Dienstag, 17. März
- Mai Buko
- 17. März 2020
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Mai 2020
Statistik 9:00 Uhr
7200 Infizierte 17 Todesfälle
Merkwürdige Wörter tauchen immer öfter in meinem Alltag auf, oder haben sich schon etabliert:
„systemrelevant“, Zauberwort dieser Zeit.
„Bevorraten“. Im Morgenmagazin wird darüber gesprochen, was sinnvoll ist, was nicht. Als ob damit die Hamsterkäufe eingedämmt werden könnten.
Zur vernünftigen Bevorratung gehören Trinkwasser, Medikamente, Lebensmitteldosen, aber kein Klopapier. Herrje.
Aber die Hamstereinkäufe sind eh ein psychologisches Ding, die Versorgung ist ja nicht wirklich bedroht. Wir haben alles in Massen da, aber ich fürchte, durch diesen Einkaufswahnsinn wird es bald wirklich zu Lieferengpässen kommen.
"Herdenimmunität" (blökendes Menschenvieh muss immun werden)
Dann „Social distancing“ : am Anfang wurde noch von jedem über „Einschränkung der sozialen Kontakte“ gesprochen. Dieser Anglizismus, der natürlich auch kürzer und prägnant ist, hat sich jedoch schnell durchgesetzt. Nervt aber jetzt schon.
Auf der Arbeit Teamsitzung mit Bekanntgabe der erneuerten Arbeitsvorgehen. Da wir keine Gruppenangebote mehr machen, die dem Vormittag und dem Nachmittag nebenbei Struktur gaben, werden wir ab sofort nur noch Einzelbegleitungen machen, die natürlich hauptsächlich individuell bleiben, aber um die Aktivitäten nicht aus den Augen zu verlieren, habe ich jedem Wochentag einen besonderen Schwerpunkt gegeben. Montags Bewegungsübungen, dienstags Gedächtnistraining, mittwochs Motorik/Basale Stimulation usw. Daran sollen wir uns bitte orientieren, damit es nicht bei einfachen Unterhaltungen mit den Bewohnern bleibt, die natürlich auch wichtig sind, aber die jetzt nicht wirklich groß die Ressourcen der Bewohner fördern. Die Unterhaltung, also die Bespaßung unserer Bewohner ist jetzt doppelt so anstrengend, da die Angehörigen als Unterhaltung und Ablenkung ausfallen. Und weil die Angehörigen nicht mehr da sind, ist die Stimmung der Bewohner vollends in den Keller gerutscht.
Das macht sich jetzt schon derbe bemerkbar. Vor allem bei den Orientierten. Ihnen ist langweilig, sie fühlen sich unterfordert.
Für diese Personen habe ich schon vor Corona eine Rubrik erschaffen, die heißt „Quizrunde für Fortgeschrittene“. Eine größere Runde geht ja jetzt nicht mehr, aber das kann man in Einzelbegleitung machen, oder mit bis zu drei Leuten, die sich großzügig um einen Tisch verteilen. Da werden im Grunde nur so „Wer wird Millionär“-Fragen gestellt, wir haben unzählige Materialien dafür, die regen an, führen auch zu Gedankenaustausch und biografischen Gesprächen. Das wollen sie jetzt nahezu täglich haben. Und auch Bewegungsübungen „für Fortgeschrittene“.
In meinem Team habe nur ich ein Telefon, und das ist sogar eigentlich aus der Pflege von der ersten Etage, und bimmelt bei jedem Zimmerruf, also jedesmal wenn ein Bewohner in seinem Zimmer nach der Pflege verlangt. Ich darf dann aber nicht auf „ok“ drücken, weil es dann bei den Pflegern aufhört zu klingeln, und die dann davon ausgehen, aha, es kümmert sich jemand.
Ich kann und darf aber keine pflegerischen Tätigkeiten übernehmen, ob es jetzt um einen Toilettengang geht, oder ob jemand ins oder aus dem Bett möchte, oder was sonst noch gerade der Wunsch ist. Also muss ich auf „C“ drücken, damit es ruhig ist.
Das Gebimmel nervt, jedesmal wenn ich ein Angebot mache, oder mich mit einem Bewohner befasse, fühlt sich derjenige als störend und meint:
“Da ruft Sie jemand an, machen Sie ruhig, ich warte!“
Es gibt Schlimmeres, ich weiß, aber dass wir vom sozialen Team keine eigene Kommunikationsmöglichkeiten haben, nervt schon seit Jahren. Da wir uns im Haus theoretisch auf drei Etagen in sechs Wohngruppen oder auf 80 Zimmer verteilen, ist es unmöglich jemand schnell zu finden, wenn ich dringend jemand brauche.
Ab heute haben wir die beiden Telefone des Nachdienstes zur Verfügung, die sind anders eingestellt, klingeln erst abends, wenn der Nachtwachendienst beginnt, für alle Etagen. Dazu bekommen wir noch ein, und manchmal sogar zwei Telefone aus der zweiten Etage, so können wir die täglich neu unter uns verteilen, und sind für uns und alle anderen erreichbar, was sehr hilfreich ist, damit wir uns jetzt absprechen, wen wir gerade betreut haben, damit wir keine Doppel- und Dreifachbetreuungen machen, weil wir uns jetzt täglich möglichst um viele verschiedene Bewohner kümmern müssen. Um die Bettlägerigen, die Zurückgezogenen, die Orientierten, die Dementen, die Schwerstdementen, um die, die akut und schnell eine Betreuung brauchen, weil sie in einer Krise stecken und weinen, oder Stunk machen, oder wieder zu anstrengend sind.
