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Sonntag, 13. März 2022

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 13. März 2022
  • 9 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 13. März 2022

Heute wollte ich eigentlich mit Marie meinen Schwager, ihren Onkel Carlos im Krankenhaus besuchen. Im Januar wurde bei ihm ein Multiples Myelom festgestellt. Knochenmarkkrebs. Im Februar, am Anfang seiner Chemotherapie, fingen zuhause seine Wahnvorstellungen an, vermutlich weil er dehydriert war, er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, sein Zustand verschlechterte sich, die Ärzte waren ratlos und tendierten mal hier mal dort hin, bis er vor 3 Wochen mitten in der Nacht einen Herzstillstand erlitt, klinisch tot, 11 Minuten reanimiert wurde, 4 Rippen gebrochen, eine Woche ins künstliche Koma versetzt.

Als er langsam aufwacht, kann er ein wenig sprechen, wenn auch verwaschen oder manchmal ohne irgendeinen sinnvollen Inhalt, aber er erkennt seine Familie, die aufgrund der Corona-Massnahmen nur einzeln pro Tag zu Besuch kommen dürfen, ihm wird ein Herzschrittmacher eingesetzt, doch danach auf der Intensivstation ist er von Adrenalinspritzen abhängig, die sein Herz weiter schlagen lassen, die Ärzte geben weiter unterschiedliche Perspektiven an, von „alles wird gut, er macht Fortschritte“, bis hin zu „wir werden sehen, was passiert, wenn wir mit dem Adrenalin aufhören und er auf die normale Onkologiestation zurückkommt“.

Vor 4 Tagen eine plötzliche Fallbesprechung mit allen behandelnden Ärzten, Psychologen und meiner Schwester Franziska, Prognose: Carlos hat noch eine Lebenserwartung von ca. 10 Tagen, der Krebs hat gestreut.

Zwei Tage später, gestern nacht, schläft er für immer ein.

Welches Leid diese eigentlich kurze Zeitspanne, die sich aber wie Jahre anfühlt, auslöst, bei Franziska, bei meiner Nichte Milena, die in der Zeit auch noch ihren Umzug von Freiburg nach Brüssel organisiert, da ihr Mutterschaftsurlaub am 28. Februar endet und sie am 1. März dort wieder in ihren Beruf einsteigen muss, bei Marta und Mateo, die alle um ihren Papa bangen, die steilen Wechsel zwischen Hoffnung und Ohnmacht, das kann sich wohl jeder vorstellen.

Es war eine grauenvolle Zeit, in der der Tod des geliebten Menschen auch schon als Erlösung angesehen werden konnte, eine kleine Hilfe das Furchtbare zu akzeptieren.


Als mich Milena gestern früh anruft, ich bin noch gar nicht wirklich wach, informiert sie mich unter Tränen über Carlos' Tod. Ich bin geschockt, das ging jetzt aber schnell. Ich weine mit ihr.

Franziska und Marta sind mit ihr im Krankenhaus, sie können Mateo nicht erreichen, er hat die Nacht im Club gearbeitet, schläft wohl noch.

Ein Beerdigungsinstitut muss kontaktiert werden, denn Carlos muss jetzt schnell aus dem Krankenhaus abgeholt werden. Franziska, völlig am Ende, kümmert sich schon, während Milena mit mir telefoniert. Ich bitte sie ihm noch ins Ohr zu flüstern, dass ich ihm dankbar bin, denn Carlos war der einzige Mensch in meiner Familie, der mir immer wieder sagte, dass er mich liebt.

Sehr wahrscheinlich ist er auch der erste Mensch, der es zu mir sagte.

Meine Schwester ist 12 Jahre älter als ich, als sie ihn heiratete war ich noch ein Kind, und als ich dies zum ersten Mal von ihm hörte, war mir das peinlich, unangenehm, das kannte ich nicht. Ich wand mich verschämt grinsend aus seiner Umarmung. Doch in den letzten 20 Jahren genoss ich sein tiefes und ehrliches „Ich liebe dich!“ und konnte es erwidern. Allein dafür bleibt er für immer in meinem Herzen.


Nach dem Anruf versuche ich zu frühstücken, ich muss um 10 auf der Arbeit sein. Doch ich krieg nichts runter. Als ich kurz im Bad war und zurück komme, sehe ich einen verpassten Anruf aus meinem Heim.

Das heißt nichts Gutes, ich hatte ihnen verboten mich wegen irgendeiner Lappalie anzurufen, wegen des Dienstplans, oder ob ich etwas mitbringen kann, denn jedesmal wenn ich die Nummer auf dem Display sah, bekam ich einen Herzanfall, in der Befürchtung es könnte die Nachricht sein, dass mein Vater verstorben ist.

