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Samstag, 23. Oktober 2021

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 23. Okt. 2021
  • 7 Min. Lesezeit

„Hilfe...Hilfe!“

höre ich aus dem hinteren Wohnbereich. Es ist gerade Schichtwechsel bei den Pflegern, die machen „Übergabe“. Ich versuche zu orten woher genau die Hilferufe kommen, erkenne die Stimme nicht, Frau E. ist es jedenfalls nicht, die ruft auch schon mal um Hilfe, wenn sie sch mit dem Rollstuhl selbst zwischen irgendwelchen Möbeln verbarrikadiert hat, nicht mehr vor noch zurück kann, die kommt mir gerade lächelnd entgegen gerollt.

Ich kann nicht mal erkennen ob es eine weibliche oder männliche Stimme ist, das würde die Suche in den Zimmern etwas erleichtern.

Es ist Herr B., das letzte Zimmer im Gang, er liegt im Rollstuhl droht weiter nach unten zu rutschen und zu stürzen. Natürlich gehe ich sofort zu ihm, stelle meine Füße vor seine, damit sie nicht weiter nach vorne rutschen und ihn so nach unten aus dem Rollstuhl ziehen.

Ich kann und darf ihm jetzt nicht wieder hoch helfen, tröste und beruhige ihn aber, rufe in der Pflege an und bitte um Unterstützung. Herr B. ist untröstlich, spricht sehr verwaschen, er nimmt wohl auch entsprechende Medikamente, denn er ist hochdepressiv, droht ab und zu mit Selbstmord, war deswegen auch bis vor kurzem für ein paar Wochen in der Psychiatrie, aber das ist ein anderes Thema (gar nicht mal so selten, dass alte, kranke Menschen sterben wollen, es aber nicht schaffen ihr Leben zu beenden, und helfen darf man solchen Menschen ja auch nicht, ein furchtbares Thema, sehr bedrückend, auch im Fall meines Vaters, ich sage es ganz offen, wenn Sterbehilfe in Deutschland erlaubt wäre, ich wäre die Erste, die meinem Vater diese Pillen geben würde) aber jetzt ist Herr B. ganz normal verzweifelt, weil er langsam aus dem Stuhl rutscht, er es selbst nicht stoppen kann, das kann man sich ja auch vorstellen, was für ein unangenehmes Gefühl das sein muss, selbst wenn man weiß, dass ja eigentlich nichts Supergefährliches passieren kann, man sich sehr wahrscheinlich nicht mal verletzt, aber da so zu hängen und keiner kommt, der Arme!

Ich tröste ihn also und Bernardo ist schnell da, zieht Herrn B. hoch bis er wieder richtig sitzt und schimpft ihn ein bisschen aus.

Ich bleibe noch was bei ihm, keine Minute nachdem Bernardo wieder zurück zur Übergabe ist, rutscht er schon wieder runter. Weil er anstatt mit den Armen, also den Händen an den Rädern dreht um vorwärts zu kommen, er mit seinen Füßen, wie es viele Rollstuhlfahrer machen, nach vorne drippelt. Normalerweise zieht dann der Rollstuhl mit, aber Herr B. schafft es, dass sich nicht der Rollstuhl bewegt, sondern er sich damit mit dem Popo nach vorne zieht. Das wiederum macht ihn unruhig und er drippelt weiter mit den Füßen und zieht sich noch weiter runter, das beobachte ich und analysiere es genau, da kommt mir eine Idee. Ich zeige ihm wie er in so einem Fall dann wenigstens in Richtung einer Wand, Tür oder Schrank drippelt um seine Füße dagegen zu stemmen, dann die Handbremsen anzieht und sich so selber hoch schieben kann. Das klappt beim ersten Mal.

Ich find mich genial.

Beim zweiten Mal braucht er beim Anziehen der Bremse meine Unterstützung, beim dritten Mal hat er den kompletten Ablauf schon wieder vergessen, und beim vierten Mal ruft er schon wieder um Hilfe.

Es ist zum Haare raufen.

Ich helfe ihm nochmal mit seiner Hilfe zurück in den Sitz:

„Sie müssen kurz den Popo heben!“

Er beugt sich jetzt ganz nach vorne.