Nach Dienstschluss habe ich nach all dem Durcheinander einerseits das Gefühl, dass ich zu nichts gekommen bin, und andererseits, dass ich wahnsinnig erschöpft bin, von der Lauferei, von der Empathie und Liebe, die man nicht abstellen kann, und man immer etwas mitleidet.
Auf dem Nachhauseweg klappere ich insgesamt 4 Läden ab, um eine Tube Tomatenmark zu ergattern. Bio-H-Milch ist immer noch nirgends bekommen. Ich hab keinen Bock vor der Arbeit um 8 Uhr in den Supermarkt zu gehen, und mich um Lebensmittel oder Klopapier zu zanken. Wenn ich Feierabend habe, muss ich gucken, was ich noch kriegen kann.
Die Landesregierung hat zwischenzeitlich die Maßnahmen verschärft, im Sette und im Hörnchen gibt es nur noch Kaffee to go. Ich begebe mich also mit meinem Becher auf den Mittelstreifen, warte bis eine doofe Mutter mit ihrem Kind die Bank frei macht, um mich dann dort meinem Feierabend Cappuccino zu widmen. Tommy kann heute nicht dabei sein.
Mit Anouk gechattet, die in Thailand Urlaub macht. Sie ist am Samstag den 7. März, bevor alles losging, abgereist, und kann den Urlaub nun nicht mehr genießen, sie liegt nachts mit ihrem Mann wach, weil sie besorgt sind, was hier in Deutschland los ist. Flüge zurück würden sie 6.000 Euro kosten, das können sie nicht zahlen. Vom auswärtigen Amt erfahren sie nichts. Thailand gehört nicht zu den Ländern, aus denen Deutsche zurück geholt werden. Sie will nicht klagen, weiß, dass dies ein Luxusproblem ist, aber sie hat dennoch Angst und sorgt sich.
Habe immer noch kein Fieber, aber stets Husten und Halsweh. Mir ist mittlerweile egal ob ich krank werde. Beziehungsweise, ich habe keine Angst mehr zu sterben, halte mich für stark genug eine Lungenentzündung oder ähnliches zu überleben, ich möchte nur nicht meine Bewohner und Kollegen im Stich lassen, oder noch schlimmer: den Virus ins Haus tragen.
Um 19 Uhr gibt es eine Live-Übertragung aus dem Big Brother Haus, sie wollen die Bewohner mit der Nachricht konfrontieren, dass draußen derweil die Welt untergeht. War gespannt, wie sie das verpacken, ob sie den Virus verharmlosen, oder was da für eine Panik ausbricht. Ich jedenfalls würde so durchdrehen, da wäre meine kleine Panikattacke von letztem Mittwoch nach der Pressemitteilung ein Witz gegen. Bisher hatte ich nur ein paar Folgen geschaut, vor allem wegen dem süßen Jungen, der nicht weiß, dass er schwul ist.
Als der Moderator und ein Arzt hinter einer Glasscheibe erscheinen, lümmeln die Bewohner gemütlich und noch kichernd davor.
Es wird eigentlich ganz gut gemacht. Erst kurz die Fakten angesprochen, dann sofort reingeschoben, dass es den eigenen Familien gut geht, und dass im Anschluss Videobotschaften der Angehörigen für jeden gezeigt werden, dann weitere Details, Ausschnitte von Nachrichten, von Statements von Angela Merkel. Alles so zusammen geschnürt, dass das ganze Elend nicht ganz so drastisch rüberkommt, wie es sich in Wirklichkeit darstellt.
Ein Mädchen weint, weil sie sich als Altenpflegerin um ihre Bewohner sorgt, ein anderer kapiert sofort, dass das enorme wirtschaftliche Probleme mit sich bringt, eine Barfrau ist fassungslos wie es jetzt wohl ihren Kollegen und Freunden im Nightlife geht, da ja alles geschlossen ist. Niemand bricht wirklich in Panik aus. Es gibt dann noch die Möglichkeit Fragen zu stellen, die vom Arzt oder dem Moderator beantwortet werden. Am Ende sind die Bewohner mehr von den privaten Videobotschaften erschüttert als von der Pandemie, weil sie alle unter Sehnsucht und Liebesentzug leiden, und die Konfrontation mit ihren Lieben, die ihnen alle versichern, dass es ihnen gut geht, sogar die eine Schwester, die in häuslicher Quarantäne lebt, beschwören die im Big Brother Haus Lebenden nur ja da zu bleiben, nicht abzubrechen, da sie dadrin im besten Schutzraum der Welt leben.
Man stelle sich mal vor, diese Leute da sind am Ende die einzigen Überlebenden dieser Krise, sie müssen sich fortpflanzen und die Erdbevölkerung wieder neu aufstellen. Gab es nicht mal einen Film oder eine Serie, wo es genau darum geht, draußen die Zombies, da drinnen, im Big Brother Haus, die einzig gesunden Überlebenden?
In den Tagesthemen gibt es heute einen Einspieler mit Michael Mayer. Er gibt ein Statement zu den Auswirkungen auf Künstler und kleine Betriebe.
Horrorfacts:
Es finden offenbar sogenannte "Corona-Partys" statt. Gruppen von Jugendlichen feiern mit ordentlich Alkohol auf öffentlichen Plätzen oder in Wohnungen gemeinsam ihre „Corona-Ferien“.
Asoziale Jugendliche machen sich einen Spaß daraus extra alte Leute anzuhusten.
Statistik 22:00 Uhr
8.600 Infizierte 23 Todesfälle

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