Sonntag, 8. August 2021
- Mai Buko
- 8. Aug. 2021
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Nov. 2021
Meine Güte, es tut mir wahnsinnig leid.
Ich tu mir wahnsinnig leid. Kann seit Wochen, seit Monaten keinen Beitrag zuende schreiben, Fragmente häufen sich in meinem Ordner, beim Radfahren formuliere ich das was ich erzählen möchte in Sätze, komme auf kleine fertige Abschnitte, zuhause dann am Rechner wieder diese öde Leere im Kopf.
Schuld ist wohl meine nicht enden wollende Leidensgeschichte meiner Arthrose, was nicht nur Schmerzen, sondern auch schlechten Schlaf und einen sichtbar behinderten Gang zur Folge hat, ja ich humpele und muss mich erst einlaufen, wenn ich vom sitzen aufstehe, Treppen steigen ohne Geländer an dem ich mich hochziehen kann, geht gar nicht mehr, ein begleitender Depressionsschub, womöglich durch meinen körperlichen Abbau gefördert, lässt mich alles durch eine graue Brille sehen, Antrieb gleich null, nur auf der Arbeit funktioniere ich einwandfrei, sogar großartig, die eine Woche Urlaub, die ich dann aber nehmen musste, obwohl ich keine Pläne hatte und es ohne Ende regnete, gab mir den Rest, ich versank in eine trostlose Stimmung, die dann noch zusätzlich zu meinen Gelenkschmerzen eine erneute und wahnsinnig schmerzhafte Magen/Darm Erkrankung hervorbrachte, ich nur noch weinend und durch die Wohnung kriechend die freien Tage hinter mich brachte.
Viel schlimmer hätte es nicht kommen können, ich hatte jeden Funken Lebensfreude verloren, keine Idee wie ich diesen Zustand den Rest meines Lebens aushalten könnte.
Als der Urlaub endlich vorbei war, ich auf der Arbeit gebraucht wurde und die üblichen sofortigen liebevollen Feedbacks von getrösteten oder zum Lachen gebrachten Bewohnern zu Balsam für meine Seele wurden, kümmerte ich mich humpelnd um dies und das, war zufrieden bis glücklich und brach abends vor Erschöpfung zusammen.
Ein bisschen Licht am Horizont, aber immer noch belastend, meine Laufschwierigkeiten, die Gelenkschmerzen, die nicht nicht erholsamen Nächte, das soll jetzt mein Leben sein? Muss ich mir jetzt echt einen Rollator anschaffen? Kann ich überhaupt die Wohnung im zweiten Stock behalten, muss ich nicht besser jetzt nach einer Erdgeschosswohnung Ausschau halten, einer behindertengerechten nicht bezahlbaren Wohnung ausserhalb der zu teuer gewordenen Südstadt, jetzt, nachdem ich den Großteil meines Erbes in den Umbau meiner Wohnung hier gesteckt habe?
Die Aussichten waren bedrückend, die auf mich zurollende finanzielle Not, die sämtliche Entscheidungen extrem beeinflussen würden, mein körperliches wie seelisches Desaster, alles in allem, meine Stimmung erholte sich nur mäßig.
Dazu kam, dass ich Abscheu gegen Fleisch entwickelte, das ist ja nicht weiter schlimm, eigentlich sogar großartig, ich wollte eh meinen Fleischkonsum aus allen naheliegenden Gründen reduzieren, aber jetzt diese Art Ekel war nicht normal, das war ein Symptom, aber für was?
Ich nahm es trotzdem als positive Begleiterscheinung meines neuen Lebens als Krüppel.
Tommy konnte mich auch nicht erheitern. Im Gegenteil, wir gerieten oft in Streitereien, oder ich begann zu schweigen, weil ich anderer Meinung war, aber es als sinnlos erachtete da zu widersprechen. Weil mich dieses „Runterschlucken“ aber auffüllte mit innerlichem Ärger oder Enttäuschung, platzte es hier und da dann doch raus, was Tommy dann natürlich verletzte und zu Empörung oder Schweigen seinerseits führte.
Auch Achim fing an mich zu nerven, als er mir einmal übermütig über meinen Arm lecken wollte, schlug ich fast nach ihm.
