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Dienstag, 2. Juni

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 2. Juni 2020
  • 5 Min. Lesezeit

Und wieder fängt eine neue Arbeitswoche an, mit Besuchsterminen, die wir uns aufteilen. Bei meinen Terminen werde ich tatsächlich von jedem Angehörigen gefragt, ob ich eine Ahnung hätte, wie lange das wohl noch dauert mit diesen Beschränkungen. Ich zucke die Achseln, hoffe, dass es nicht so bald möglich ist, dass alle Mann wieder rein können in unser Haus.

Dabei wissen wir schon, dass es bald wieder Lockerungen geben wird, die Angehörigen werden dann mit ihrer Mama oder ihrem Papa das Gelände für Spaziergänge für eine unbefristete Zeit verlassen dürfen. Das wird garantiert Horror, das alles zu planen und umzusetzen. Geschweige denn mit den Risiken, die damit verbunden sind, umgehen zu können.

Es ist jetzt schon schwierig genug die Leute im Zaum zu halten, sie kommen unangekündigt, oder wollen direkt mit ganz vielen Verwandten kommen, und eine halbe Stunde für einen Besuch ist ja sowieso viel zu kurz. Den Ärger über die Verordnungen und Schutzregelungen bekommen wir täglich mehrmals ab.

Vor allem auch Anouk, sie hängt fast nur noch am Telefon um Besuchswünsche entgegen zu nehmen und diese zu koordinieren. Bei diesen Telefonaten muss sie natürlich immer wieder alles erklären, Verständnis aufbringen und höflich bleiben.

Interessant ist auch zu sehen, dass jetzt einige auf ihr Besuchsrecht pochen und Termine ausmachen, die sonst monatelang nie kamen.

Wir haben jetzt das Recht dazu, also nutzen wir es auch.

Tatsächlich sind die Verwandten, die einsichtig sind, die sich der natürlich weiter bestehenden Gefahr bewusst sind, die an unsere Bewohner denken, die an „Vorerkrankungen“ leiden, und die verstehen, dass nicht wir, die Mitarbeiter, für was auch immer für Regelungen verantwortlich sind, sondern die Umstände und die Gesetzesvorgaben, mittlerweile in der Minderheit.

Es herrscht also bei den meisten Besuchen eine latent angespannte Stimmung, die wir umso sensibler abwickeln müssen, damit sie nicht umkippt. Der Leidtragende wäre dann in jedem Fall der Bewohner.


Anouk hat ein verspätetes Geburtstagsgeschenk für mich dabei, und überreicht mir vorfreudig eine Papiertüte in der sich eine Flasche befindet.

Ah, bestimmt ein Flasche Spätburgunder, sie weiß, dass ich den gerne mag.

Aber ich hole eine Alkoholflasche raus und erkenne nicht um was es sich handelt. Ich schaue sie an, drehe sie, suche einen Namen auf dem schönen altmodisch wirkendem Etikett für dieses goldgelbe Getränk.

„Was ist das?“ frage ich sie und entdecke gleichzeitig endlich eine Bezeichnung:

„Aquavit!" "

Erwartungsvoll schaut sie mich an.

Hm. "Was ist das nochmal?“ frage ich sie leicht verunsichert.

Sie ist sichtlich enttäuscht: „Das was du so gerne trinkst, nach dem Essen. Immer wenn wir bei der Weihnachtsfeier in der Kneipe sind, dann fragst du danach!“

„Ach, das ist Eau de Vie! Schnaps aus Obst.“

„Oh Mann, ja.“

Sie nimmt die Flasche wieder zurück.


Ein neuer Mann zieht ein, ich packe seine Koffer und Kisten aus, unfassbar was er alles dabei hat. Unter anderem eine Kaffeemaschine und 8 Pakete „Feine Milde“ von Tchibo. Dass es bei uns rund um die Uhr Kaffee gibt, interessiert ihn nicht, er möchte genau diese Sorte trinken. Okay. Und seine Morphiumtabletten behält er auch lieber bei sich, denn er will darauf immer Zugriff haben, und nicht erst jemand darum bitten müssen.

Das ist alles verständlich, der Mann ist schwerkrank, aber völlig fit im Kopf, Selbstbestimmung das wichtigste Gut.

Normalerweise werden beim Einzug alle Medikamente der Pflege übergeben, die sie dann nach ärztlicher Verordnung morgens, mittags und abends verteilt, und gegebenenfalls neu bestellt. Er macht auch noch weiter sehr konkrete Ansagen, das ist alles in Ordnung, aber ich kann jetzt schon ahnen, dass es garantiert noch sehr spaßig wird mit ihm, weil sein Tonfall schon so angriffslustig ist.


