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Montag, 9. August 2021

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 9. Aug. 2021
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Nov. 2021

Gestern gingen die olympischen Spiele in Tokio zuende, die ganze Zeit über hatte ich nicht ein einziges Mal irgendetwas live mit angeschaut, nur die hervorstechenden Skandalmeldungen im Nachhinein verfolgt, wie z.B. das Pferdedrama beim Fünfkampf, mit der heulenden Athletin auf dem sich weigerndem Ross und der zu Schlägen auffordernden Trainerin, oder die rassistischen Anfeuerungen eines Trainers beim Radrennen: „Hol die Kameltreiber, los, komm!“, oder der Marathonläufer, der alle Wasserflaschen umwarf um nur für sich etwas Wasser zu greifen, und natürlich die Skandale von den Machern der olympischen Spiele im Vorfeld, die nacheinander gefeuert wurden, aufgrund von getätigten Holocaust-Witzen, Sexismus und Behindertenmobbing. Cornelius, der Komponist der Eröffnungsfeier, mobbte anscheinend in seiner Schulzeit behinderte Kinder.

Ich hab ein paar Maxis von ihm. (siehe Video unten)


Mein persönlicher Höhepunkt der Woche war für mich der Besuch der wahnsinnig beeindruckenden Ausstellung „Hotel Rooms and Flower Blooms“ von Ana Motjer und Oliver Schneider, die durch ein spezielles Druckverfahren Fotoarbeiten auf Aquarellpapier hergestellt hatten, die so wunderschön wie alte Gemälde wirkten. Oder wie Photographien von 1850, wie Britt fand, mit der ich da war. Dazu tranken wir erst blauen Tee, dann rosafarbenen, dann gelben. Anschließend tratschten wir blinzelnd noch etwas auf dem Ebertplatz am Büdchencafé in den letzten Sonnenstrahlen, bevor ich über die leere Hohestrasse, welch ein Genuss, wieder zurück nach Hause radelte.


Heute auf der Arbeit verlief dagegen alles völlig kulturlos. Ich verschüttete so gut wie alles was man verschütten kann, vergaß alles, was man so an Kleinigkeiten vergessen kann, und lief deswegen 87mal soviel wie nötig, zu meinem Gruppenangebot am Nachmittag kamen viel mehr Leute als ich eingeplant hatte, die Mischung an Personen ließ nur den kleinsten gemeinsamen Nenner beim Gedächtnistraining zu, das führte bei manchen Bewohnern zu solch schrägen Reaktionen, dass ich vor Lachen fast vom Stuhl flog. Ich krieg nicht mehr alles zusammen, aber zwei der Highlights waren sicherlich Herr B.'s völlig ernst gemeinte Antwort auf die Frage,

„Was ist aus Holz und fängt mit „B“ an?“:

„Bumsklo“

und Herr N., der immer wieder einnickte und sobald ich ihn ansprach, wir uns gegenseitig jedesmal „Guten Morgen!“ wünschten.

Nach Feierabend blieb mir nicht viel Zeit, da ich schon um viertel vor 7 von Peter abgeholt wurde, weil wir zusammen zum neuen Spanier bei mir um die Ecke gingen, um dort gemeinsam mit Britt Geralds gestrigen 72. Geburtstag nachzufeiern.

Peter ist 74, Britt und ich 59 Jahre alt, wir beide kennen Gerald und Peter seitdem wir junge minderjährige Hühnchen waren.

Gerald hatte in 80ern eine schicke Penthousewohnung in der Kettengasse, in dem Haus, in dem das Café D'Or unten zum prominenten Popper-Treff wurde.

Seine Wohnung war komplett in Art Deco und Jugendstil eingerichtet, was mich als Jugendliche extrem beeindruckte, sowas hatte ich noch nie gesehen.

Ich durfte irgendwann mal Tim, Britts Bruder, mit zu Günter begleiten, denn eigentlich hingen dort nur Jungs ab, süße Jungs, denn Gerald, der mir damals uralt vorkam, er war immerhin schon über 30, und wir teilweise nicht mal volljährig, lud alle süßen hübschen Jungs gerne zu sich nach Hause ein, zum kiffen und abhängen. Mehr kam wohl nicht dabei herum, denn die meisten waren hetero. Der ein oder andere süße Stricher war aber wohl auch mal dabei. In der Wohnung gab es immer eine große Schüssel voll Gras, die stand auf einem flachen Tisch vor dem Sofa und wir durften uns nach Herzenslaune bedienen.