Um meine Scheiß-Stimmung zu durchbrechen lud ich Meret, Gregor, Britt und Tommy zum Abendessen ein. Tommy konnte nicht, wollte lieber Fussball spielen. Die anderen konnte ich mit einer herrlichen Agrumi-Pesto erfreuen. Ich hatte nahezu zwei Tage lang sämtliche Speisen vorbereitet, das Reiben der Zitrusfruchtschalen ( Aua, Handgelenkschmerzen), Filetieren der Früchte, Enthäuten der Tomaten, Einlegen der Auberginenscheiben, ich gab mir extrem viel Mühe, das Zubereiten war eine Art Therapie, für die ich mir viel Zeit nahm und dabei Podcasts anhörte.
„Drinnies“, ein Podcast in dem eine Frau und ein Mann von ihren Erfahrungen als introvertierte, ängstliche und leicht neurotische Menschen auf so lustige Wiese berichten, wurde zu meinem Dauerbegleiter, alles ich. Angst und Nervosität vorm Handwerker, der gleich kommt, ich, Einkaufswagen an der Kasse hinter sich stellen um Abstand zum Kunden hinter mir zu gewinnen, ich, sich in „Bubbles“ zu verlieren, stunden- oder tagelang einem Thema, bei ihr große Wohnmobile, bei mir „Slime selbst herstellen“ online hinterher recherchieren, ich. Und Geschichten, die sie erlebt hatten, die mir nicht passiert sind, würde ich eins zu eins genauso wahrnehmen wie sie.
Mit Tommy dann über Podcast generell gestritten, er hält sie für überflüssig, sinnlos, uninteressant, unnötige Zeitfresser. Ich forderte ihn heraus einen Rant gegen Podcasts zu verfassen, dem ich meine Hommage an Podcasts hier im Blog gegenüberstelle, so wie diese eine Rubrik in irgendeiner Zeitschrift, in der sich ein Autorenehepaar einem Thema widmet, bei der sie unterschiedlicher Meinung sind. Er sagt – sie sagt.
Aber das hat Tommy bis jetzt noch nicht gemacht.
Seit Tommy seinen neuen E-Roller hat und deswegen verschiedene Läden oder Stellen aufsuchen musste, wo er mit Motorradhelm-Verkäufern und Versicherungs-Nummernschild-Händlern, also mit ganz normalen Menschen zu tun hat, ist er ganz verliebt in die Menschheit. Die Sonne strahlt mit Tommy um die Wette, alles ist so warm und weich, er ist richtig selig und schnurrt wie sein neues Gefährt durch die Gegend.
Sie seien alle so lieb, so verbindlich und so schnell in persönliche Gespräche verwickelt gewesen, ihm und seinem Roller anerkennend zugetan, eine reine Freude diese Unterhaltungen.
Ich dagegen hasse die normalen Leute, wie die, die mir neulich meinen Leergutbon aus meinem Aldi-Einkaufswagen geklaut haben. Diese "normale Frau" vor mir in der Schlange, die einen Leergutbon mit ungefähr dem gleichen Betrag, den meiner aufwies, 3,40 Euro, verdächtigerweise extra abgibt, also ihre beiden Waren gesondert zahlt, und ich mich nicht traue sie anzusprechen, bzw. mir nichts einfällt, das ich sagen könnte, ohne sie des Diebstahls zu bezichtigen, denn es kann zu einem verschwindend geringen Prozentteil ja doch sein, dass es tatsächlich ihr Leergutbon ist. Das macht mich wahnsinnig. Wie ich tatenlos zusehen muss, wie die Verdächtige damit durchkommt. Und großer Ärger pulsiert in mir hoch, weil ich es nicht ertragen kann, die Fresse zu halten. Deswegen sage ich nur laut in Richtung Kassierer, der gerade anfängt meine Sachen zu scannen, während sie hektisch ihr letztes Teil in die Einkaufstasche stopft und überstürzt abhaut, dass ich mich so ärgere, weil doch tatsächlich jemand meinen Leergutbon aus dem Wagen geklaut hat.
„Ja, das ist ärgerlich.“ sagt der Kassierer desinteressiert und scannt stoisch weiter. Das ist mir zuwenig Anteilnahme, also stänkere ich weiter:
„Wie kann man nur! Ich hatte den Bon fest in der Topfpflanze verankert!“
„Ja, blöd.“
„Unglaublich! Ich bin richtig sauer!“
„Das kann ich verstehen.“
Auf ihn kann ich null zählen, er ist eh durch und verlangt 23,46 Euro.
