Sonntag, 14. März 2021
- Mai Buko
- 14. März 2021
- 8 Min. Lesezeit
„Sag mal, du bist doch angeblich so empathisch, verschenkst täglich deine Liebe an deine Bewohner, hast du nicht auch mal was für mich übrig?“
„Leider nein, Tommy, wenn ich dich nach der Arbeit treffe habe ich längst mein Pulver verschossen. Also halt die Fresse.“
Das ist wirklich so. Deshalb bin ich auch so froh, dass ich meinen Vertrag ab April von 32 Stunden wöchentlich wieder auf 30 Stunden reduzieren konnte. Viele denken bestimmt, das ist doch lächerlich, die zwei Stunden machen ja wohl auch nicht viel aus. Aber das tun sie, denn erstens sind es dann in Wirklichkeit 3 Stunden mehr auf der Arbeit, weil ich zweimal die Woche 7 Stunden statt 6 arbeite, aber da jeweils noch eine halbe Stunde drangehängt wird, weil ich eine 30-minütige Pause machen muss, und zweitens machen bei mir in diesem Job manchmal schon wenige Minuten länger wirklich sehr viel aus.
Ich habe schon Jobs gehabt, in denen ich zehn, zwölf Stunden am Stück gearbeitet habe, aber das war anders.
Das liegt daran, dass ich im Kontakt mit den Bewohnern immer, wirklich immer von Liebe und Hingabe erfüllt bin. Das ist nicht gespielt, oder wie Malte neulich meinte: einfach nur „schleimig“, sondern ganz ehrlich. Bei den Dementen bin ich jedenfalls so, bei denjenigen, die nichts dafür können, dass sie Blödsinn reden oder frech und unverschämt sind, oder Sachen verschütten, oder einfach nur jammern und jammern und weinen. Ich nehme sie in den Arm, schaue sie voller ehrlicher Liebe an, tröste sie oder bringe sie zum Lachen oder höre mir zum 87trillionsten Mal geduldig ihre Geschichten an.
Ich bin also mehrere Stunden am Stück voll auf Sendung, gebe alles, wie ein Musiker bei einem Konzert. Dem würde es auch zu anstrengend 6 Stunden täglich aufzutreten, sein Herz zu öffnen, zu performen, abzuliefern.
Das ist das eine, die völlige emotionale Hingabe, und das andere ist, dass ich nicht Nichts tun kann. Manche Kollegen setzen sich zwischendurch mal irgendwo in einen leeren Gruppenraum und trinken in aller Ruhe Kaffee, beschäftigen sich mit ihrem Handy oder führen endlos lange private Gespräche mit Kollegen. Das kann ich nicht, immer habe ich irgendetwas zu tun, das mit der Arbeit zusammenhängt, und wenn es Sachen rumräumen oder Wochenpläne schreiben ist. Okay, ich gehe hin und wieder eine rauchen, rede auch manchmal mit Anouk über Privates oder lästere mit ihr über Kollegen, aber das ist nie so lang, und jetzt überhaupt nicht mehr, weil sie letzte Woche in den Mutterschutz gegangen ist. Über ein Jahr wird sie nicht mehr bei uns sein. Das wird auch noch schlimm, ich vermisse sie jetzt schon.

Jedenfalls bin ich zu allen Menschen, die nicht dement oder offiziell verrückt sind, schroff, zynisch und biestig. Das kann auch lustig sein, und stellt so ja auch eine Form von Liebe dar, eine Zuwendung der besonderen Art, je bösartiger ich raushaue, umso größer die Vertrautheit und Zuneigung. Deshalb, lieber Tommy, stehst du ganz oben in meiner Liebesliste.
Mit Frank, dem Freund aus Hamburg, mit dem ich meist nur über Chat kommuniziere, gibt es über lange Strecken nur gegenseitige Beschimpfungen, Demütigungen und Androhungen von Gewalt. Auch das ist Liebe.