Jetzt war es kurz nach 8 Uhr, also auch eine ungewöhnliche Zeit, das muss ernst sein, mit Herzrasen rief ich zurück. Schon die Tonlage der Wohnbereichsleiterin bestätigte sofort meine Sorge.

Meinem Papa ginge es sehr schlecht, wir hätten das zwar im Vorfeld schon besprochen, aber sie brauche von mir jetzt offiziell die Ansage, ob sie ihn ins Krankenhaus bringen sollen oder nicht.

Er röchle stark, die Lunge brodele ja eh schon ewig.

Ich verneinte, nein, mein Papa kommt nicht mehr ins Krankenhaus!

Diese kurzzeitige Lebensverlängerung ist doch eine reine Qual. Ich hoffe doch täglich darauf, dass er es endlich schafft loszulassen, dass er endlich friedlich einschlafen kann. Keine Schmerzen mehr hat. Seit über einem Jahr erkennen wir ja nicht mal mehr emotionale Regungen, er spricht nicht, zeigt keinerlei Mimik, kann sich nicht bewegen, liegt in verkrampfter Haltung nur noch im Bett, wir geben ihm Essen und zu trinken, grüner Mini-Wackelpudding und Coca-Cola stets gekühlt in seinem Kühlschrank, ich stelle mich jedesmal wieder neu vor, ich bin's, deine Andruschka, manchmal füllen sich dann seine Augen mit Tränen, ich streichle ihn, halte seine Hand, manchmal erwidert er den Druck, ob Reflex oder Zeichen, das kann niemand sagen, erzähle ihm Witze, ich singe für ihn Lieder, tanze für ihn, hab ihm Flugzeuge aus Papier ausgeschnitten und an eine Schnur über sein Bett gehängt, damit sein Blick mal zufällig auf sein Lieblingsfortbewegungsmittel fällt, gegenüber seines Bettes all die großen Portraits meiner verstorbenen Mama, die ihn anschaut, passe auch den Mond und Sterne-Projektor, den Franziska ihm mal mitbrachte, an seine neue Postion an, wenn er mal wieder umgelagert wurde. Zig mal am Tag.

Nein. Er soll nicht ins Krankenhaus. Wenn dies jetzt der Anfang seines Sterbeprozesses ist, dann soll es so sein.

Völlig durcheinander telefoniere ich mit Marie, gebe ihr all die Schreckensmeldungen durch, weil wir eben morgen doch nicht zu mehr zu Carlos fahren werden, und weil sie jetzt noch die Möglichkeit hat, sich wenigstens von ihrem Opa zu verabschieden.

Sie ist gerade auf dem Weg zur Arbeit. Wir arbeiten beide heute am Samstag.

Sie weint und ist völlig aufgelöst, es tut mir so leid, sie ist ja so empfindsam, aber ich weiß wirklich nicht was ich machen soll.

Ich kann das doch nicht alles verschweigen oder verzögern. Oder besser doch?

Ich schicke eine Nachricht an David, er soll sich melden, wenn er wach wird. Auch er hat die Nacht im Club gearbeitet, und schläft.

Und was ist mit Franziska, Milena und Marta?

Kann ich ihnen das jetzt auch noch zumuten, während sie weinend im Krankenhaus von Carlos Abschied nehmen?

Ich hab ja keine Ahnung, wie lange es mit meinem Papa noch geht.

Wenn er nun auch heute noch verstirbt?

Und ich ihnen die Möglichkeit eines Abschiedes nehme, weil ich ihnen verschweige, wie es um ihn steht. Aber vielleicht macht er es noch ein paar Tage oder Wochen?

Und wenn nicht?

Ich schicke Milena heulend eine Sprachnachricht.

Sie bespricht sich mit den anderen, sie fahren jetzt erstmal zu Franziska nach Hause, machen sich frisch und kommen dann ins Heim.

Marie kommt völlig verheult auf ihrer Arbeit an, auf Nachfrage sagt sie, dass ihr Onkel verstorben sei und ihr Opa im Sterben liege. Sie schicken sie raus, sie soll zu ihrer Familie gehen.

Sie fährt schon mal ins Heim, will dort auf mich warten.

Ich wollte eigentlich noch warten bis das Sanitätshaus hier um die Ecke aufmacht, weil ich dringend die Krücken bestellen muss, die ich brauche, wenn ich in einer Woche ins Krankenhaus gehe, weil mir eine neue Hüfte eingebaut wird, aber ich halte es nicht mehr aus, kann eh nicht frühstücken, vergesse alle meine Medikamente zu nehmen, und mache mich auch auf den Weg ins Heim.