Hab ja auch wieder mit Yoga angefangen, im Studio darf ich in einer Ecke mitmachen, während die Meisterin online unterrichtet. Beim ersten Mal hatte ich dreimal geheult. Zweimal wegen Schmerzen, einmal wegen Frustration, weil alles vorbei ist, dass ich nie wieder auch nur annähernd Übungen so hinkriege wie vor zwei Jahren, was auch schon jämmerlich war, wenn man bedenkt wie beweglich und enthusiastisch ich vor 20 Jahren war und tatsächlich auf Anraten meiner Meisterin selbst eine dreijährige Hardcore Ausbildung zur Iyengar-Lehrerin ins Auge gefasst hatte. Damals entschied ich mich dann aber stattdessen für eine zweijährige Ausbildung zur psychologischen Beraterin auf Heilpraktikerbasis, die ich mit Bravour abschloss, aber dann doch, wie so oft in meinem Leben, wieder in eine neue Richtung tingelte und den Raum für Kunst und Musik betreute, praktisch als Galeristin und Veranstalterin fungierte, was enormen Spaß und Ruhm brachte, aber gleichzeitig finanziell nicht tragbar war, weil ich mich weigerte kommerziell zu handeln, weil ich den „Spirit“ erhalten wollte, den Zugang zu bildender Kunst und Konzerten jedem kostenfrei ermöglichen, ich wollte Leute neu vernetzen, mein eigenes Netzwerk nutzen um wunderschöne Eröffnungen, legendäre Auftritte und Partys zu veranstalten. Dieses eigene Netzwerk half mir dann auch großzügig dieses Projekt nach fast zwei Jahren schuldenfrei zu beenden. Da wurde ich auch schon abgeworben von einem befreundeten Gastronomie-Ehepaar, das gerade die Aachenerstraße eroberte, um deren Traum von einem eigenen kleinen Club mit einer engagierten Bookerin am Start zu verwirklichen. Es gab auch da dann wirklich fantastische Nächte, überfüllt, kreischend, Glitzer, Hingabe und Liebe unter den Tanzenden, aber auch viele Nächte die vom Publikum her ins Leere liefen, wenn auch musikalisch grandios, ich stehe da heute noch zu, was sich aber mal wieder nicht rechnete. Auch das setzte ich in den Sand. Wobei ich bis heute darauf wette, dass wenn man dem Ganzen mehr Zeit als nur ein halbes Jahr gegeben hätte, es sich etabliert hätte, die fetten Bookings die coolen, aber unbekannten Nachwuchs DJs mitfinanziert hätten, ein wundervoller kleiner Club mit Gesicht, einem eigenen Profil, entstanden wäre. Hätte, hätte, Perlenkette. Nach mir wurde der Club an DJs und Veranstalter jeder musikalischen Couleur vermietet, die ihre eigene Anhängerschaft mitbrachten oder auch nicht, aber das dann nicht mehr auf Kosten der Betreiber. Finanziell ertragreicher, aber keine eigene Note mehr. Jeder wie er will.
Meine wahre Bestimmung habe ich dann ja nach zig Jahren in meinem jetzigen Beruf, indem ich nun tatsächlich am längsten arbeite, nämlich seit über 10 Jahren, gefunden: In der Betreuung von Irren, Verlassenen, Querulanten, Miesepetern, Erschöpften, Traurigen und Sterbenskranken. Da kommen alle meine Skills endlich zum Tragen. Bis auf die Sterbenskranken hatte ich mein Leben lang mit solchen Geschöpfen zu tun, gehöre ja selber zu ihnen.
Von einem auf den anderen Tag konnte ich plötzlich gut schlafen, musste im Halbschlaf meine Beine nicht mehr händisch verlagern, konnte gut aufstehen, ohne einzulaufen, ich merkte erst am Nachmittag, dass ich nicht mehr humpelte. Ein Wunder war geschehen. Ich beobachtete das noch drei weitere Tage um völlig euphorisch festzustellen, es ist vorbei, der Schub ist vorbei, es war kein Dauerzustand, kein nächster Zustand einer fortschreitenden Behinderung, es war nur ein Schub, ein mehrere Monate andauernder Schub, aber ich kann wieder Treppensteigen, normal gehen. Natürlich habe ich noch Schmerzen, in der Leiste und in den Knien, manchmal knicke ich auch unvermittelt weg, aber dieses völlig hilflose Rumgehumpel ist vorbei. So plötzlich wie diese Veränderung stattfand, hob sich auch meine Stimmung.