Um meine ausgeprägte Lieblosigkeit im Privaten mal zu unterbrechen, aber eigentlich mehr aus Neugier, ließ ich mich vor einer Woche von meiner Freundin Britt in die Welt von Tinder einführen.
Sie ist genauso wenig wie ich an einer Beziehung interessiert, aber sie überzeugte mich, dass es gar nicht peinlich wäre, sich dort anzumelden (meine größte Not: man könnte mich da ja erkennen), das machen so viele, auch in unserem Alter und seit Corona wäre das fast schon normal, da angemeldet zu sein. Es gäbe in der Tat nur ein paar wenige Männer, die interessant wären, mit denen schreibt man sich, das wäre ganz lustig, und die Hoffnung auf ein wenig Thrill, weil vielleicht tatsächlich durchs Flirten ein paar Schmetterlinge im Bauch anfangen zu flattern, macht das Ganze auch ein bisschen aufregend.
Sie macht das seit ein paar Monaten, war schon zwei, dreimal mit Typen spazieren, aber von Schmetterlingen, geschweige denn mehr, war bei ihr auch noch nichts in Sicht.
Ich meldete mich also an, suchte mit ihr gemeinsam ein paar Fotos von mir aus, was sich als recht schwierig gestaltete, weil ich fast auf jedem Foto eine Maske trage, sie half mir beim ankreuzen einiger Schlagwörter, die mein Wesen widerspiegeln sollten (Kultur, Radfahren, Foodie, Kaffee, Musik) und los ging's.
Ich zitterte am ganzen Leib, war völlig auf Adrenalin, doch was ich zu sehen bekam war ein einziger Alptraum. Meine Güte, die Kerle, die in meiner Altersklasse sind, sehen aus als wären sie meine Väter. Ich bin nun mal real 58 Jahre alt, das vergesse ich immer, und Gleichaltrige und Ältere sind bis auf ein paar Ausnahmen, die ich dann aber zweifellos schon persönlich kenne, der blanke Horror.
Ich kann mir sowieso nicht vorstellen, dass es in Köln noch irgendeinen Mann gibt, der halbwegs interessant für mich wäre, der sich die ganzen Jahre über versteckt hat, sonst hätte ich ihn ja schon irgendwie kennengelernt, und sich dann ausgerechnet hier auf dieser Plattform findet. Aber egal. Alles angucken, aber wenn einem Typen wie der hier vorgeschlagen wird:

dann gruselt es einen schon. Und der ist noch einer der Harmlosen.
Da zweifelt man doch, dass das was bringt.
Es gab auch durchaus angenehm aussehende Typen, die waren dann aber viel jünger, und die werden ja bei ihrer Profilsuche nicht angegeben haben, dass sie Frauen bis 60 Jahre suchen, also erscheine ich nicht in ihren Vorschlägen, führt also zu keinen Matches.
Und falls doch so ein 38jähriger das angegeben hat, dann finde ich das auch scheiße. Stichwort MILF.
Und nur wenn man einen „liked“, also ein Herzchen drückt, und derjenige dasselbe gemacht hat, dann kommt es zu einem Match, und man kann sich gegenseitig kontaktieren.
Mich haben sofort einige geliked, das wird mir angezeigt, aber wenn ich sehen will, wer das ist, dann muss ich Mitglied werden und zahlen.
Also kann ich nur hoffen, dass es da mal eine Übereinstimmung gibt.
Bei einem Profil eines Mittfünfzigers, der nicht sich zeigt sondern seine Schuhe, wie er im Schnee steht, und bei den Schlagwörten „Catlover“ angegeben hat, drücke ich das Herzchen. How low can you go?
Zack: Ein Match!

Herrjeh, was für eine Aufregung, ich schreibe ihm also:
“Huch! Mein erstes Match!“
Keine Reaktion. Bis heute nicht.