Marie und ich sind ungefähr zeitgleich da, warten auf das Ergebnis unseres Schnelltestes, und gehen zu Opa.

Wir sagen ihm nichts von Carlos.

Marie hält seine Hand, ich sitze, liege halb, auf seinem Bett und umarme seine dünnen Beinchen, die angewinkelt hochstehen, er wiegt ja nur noch 30 Kilo.

Papas Augen füllen sich mit Tränen als ich mich wieder als sein Mädchen vorstelle, Marie stelle ich ihm als Mini-Andruschka vor, „Guck, Papa wie ähnlich wir uns sehen. Deine Enkelin Marie und ich!“

Die Wohnbereichsleiterin hatte mir im Vorfeld gesagt, dass es ihm etwas besser gehe, da Malte und sie ihn eben „abgesaugt“ hätten. Die oberen Luftwege wären jetzt wieder etwas freier. Sie ist sehr lieb und nimmt mich in die Arme.

Er röchelt dennoch hin und wieder und hustet zwischendurch dass uns bange wird.

Wir befeuchten seine Lippen mit dem Stabschwämmchen voll Cola, später, als Marie für sich und mich Frühstück beim Bäcker geholt hat, belegte Brötchen und frisch gepressten Orangensaft, tupfe ich ihm auch von dem sauren Saft auf die Lippen, er saugt richtig an dem Schwämmchen.

Wir legen eine CD ein, ein Mix seiner Lieblingslieder, und als erstes kommt ein Lied, das ich als Kind mit meiner Mutter gesungen habe, und auch ich Marie beibrachte als sie klein war.

Ein furchtbar kitschiges Lied aus einer Operette.

„Ach, ich hab in meinem Herzen darinnen, einen wundersamen Schmerz“.

Wir singen es jetzt mit für Opa, schauen ihn an, halten ihn fest und nach ein paar Strophen bricht uns die Stimme weg, wir heulen und lachen, mein Gott, was sind wir doch nur für eine Drama-Familie, und so romantisch dazu.

Dann kommt zuerst Milena ins Zimmer, ihr Schnelltest gilt noch, Franziska und Marta müssen noch draussen im Flur auf ihr Ergebnis warten.

Milena erzählt aufgelöst, dass Carlos noch warm war, also sie kamen, aber als sie gingen, war er schon ganz kalt. Dann beschreibt sie ihren letzten Kontakt mit ihrem Papa, gestern, als sie mit ihrem kleinen Sohn bei ihm war, und Carlos ihn geküsst hatte, als sie ihn ihm hinreichte.

Wir kommen aus dem Heulen gar nicht mehr raus.

Als Franziska mit Marta kommt, umarmen wir uns alle andauernd, heulen, drücken uns, heulen und widmen uns dann Papa, kommen langsam auch auf lustige Geschichten. Franziska sagt zu Papa, dass Mama auf ihn warte, um ihn im Malefiz zu schlagen. Ich drohe ihm, er soll aber ja nicht das Spielbrett vom Tisch werfen, wenn er wieder gegen sie verliert.

Endlich ruft Mateo zurück, Milena weint nur, als sie dran geht, da weiß er wohl Bescheid, aber sie glaubt er ist so verpeilt, verschlafen, sie sei sich nicht sicher ob er es verstanden hat. Sie verabreden sich für gleich bei Franziska zuhause.

Auch David ist jetzt wach und meldet sich, ich erzähle ihm alles, wir machen aus morgen gemeinsam seinen Opa zu besuchen.


Die ganze Zeit schwebt sehr viel Liebe im Raum. Das kann man wirklich spüren, wir sind alle ganz verbunden und weich.

Als sie weg sind, bleibt Marie noch ein wenig, aber als auch sie weg ist, versuche ich ein wenig meine Arbeit zu machen.

Das lustige Gruppenangebot heute Nachmittag lasse ich auf jeden Fall ausfallen.

Ich mache ein bisschen Vorarbeit am Computer, für die Zeit wenn ich hier wochenlang nicht da bin, da ich ja nach der OP noch in eine Rehaklinik muss. Aber ich merke, dass ich Fehler mache, bin unkonzentriert und fahrig, lasse es wieder sein.

Sollen sie doch allein mit dem Kram und der Organisation zurecht kommen.

Und so verheult, wie ich gerade aussehe, kann ich mich auch nicht mit Nicht-demenziell-Veränderten beschäftigen, die fragen dann was los ist, und dann fange ich bestimmt gleich wieder an.