Mit bester Laune verfolgte ich alle Horrormeldungen, von den Überflutungskatastrophen in unmittelbarer Nähe, und weitere Klimaveränderungsresultate wie 40 Grad in Kanada und Dauerhitze von über 40 Grad in Griechenland und in der Türkei, gefolgt von nie dagewesenen Waldbränden, die zurzeit immer noch andauern, am 29. Juli war der Erdüberlastungstag des Jahres, im Vorjahr waren die Ressourcen aufgrund der Corona Pandemie erst am 22. August verbraucht.
Ich schaute mir die Premieren der Weltall-Flüge von Richard Branson und Jeff Bezos an, faszinierend und gleichzeitig verstörend, vor allem diese pimmelartige Rakete von Jeff Bezos. Beim Rumdaddeln und Dauerglotzen von Dokus und Filmen fand ich immer noch keine Erklärung dafür weshalb in Krimis Polizisten gefesselten Gefangenen den Kopf runterdrücken, wenn sie sie ins Auto schieben, sie sind doch schließlich nur an den Händen gefesselt, sie können doch selbst den Kopf ducken beim einsteigen, ich verstehe es einfach nicht.
Habe mit Farine, auf die ich ein Wochenende aufpasste während ihre Eltern in Paris raven gingen, endlich selber Slime hergestellt, weil sie als 10-Jährige die einzig wirklich Interessierte in meinem Freundeskreis war, die das Thema und die Herstellung beeindruckte, wobei das zu schlimmen Farbspritzern auf den weißen Sofakissen ihrer Eltern führte, wir hatten pinke Lebensmittelfarbe benutzt um unseren Slime noch schöner zu machen, was ich durch gelbe Kissen, die ich vor die weißen platzierte, verdeckte, zum Abendessen kreierte ich einen kleinen Nachtisch aus geschnittenem Obst, da konnte ich beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen.

Leider bekam ich an diesem Wochenende wieder mal so heftigen Durchfall, dass wir die Wohnung nicht verlassen konnten, stattdessen stundenlang eine Kinder-Serie schauten, in der drei Mädchen in Farines Alter anhand von Koch-und Backrezepten zaubern konnten, was mich dann auch sehr fesselte, ein bisschen Yoga machten wir auch, ich brachte ihr Kopfstand bei und sie, die kleine Gummipuppe, konnte aus dem Stehgreif auf meine präzisen Anweisungen hin eine perefekte Supta Virasana Stellung hinlegen. Als ihre Eltern wiederkamen, sie das wie eine Katze schon vor dem Türe öffnen wahrnahm und ihnen freudig entgegenhopste, und nach den Begrüßungsküsschen unvermittelt, dabei ganz stolz, petzte:
„Wir haben die ganze Zeit nur geglotzt!“
Die Glücksvorstellung aller Eltern. Das Kind nonstop vor der Glotze. Obwohl das natürlich nicht so ganz stimmte, konnte ich dieses miese Zeugnis über meine Babysitterfähigkeiten, die ich auch noch mehr als großzügig entlohnt bekam, nicht entkräften und schaute betreten zu Boden.
Beim Telefongespräch mit Carina aus Berlin, beste Ornithologin und Vogelrechtkämpferin der Welt, jammerten wir ausgiebig über unser dahinkrebsendes Dasein, nix bringt was, keiner lobt uns, nirgendwo ein Geldregen in Sicht, und sie, die völlig akribisch über einen Monat an einer Art Gutachten über Vogelschutz zu einem bestimmten Projekt geschrieben hatte, in dem sie auch ein offizielles Gutachten eines renommierten wissenschaftlichen Gutachters in Grund und Boden stampfte, weil dieser völlig laienhaft dahergelabert hatte, und dafür ein vielfaches an Honorar bekommen hat, was Carina am Ende für diese Wahnsinnsarbeit erhält, dabei eine schlimme Sehenentzündung oder sowas bekommen hat, und sie ihren Arm kaum noch bewegen kann, und alles ist scheiße und undankbar, und es wird wohl nie besser werden.
„Ach was, Carina! Das wird irgendwann belohnt, karmamäßig kommt der Erfolg an anderer Stelle irgendwann, und dann werden dich alle bewundern!“
„Aber dann bin ich sehr wahrscheinlich schon gelähmt, und kann eh nichts mehr machen!“
„Nein, du wirst der Stepen Hawking des Vogelschutzes! Sie werden dir zufüßen liegen, dich bewundern, du wirst mit deinem Kinn bedeutende Nachrichten auf dem Tablet an die Welt schreiben! Mit Strohhalm in der Nase Vogelstimmen imitieren! “
Mit dieser Prognose gab sie sich zufrieden.
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