Ich habe mittlerweile an die 57.000 Bilder angesehen oder deren Texte gelesen, was ich bei mir gar nicht erst gemacht habe, einen eigenen Text verfasst, was soll ich denn da schreiben?
Wenn die Fotos so einigermaßen gehen, dann sind die Texte so übel, dass man auch den wieder nach links wischt, also wegmacht.
„Das Leben ist nicht dafür gemacht das man den rest des lebends aleine verbringt.“
Aber ich habe bisher trotz der widrigen Umstände so vier oder fünf Herzchen verteilt, wovon drei zu Matches führten. Der eine war ein lustiger Typ, der sich fröhlich schreiend neben einem weißen Känguru abgelichtet hatte. Zuerst schrieb ich ihm, dass er sehr lustig wirke, und offenbar interessante Freunde hätte, was er denn sonst noch so mache, er antwortete:
„Hallo schöne Frau, ich hopse den ganzen Tag so rum, und heute bin ich zum ersten Mal geflogen! Und du?“
Hm, naja, okay, dann übernehme ich mal seine alberne Sprache und antworte:
„Was für ein Zufall, heute hopse ich auch schon den ganzen Tag so rum. Wohin bist du denn geflogen?“
(Ich war tatsächlich auf der Arbeit andauernd zwischen den Etagen hin und her gerannt, und war ganz erschöpft von dieser „Hopserei“)
Daraufhin antwortete mir der Känguru Mann nicht nur nicht mehr, sondern löschte mich sofort. Da war ich beleidigt. Was hatte ich falsch gemacht? Oder war das ein geheimer Tinder-Code, etwas Sexuelles, das ich missverstand? Keine Ahnung.
Ein Typ, bei dem ich mich frage, warum ich überhaupt das Herzchen gedrückt habe, schreibt mir: „Hallo?“
Ich antworte: „Hallo! Na, wie geht’s?“
Er: „Danke, mir geht es sehr gut.“
Und jetzt?
Ich höre ihn förmlich unsicher flüstern. Hab direkt keinen Bock mehr, und antworte nicht mehr.
Zeitgleich begann eine Unterhaltung mit einem Typ, der mich an Richard David Precht erinnerte, der sein Profil ganz stylish aufgebaut hatte und sonst nicht viel von sich preisgab und sich „aB“ nannte. Da ich ein Foto in mein Profil gestellt hatte, auf dem ich eine Kippe im Mund und ein Weinglas in der Hand halte, um eventuelle Nichtraucher abzuschrecken, schrieb er mir als erstes:
„Deinen Drogenkonsum hast du ja schon bildlich dokumentiert (Smiley mit Sonnenbrille)“
Ich antwortete, dass das irreführend sei, da ich eigentlich kaum Alkohol trinke. Aus seinen Fotos könne ich aber rein gar nichts schließen, nur aufgrund seines Layouts würde ich mutmaßen, dass er wohl Ästhet sei. Daraufhin meinte er, gut dass wir das schon mal geklärt haben, worauf ich denn auf der Suche sei.
Ich sei erstmal nur neugierig, wüsste es noch nicht. Und er?
Er sei „offen für vieles...aber bestimmt nicht für alles.“
Und wieder so ein Sonnenbrillensmiley.
Irgendwie nervt der. Macht auf mysteriös, verrät nichts, nichtmal einen richtigen Namen gibt er an, ich antworte „soso“ und verlasse Tinder wieder.
Am nächsten Tag sehe ich, dass er mir wieder geschrieben hat, dass der Ball immer noch auf meinem Spielfeld läge, ich jetzt endlich mal konkreter werden soll, ich verrate ja gar nichts, auf dieser Oberflächlichkeit könne man keine „Thematik zu einem Gedankenaustausch“ aufbauen und noch mehr geschwollenes Zeug mit vielen Fremdwörtern gespickt, was wohl seine Eloquenz und Intelligenz unterstreichen soll.
Das ist ja wohl das Letzte, er macht einen auf undurchsichtig, und macht mir Vorwürfe.