Ich kümmere mich also um die „Beklopptesten“, als erstes Frau Z., die eh schon wieder schimpfend mit gepackter Tasche auf ihrem Schoß ihren Rollstuhl in Richtung Nachhause bewegt. Sie atmet erleichtert auf, als ich komme,

„Da bist du ja, Gott sei dank! Mein Gott, das ist so furchtbar hier, wenn meine Mutter das sieht, die kriegt zu viel. Und die Aggi kann ich auch nicht finden. Los, lass uns sehen, dass wir hier wegkommen!“

Ich steige ein ihre Welt, schiebe sie ein wenig durchs Haus, plaudere mit ihr, stimme ihr in allem zu, im Foyer setzen wir uns vor das große Panorama-Fenster und betrachten das Treiben da draußen.

Die Sonne scheint, der Himmel ist hellblau.

Es ist ein ruhiger schöner Samstag Nachmittag.

Sie beruhigt sich, findet das auch alles schön, entdeckt den Bus.

„Der 131er, der fährt zum Südfriedhof!“.

Alles hat wieder seine Ordnung, alles so schön sauber hier, bemerkt sie zufrieden.


Ich betreue noch Herrn N., der heute mal nicht so aggressiv ist, und Frau B. , die im Bett liegt, ihren Teddy auf Seite legt und mich zärtlich anschaut und mich streichelt, über mein Haar, meine Schultern, meine Hände, und mir dabei irgendetwas erzählt:

„Rongtong Tong. Tong Tong. Rongtong.“ Ich nicke ab und zu zustimmend oder frage:

" Ach, wirklich?" Sie nickt aufgeregt und weiter geht’s mit Rongtongtong.


Gegen 16 Uhr mache ich Feierabend, verabschiede mich bei Papa, hinterlege im Dienstzimmer noch mal meine Telefonnummer für den Nachtdienst. Sie können mich jederzeit anrufen, wenn was passiert, ich korrigiere das nochmal, nur in der Zeit zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens nicht, denn ich denke, in dieser Zeit mit einer schrecklichen Nachricht konfrontiert zu werden, hilft niemandem. Ich könnte ja eh nichts machen.


Als ich gehen will, ist mein Bruder mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern angekommen, auch meine jüngste Schwester Edeltraud ist dabei. Ich hatte sie auch alle am Morgen informiert. Wir umarmen uns alle, nur Edeltraud und ich nicht. Wir machen beide keine Anstalten. Ich werde mich eh nicht mehr in diesem Leben mit ihr versöhnen. Es war schon lieb genug von mir, ihr Bescheid zu sagen und ihr zu raten sich an unseren Bruder zu wenden, wenn sie mit ihm kommen will. Ich bin nicht voller Groll, wie sonst wenn ich mit ihr zu tun habe, sie ist mir einfach egal. Und das ist befreiend. Zu lange habe ich unter ihrer Hetze, ihren manipulativen Machenschaften, ihrer Missgunst und ihrem Hass gelitten. Der Zustand oder der Tod meines Vaters werden nichts daran ändern. Ich werde weiter die Befreiung genießen, sie spielt keine Rolle mehr in meinem Leben.


Zuerst wollte ich das Abendessen heute bei Meret und Gregor, zu dem auch Tommy und Markus kommen, absagen. Aber dann schwenke ich um, was soll ich trübsinnig allein zuhause sitzen?

Meret und Tommy habe ich über die Umstände informiert, das soll dann heute kein Thema mehr sein.

Ich werde mich vorsätzlich besaufen. Mit Rosé, mit Marillenschnaps, den mir Meret, glaub ich, mit Wasser verdünnt hat, denn ich bin wirklich sehr schnell ausser Rand und Band. Albern, überdreht, haltlos.

Aber das tut gut. Ich hab alle lieb hier im Raum. Meine Freunde. Es gibt keinerlei Probleme. Alles ist schön, warm, lustig.

Und das Essen ist so lecker, so fantastisch, dass mir allein darüber schon wieder die Tränen kommen.

Selbst als mir irgendwann schlecht wird, hab ich noch gute Laune, trinke ab da nur noch Wasser. Kurz vor Mitternacht packt mich Tommy ein, wir fahren mit dem Taxi nachhause. Er ist stolz auf mich, dass ich noch die Kurve gekriegt habe, und nicht angefangen hab zu kotzen oder zu randalieren oder so.


Ich schaue mir im Bett noch das Neueste über den Krieg in der Ukraine an, dem wirklichen Wahnsinn, der da draussen gerade passiert, bei dem wir auch alle ohnmächtig nur zuschauen können, schlafe ein, werde wegen der Schmerzen in der Hüfte zwanzigmal wach, mir fällt alles wieder ein, der Krieg, Carlos, Papa, und kann das alles gar nicht glauben.




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