„Nein! Nicht zurück mit dem Rücken, kommen Sie nach vorne, mit dem Popo und dem Rumpf, den Rücken gerade machen, sitzen Sie gerade, jetzt drücken Sie bitte die Füße gegen die Tür und stemmen sich zurück!"

Na bitte, klappt doch.

"Jetzt bitte nicht mehr bewegen, ich schiebe Sie vor den Fernseher, nein bewegen Sie bitte Ihre Füße jetzt nicht, heben Sie sie hoch, ich schiebe Sie doch!“

Er drippelt trotzdem etwas mit und zieht sich wieder ein paar Zentimeter nach vorne obwohl ich hier nur einen Meter schiebe, bis er neben dem Tisch vor dem Bett in Richtung Fernseher steht. Herrjeh, er hängt schon wieder ein wenig in den Seilen, aber es sieht nicht so schlimm aus. Wenn er jetzt vom Fernsehen abgelenkt wird, kann er hoffentlich die nächste halbe Stunde in Ruhe dort sitzen.

Ich kann leider echt nicht länger hier bleiben, das wäre eh eine Sisyphusarbeit, ich muss noch andere Dinge erledigen, wir sind schlecht besetzt momentan, drei krank, zwei in Urlaub, ich bin heute original allein mit dem I-Jobber und dem lahmarschigen Praktikanten im sozialen Dienst.

Unbefriedigt gehe ich ins Pflegedienstzimmer um Bernardo um Rat zu fragen und um ihm zu stecken, dass ich sein Schimpfen völlig unangebracht fand.

Ja, das weiß er, aber wir sind alle nur Menschen, seit Tagen geht das alle 10 Minuten so, alle hier auf der Station seien völlig erschöpft und genervt.

„Aber er ist doch krank, er macht das doch nicht um Euch zu ärgern!“

„Ja, das ist klar, meistens hab ich mich Griff, aber ich bin auch nur ein Mensch, du siehst was ich hier sonst noch machen muss!“

„Ich weiß, das ist anstrengend. Aber wir sind doch Profis, wir sollten so etwas nicht persönlich nehmen. Man kann den armen Herrn B., der sowieso schon so unglücklich ist, nicht ausschimpfen. Da fühlt er sich ja noch schlechter. Und es bringt doch nichts. Schimpf doch leise wenn du draußen bist, kotz dich draußen aus.“

„Naja, gestern hat es was gebracht, als ich zum fünften Mal hintereinander bei ihm war, rutschte mir auch ein Gemecker raus, da war er danach für eine Zeitlang ruhig.“

„Vielleicht aus Angst?“

„Hm. Du hast ja Recht! Ich geb mir Mühe. Ich bin voll bei Dir und wenn ich das bei anderen sehe, sage ich genau das, was du mir jetzt sagst. Es ist halt echt schwierig.“

„Aber was kann man denn da machen? Ist es nicht besser ihn zu Bett zu legen, dann kann er wenigstens nicht stürzen?“

„Das will er nicht. Er will nicht ins Bett. Wir haben einen Geronto-Stuhl bestellt, auf den warten wir. Da kann er nicht so rausrutschen.“

„Ok. Und Fußstützen dranmachen, dass er gar nicht erst mit den Füßen auf den Boden kommt?“

„Das will er auch nicht, er will sich ja bewegen, er kann das mit den Händen nicht.“

„Hm. Wirklich schwierig. Der arme Mann!“

„Ja!“


Frau Sch. ist letzte Woche gestorben, an ihrem Geburtstag. Ein Pfleger kam morgens zu mir und meinte, sie mache sich jetzt endgültig auf den Weg, ob der soziale Dienst da verstärkt anwesend sein könne. Weiße der Teufel woher die Pfleger sowas immer wissen. Ich konnte bei ihr keinen Unterschied zu gestern oder letzter Woche feststellen. Sie war seit Wochen bettlägerig und äusserte mehrmals täglich dass sie sterben werde, oder dass sie sterben wolle. Aber nichts passierte, über Wochen.