Ein Termin jagt den nächsten, dann gibt es etwas Leerlauf, den nutze ich aber nicht um die längst fälligen Dokumentationen zu schreiben, die verschiebe ich innerlich schon auf morgen früh, sondern um Blumengestecke zu machen, ein wenig kreativ sein, in Ruhe etwas rumbrasseln.

Die Blumen, die ich am Freitag in die Töpfchen gepflanzt hatte, wurden am Samstag von mir das letzte Mal gegossen, Sonntag und Montag hatte ich frei, heute sind sie vertrocknet. Zwischen die nun toten Pflanzen stecke ich einige von den künstlichen Stoffblumen, die ich zuhauf gelagert habe, weil ich immer mal wieder mit den Bewohnern Gestecke für ihre Zimmer bastele.

In Anouks Büro fertigen wir beide weitere 12 Töpfchen mit Steckmoos und bunten Blumen aller Art. Die hängen wir bei sengender Hitze an die Zäune neben den Besucherplätzen. Weil alles so anstrengend ist, und wir jeden einzelnen Topf in verschiedene Höhen halten, um zu sehen, wo er am schönsten hängt, reagiert die Heimleitung mit: “Bumsbrause“.

Also ist ihr egal.

Daraufhin antworten Anouk und ich auf alles nur noch mit dem grotesken Wort Bumsbrause, wobei wir beide keine Ahnung haben, was das eigentlich heißen soll. Sekt?


Gerade als ich Feierabend machen will, kommt Malte vorbei und fragt ob ich einspringen kann, um Abendbrot für die Bewohner zu machen, die Hauswirtschaftskraft sei krank.

Na klar.

Ich schreibe Tommy eine Nachricht, dass ich später komme.


Im Sette wartet er dann auf mich, und hat gute Neuigkeiten, er hat gehört wie er gerufen wurde und weiß jetzt wie der Portugiese heißt: Antonio.

Antonio und wir nennen uns gegenseitig seit Jahren „Professore“ oder „Dottora“. Buongiorno Professore - Buonasera Dottora.

Nach all den Jahren konnten wir ihn nicht mehr fragen, wie er eigentlich wirklich heißt.


Eines unserer Themen ist noch mal kurz diese beknackte Aktion in Berlin. Sämtliche Clubs und Veranstalter hatten zu einem Protest-Rave aufgerufen, indem auf die Not der in der Clubkultur Schaffenden hingewiesen werden sollte. Abgesehen davon, dass das in Zeiten der seit Tagen andauernden Unruhen in den USA, den Ausschreitungen und Demonstrationen gegen Polizeigewalt und Rassismus, völlig dekadent und deplatziert ist, kamen Tausende dem Aufruf nach in Booten, Schiffen und Flößen auf dem Landwehrkanal und an den Ufern zu demonstrieren, ohne sich auch nur im Geringsten an die Einhaltung der Abstandsregeln zu halten, oder Masken zu tragen. Die sehr laute Rave-Demo endete dann auch noch genau vor einem Krankenhaus, in dem Covid 19 Patienten liegen.

Was für ein Eigentor.


Neues Ritual: seit Tagen flechten wir in jede Unterhaltung ein „Guck mal, dein Ex!“ wenn ein besonders doofer Typ vorbeikommt.

Ein weiteres Ritual ist gerade im Aufbau: als Tommy einmal ein junges schwules Pärchen betrachtete und abschließend meinte: „Was für ein schönes Pärchen!“, griff ich das auf und sagte jedesmal wenn zwei Männer nebeneinander standen oder an uns vorbeigingen „Was für ein schönes Pärchen!“

Zuerst verdrehte er nur die Augen, je öfter ich das sagte umso mehr regte er sich darüber auf, worauf ich das noch ausbaute und jedesmal wenn zwei Menschen zusammen standen, egal ob zwei Männer, zwei Frauen, Mann und Frau oder Jugendliche, zärtlich bemerkte:

„Was für ein schönes Pärchen!“

Heute ist endlich die Wende eingetreten, jetzt macht er auch mit und findet überall schöne Pärchen.


Bei unserem letzten Anno Domini Spiel, wir haben jetzt alle Karten durch, räume ich besonders krass ab. Nicht einmal muss ich Karten ziehen, er andauernd, verliert haushoch, zeigt sich höchst gelassen und gratuliert mir souverän. Wir möchten aber noch neue Editionen besorgen, unsere heißt ja „Lifestyle“, aber es gibt noch „Sex & Crime“, das favorisiere ich natürlich, aber auch „Natur“, „Europa“ oder „Kunst“ und noch viele mehr. Nur die Edition „Fussball“ darf Tommy nicht entdecken. Dann bin ich geliefert.



ree





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