“
Krass!
Das war vielleicht ein Dämpfer! Ein Schlag in die Magengrube.
Na gut, Pech gehabt, mein Lieber.
Du weißt ja gar nicht was dir entgeht, Bürschchen.
Was bildest du dir eigentlich ein, du Dreikäsehoch, du verpeilter Niemand, du feiger kleiner Junge!
Pfffffff.
Bis heute ist er einer der ersten, der meine Instagram-Stories anschaut, das kontrolliere ich nämlich regelmäßig. Ab und zu brauche ich die Bestätigung, dass ich doch nicht so uninteressant bin, dass er wissen will, was ich mache, dass er hoffentlich bereut mich so stumpf abgewiesen zu haben.
Tommy meinte eben, schreib ihm doch eine Nachricht zu eurem Jubiläum.
Ja, das wäre wohl ganz witzig.
Aber er ist zu einer nostalgischen Erinnerung geworden, zu einem Relikt aus einer anderen Zeit. Einer Zeit vor Corona, in der körperliche Nähe noch nicht besorgniserregend war.
Kurz danach ging es dann aber ja auch schon bei uns in Deutschland los.
Karneval, diese Knutscherei, all das ist wie ein Taumel, surreal und ganz weit weg.
Dabei sollte doch die jetzige Zeit surreal sein, unglaublich und fremd.
Doch alles Unvorstellbare ist normal geworden.
Der Lockdown ist abermals verlängert worden, bis zum 7. März. Die Inzidenz soll nun bei 35 liegen, bevor größere Lockerungen in Kraft treten. Die Länder sollen ein paar Dinge selbst entscheiden, zum Beispiel wann und wie die Schulen wieder geöffnet werden.
Die neuesten Prognosen aufgrund der mutierten Viren aus England und Südafrika verheißen nichts Gutes. Im März könnte uns eine dritte, eine heftigere Welle bevorstehen.
Tommy ist Team #nocovid, ich bin Team #zerocovid.
Und wenn ich hier sehe, wie die Severinstrasse übervölkert ist und hier überall maskierte Menschen rumlaufen, fröhlich mit Bier in der Hand, dann bestätigt das nur meine Befürchtung, dass man auf die Eigenverantwortung der Bürger nicht bauen kann.
Zum Abschluss ein aktuelles Karnevalslied eines lieben Freundes. Ich bin fast am Ende auch für zwei Sekunden zu sehen. Alaaf!
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