Adele und ich wechselten uns also bis zu unserem Dienstschluss im Halbstunden-Takt ab, um ihre Hand zu halten, ihr die Lippen zu befeuchten, sie zu streicheln, leise lieb zu ihr zu reden. Als wir Feierabend machten, lebte sie noch. Am nächsten Tag auch noch, wir wechselten uns alle wieder ab. Das Palliativ Team aus der Uniklinik kam auch täglich vorbei um die BTM- Massnahmen zu erhöhen, damit sie angst- und schmerzfrei gehen kann.

Danach der Tag, an dem sie Geburtstag hatte, es war Wochenende und ich hatte frei, starb sie dann. Sie wollte ihre Tochter nicht mehr sehen, wie traurig, was da wohl schief gelaufen war, dass sie sie selbst im Sterben nicht um sich haben wollte.

Nur wir waren bei ihr. Wie die letzten fünf Jahre, die sie hier lebte. Wir waren ihre engsten Menschen, sie bastelte mit uns, sie döste, wenn wir ihr vorlasen, sie summte mit, wenn wir sangen, sie hob sich immer ihr Frühstücksei für später auf, liebte Bananen, Blumengestecke, und hasste Krach, mach bitte das Radio leiser.

Jetzt ist sie weg, ich vermisse sie, und gleichzeitig bin ich froh für sie, dass sie „es geschafft“ hat, wie wir hier so profan sagen.

Die Tage an denen ich täglich bei ihr war und ihre Hand streichelte, saugten aus mir jede Energie. Ich war sowas von müde und antriebslos, ich dachte Frau Sch. hat meine Lebensenergie aus meinen Händen gesaugt, deshalb hat sie noch drei weitere Tage da gelegen. Adele ging es da nicht viel anders.


Nach diesen Tagen wie immer mit Tommy im Sette getroffen. Meine Aufnahmefähigkeit war also etwas reduziert, er war aber auch nicht viel weniger verpeilt.

Auszug aus einem Gespräch, in dem er mir von jemand erzählen wollte, den er gestern in einer Talkshow gesehen hatte:


„Beim Zappen bin ich dann hängengeblieben bei dieser Talkshow mit der Frau, wie heißt die noch? Nicht Maischberger.“

„Maischberger.“

„Nee, die nicht , die andere..“

„Die mit dem Gesicht?“

Ich kam jetzt auch nicht auf den Namen, nur dass sie sich furchtbar das Gesicht hatte liften lassen.

„Ja, genau. Die mit dem Gesicht.“

„Deren Namen ich vergessen habe, seit sie sich hat operieren lassen?“

„ Hä? Die andere, die aussieht wie die Maischberger, die auch so ein viereckiges Gesicht hat.“

„Hä?“

„Du meinst Anne Will. Nee, die ist doch sonntags! Das war gestern, hatten wir gestern etwa Sonntag?“

„Weiß ich doch nicht!“

„Die mit dem viereckigen Kopf.“

„Ich weiß nicht, Anne Will nicht, Maischberger auch nicht, wen gibt’s denn noch?“

„Ich habs! Maybritt Illner. Die war's.“

Über die Befriedigung, dass er auf den Namen der Moderatorin kam, vergass Tommy mir zu erzählen, über wen er eigentlich reden wollte, ausserdem kam Achim schon um die Ecke und setzte sich zu uns, erst sein übliches „Na, schon wieder Feierabend? Hast du gearbeitet? Da sitzt ihr hier wieder. Schönes Wetter?“ um uns dann mit halb geöffneten Augen ohne Punkt und Komma Unverständliches entgegen zu nuscheln, zwischendurch kicherte er, grinste verschwörerisch Tommy an, Männer halten zusammen. Tommy und ich hören ihm grinsend zu, schauen uns manchmal fragend an, kramen Kleingeld raus, ich noch eine Zigarette aus der Packung, die ich extra für Achim und andere Schnorrer bei mir trage, Lucky Strikes aus einer Stange vom Flughafen, die ich nicht mag. Achim humpelt davon, wir zahlen, unsere Zeit ist auch schon wieder vorbei, Tommy muss noch zu einem Meeting ins Olympia, es ist kalt, ich gehe nach Hause.




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