Ich bin ja höflich, also erkläre ich ihm ganz ehrlich, dass ich neu hier bin, noch vorsichtig, und weder auf der Suche nach einer Beziehung noch nach schnellem Sex, aber neugierig auf Menschen, bzw, darauf ob man hier auf dieser Plattform tatsächlich einen Menschen kennenlernen könnte, den man auch im echten Leben interessant fände. Und er könne mir ja helfen, wenn er die Gepflogenheiten hier besser kennt, und wenn er mehr wissen wolle, könne er mich ja fragen, er hätte schließlich auch noch nichts über sich verraten, und ich wäre davon ausgegangen, dass man sich so langsam herantastet.
Daraufhin schrieb er mir einen unfassbar langen Text, was Tinder überhaupt für eine App sei, und fügte noch hinzu, dass pandemiebedingt mittlerweile 30 Prozent der Frauen Prostituierte seien, und es natürlich ganz klar um Sex hier geht, man ist hier um Leute zu finden mit denen man Körperflüssigkeiten austauscht. Dann fügt er noch ein „Wie allgemein bekannt!“ in einer weiteren Nachricht hinzu.
„Wie allgemein bekannt!“ ist bei Tommy und mir ein Super-Hassspruch.
Wenn den einer von uns ausspricht, will er den anderen ärgern, und weiß, dass er jetzt eins auf die Fresse kriegt.
Ich bedanke mich für seine Tinder-Ausführung, das sei mir tatsächlich im Großen und Ganzen bekannt, aber bevor ich Körperflüssigkeiten austausche, würde ich schon gerne noch ein paar Worte mit demjenigen wechseln, um rauszukriegen ob ich ihn auch nur halbwegs mögen könnte. Dafür hätte man wahrscheinlich diese Chatfunktion eingebaut.
Daraufhin löscht er mich und unsere ganze Konversation, ich bin sowas von aufgebracht, empört und fassungslos, was für ein arrogantes, besserwisserisches Arschloch er ist.
Fazit: Tinder ist nichts für mich, es kostet nur Nerven und für die Ausbeute, die ja in meinem Fall verschwindend gering ist, braucht man Zeit und Geduld, und führt dann auch noch zu so deprimierenden Unterhaltungen oder wird gar gelöscht, was, wenn es auch nur von Idioten gemacht wird, trotzdem demütigend ist.
Seit zwei Tagen ist reines Aprilwetter, die Sonne scheint so stark, dass sie blendet, dazu ist es stürmisch, plötzlich regnet es mit Donner und allem Pipapo, oder es hagelt, dann wieder Sonne. Ich bin eben einem Regenbogen hinterher gefahren um ihn besser fotografieren zu können, doch je näher ich ihm kam, umso mehr verblasste er.
Also bleibt nur das erste Foto, von dem Moment als ich ihn entdeckte.
Vorher war ich mit Tommy wieder auf unserer Bank vorm Sette. Er kam gerade von einem Testzentrum in der Altstadt, und hatte sich einem Schnelltest unterzogen, weil er heute Abend Besuch von einem Freund bekommt, für den er was Leckeres kocht und sich in einem geschlossenen Raum sicher und entspannt fühlen will. Der Freund hat sich auch getestet, sie sind beide negativ. Dass das Ergebnis eigentlich nur für 6 Stunden anwendbar ist, und um 20:00 Uhr seine Bedeutung verliert, spielt jetzt auch keine Rolle mehr.
„Ich bin negativ, du auch und dazu noch durchgeimpft, da können wir uns ja eigentlich mal drücken!“
Gesagt, getan, ich stehe auf und wir drücken uns ganz lieb.
In diesem Video spielt Frank mit:
Ich verstehe gut, dass Du Dich über die Reduzierung auf 30 Stunden freust und das einen großen Unterschied macht. 2 Stunden zusätzliches Liebeverschenken pro Woche können einen fertig machen, wie allgemein bekannt.