Ein Traum. Nachts im Coconut tanzen und davor und danach zu Gerald.

Manchmal gab Gerald auch fantastische Parties in seinem Domizil. Mottoparties. Zum Beispiel: „Plastik“.

Mit Herbert, einem anderen schwulen Freund von damals (zu dem der Otto-Name „Herbert“ wie die Faust auf's Auge passte, weil er eigentlich wie ein Indianer aussah, mit Federn im tiefschwarzen langen Haar) bereitete ich mich darauf vor. Herbert lernte ich kennen, nachdem ich ihn wochenlang beobachtete, wie er im Lendenschurz mit klassischen Ballettbewegungen zur Discomusik tanzte. Mit meinen 17 Jahren und in meiner provinziellen Naivität kam ich nicht eine Sekunde darauf, dass er schwul sein könnte, aber ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben so etwas Schönes und so jemand Exotisches gesehen, natürlich war ich sofort schockverliebt als ich ihn das erste Mal seine Show auf der Tanzfläche abziehen sah. Er trat immer mit Corinna auf, die ebenso eine extrovertierte Schönheit war, wie gerade frisch gepudert einem Zwanziger-Jahre Film entsprungen, auch in sie verliebte ich mich und war fassungslos als die beiden mich unspektakuläres Landei eines Tages ansprachen und irgendetwas in mir sahen. Zuerst waren es meine Hände, die seien wunderschön. Wir freundeten uns an und kurze Zeit später verließ ich meine verhasste Heimat im Rechtsrheinischen und zog zu ihnen in die Innenstadt, und war mit 17 Jahren endlich da angekommen, wo ich vorher noch nicht mal wusste, dass ich da hin wollte.

Sie brachten mir Fellini, Marilyn Monroe, Gabor Szabo, Andy Warhol, Jugendstil und The Pretenders bei.

Jedenfalls Herbert und ich bastelten uns aus türkiser Plastikfolie und Styropor Reifen phänomenale Future Kleidung für Geralds Party. Wir beide klebten und nähten uns Minikleider, um die Fuß- und Armgelenke schlackerten lackierte Styropor-Ringe. Damit waren wir natürlich der Renner , aber längst nicht die einzigen, die sich so in Schale geworfen hatten. Ein andermal war das Thema „Blau“, da gab es zB. blauen Kartoffelsalat.

Auf diesen Parties in seiner Luxuswohnung war stets die Creme de la Creme der Exoten der Nacht, von 15 bis 70 Jahren waren alle Generationen vertreten, egal ob vermögend oder arme Schülerin, wie ich.

Geralds Mutter saß wie eine Königin auf einem thronartigen Sessel und begutachtete das Ganze völlig in sich ruhend, schien es aber zu genießen.

Peter war der beste Freund von Gerald, zeitweise waren sie auch Geschäftspartner, die beiden produzierten Ende der Siebziger spezielle Jeanshosen, die sie auf Ibiza verhökerten, was sich zu einem enormen Geldsegen entwickelte.

Die beiden also, Britt und ich saßen beim Spanier. Gerald, mit seinem gescheitelten Fiffi auf dem Kopf, sah aus wie ein Popper in seinem aprikotfarbenem Oberhemd, und Peter wie ein Safaritourist in seinem erdfarbenem Outfit, beide sahen toll aus, Britt und ich natürlich auch.

Obwohl Gerald seit Jahrzehnten in Marokko lebt und nur noch selten in Köln verweilt, jetzt halt wegen Corona etwas länger da war, wir uns also normalerweise recht selten sehen, setzte sofort eine vertraut alberne Stimmung ein, alles in old-school-schwulisch, in der Peter einen Witz nach dem anderen raushaute. Die Gags waren gar nicht mal so witzig, aber allein weil er sie erzählte, und wie er sie erzählte, glucksten, kicherten und lachten wir bald unverhohlen laut und wurden so dann doch noch zu den Lieblingen der Kellner, was anfangs eher nicht so den Anschein hatte, da sie uns offensichtlich als schwierig einstuften, weil Gerald sich nichts vom Kellner zum Vinho Verde erklären lassen wollte,

„Das weiß ich selber!“,

und auch sonst eher einen arroganten Ton angeschlagen hatte, doch je betrunkener wir wurden, umso lockerer wurde auch Gerald. Peters Witze, ihm fiel wirklich fast zu jedem Thema ein Witz ein, weichten auch sein hartes Herz auf.

“Ein Junger Mann holt ein Mädchen bei deren Eltern ab und stellt sich an der Tür der Mutter vor:

„Guten Tag mein Name ist Umberto, und ich möchte Ihre Tochter abholen um sie später zu vögeln!“

„ Wie bitte? Um was?“

„Umberto!“

Peter hatte ich seit den 80ern nicht mehr gesehen, aber witzigerweise vor drei Jahren bei einem Treffen mit Gerald, bei dem er auch auftauchte, erkannte ich ihn als den Angehörigen einer lieben Bewohnerin meines Heims. Er fiel auch aus allen Wolken als er mich da sah, und konnte es nicht fassen, dass wir uns seit Jahren im Seniorenheim nett grüßten und keine Ahnung hatten, dass wir uns eigentlich kennen. Aber seitdem, wir stellten sogar noch fest, dass wir im Prinzip in der gleichen Strasse wohnen, trafen wir uns hin und wieder mal, tranken Kaffee im Settebello oder Gimlet im Keimaks, wo ein alter Freund von Peter (ebenso mit dem Namen Peter) arbeitete, der auch schon über 70 war, und schon seit den Siebziger Jahren als Barmann, lange Zeit im La Strada, unter dem Namen "Petra" eine lokale Legende wurde. „Petra“ als Anspielung auf seine Homosexualität, was die Kölner in den 70ern und 80ern nicht als diskriminierend oder abwertend bezeichnet hätten, sondern eher als liebevoll.

Peter, der Barmann, ein würdevoll gealterter Herr, der galant und still die Cocktails mixte, erzählte uns, dass er wohl sehr wahrscheinlich so lange arbeiten müsse, bis er tot umfällt, denn über 30 Jahre hatten seine Arbeitgeber „vergessen“ seine Rentenbeiträge zu zahlen und so wäre er sofort zum Sozialfall geworden. Ich fürchte seit Corona, als alle Gastrobetriebe Leute entlassen mussten, ist dies dann doch geschehen, denn ich habe ihn seitdem gar nicht mehr gesehen.

Diese drei älteren Herren, die den Paragraf 175 noch miterlebt haben, die in den Achtzigern, als Aids über die Welt rollte, viele enge Freunde verloren hatten, die sämtliche Clubs und schwulen Promiklatsch in- und auswendig kennen, und die sich immer noch kennen, verbunden und verschworen, sind für mich wahnsinnig interessante Zeitzeugen, denen ich stundenlang zuhören kann.


Zum ersten Mal fiel mir auf, dass Geralds Mund exakt so aussieht wie der Mund von Karl Lagerfeld, und auch das nur, weil Gerald ihn erwähnte, denn er erzählte, dass er kürzlich Karl Lagerfelds Geheimstrategie zum Abnehmen ausprobiert hat, nämlich die Pralinen, die Karl ebenso liebte und tonnenweise in sich reinschaufelte wie er selbst, ab dem Zeitpunkt seiner Diät, nur noch kaute oder lutschte und dann in einen extra dafür (bestimmt wunderschön designten) Spucknapf ausspuckte. Gerald hatte nämlich jetzt ein Bäuchlein und schaut, dass er den bald wieder los wird. trotzdem bestellten wir uns alle noch ein Dessert. Ohne Spucknapf.



ree

Wie bei jedem Treffen bat ich Gerald mir diesen Videofilm zu geben, der auf der „Plastik“-Party gedreht wurde, damit ich ihn digitalisieren kann, aber er hat immer Ausreden, weshalb das gerade nicht geht, und dann ist er auch schon wieder nach Casablanca abgereist.




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