Sonntag, 5. September 2021
- Mai Buko
- 5. Sept. 2021
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Nov. 2021
Was soll ich sagen. In Anbetracht der Dinge die gerade alle passiert sind, oder aktuell passieren, sind meine eigenen Befindlichkeiten so profan, und doch in meinem eigenen Kosmos so gravierend, dass ich gerade kaum Licht am Horizont sehe. Dazu sieht es in der Welt gerade so aus: Klimakatastrophen, mit nie dagewesenen Temperaturen, 50 Grad in Tunesien, 48,8 auf Sizilien, in Griechenland ist es auch nicht viel besser, horrende Brände, auch in Algerien, in der Kabylei, wo Freunde unserer Familie leben, aber ihnen geht es gut, wie ich über Facebook von Safia erfahre, dann die ganzen Flut- und Überschwemmungskatastrophen bei uns in Deutschland, aber noch viel schlimmer in Japan oder den USA, Land unter in New York durch Hurricane Ida, schweres Erdbeben in Tahiti, die Taliban erobern in Windeseile Afghanistan zurück und lassen einen ohnmächtig das Furchtbarste erwarten, Impfdosen müssen in Deutschland vernichtet werden, weil sie nicht mehr zu gebrauchen sind, da sich irgendwie keiner mehr impfen lassen will, obwohl wir gerade mal nur 60 % der Bevölkerung durchgeimpft haben und gleichzeitig aufgrund der hochinfektiösen Delta-Variante die Inzidenzwerte schon wieder bedrohlich steigen, vermehrt jetzt Erkrankungen bei jungen Menschen.
Und prompt hat sich David angesteckt, der erst vor kurzem aus Zypern zurück ist und kurz vor seiner ersten Impfung stand. Mit leichten Symptomen zwar, aber dennoch hatte ich Angst, weil ja alles so unberechenbar ist im Moment. Mittlerweile geht es ihm wieder gut, er ist "freigetestet", gilt als "genesen", was ja eine Impfung erstmal erspart, aber sein Geruchs- und Geschmacksinn sind noch nicht wieder zurück.
Das stelle ich mir ganz schlimm vor, bei mir würde es eine meiner letzten verbliebenen Freuden im Leben zerstören. Essen schmeckt nach nichts? Schöne Düfte weg? Alptraum!
Aber es gibt Hoffnung, dass dieser Verlust rückläufig ist.
Und immer noch besser als an einer Beatmungsmaschine gelandet zu sein.
Meine körperlichen Erkrankungen, zu denen sich täglich neue gesellen, sind nicht nur furchtbar peinlich, ich schäme mich richtig für all meine Schmerzen, spiele es runter wann immer es geht, aber kürzlich hätte ich fast aufgrund einer erneuten Entzündung ins Krankenhaus gemusst, doch es ging gut aus, und ich ging viel zu früh wieder arbeiten, weil ich es zuhause nicht aushielt, und die Arbeit mich jedesmal davon abhält noch tiefer in Depressionen zu fallen, da da immer etwas Wichtiges zu tun ist, ich gebraucht werde, ich die Liebe meiner Bewohner brauche, und es auch brauche dort meine Liebe zu verteilen, und natürlich weil ich alles am besten kann, bis hin zur Organisation und Umsetzung der beiden Grillfeste vor wenigen Tagen und des ersten Gottesdienstes seit anderthalb Jahren.
Der Neue Sozialarbeiter ist einerseits eine große Hilfe, weil er patent und ideenreich ist, aber sein Ideenreichtum und seine Kritik an vielen Dingen, die bei uns nicht so richtig rund laufen, sind natürlich auch anstrengend, weil ich andauernd erklären muss, weshalb dieses oder jenes nicht umsetzbar ist, oder wann man besser erstmal diplomatisch vorgeht, und ich andererseits manche seiner Vorschläge direkt umsetze, was alles in allem eine wahnsinnige Zusatzbelastung darstellt.
Ich vermisse Anouk, mit der ich all diese Veränderungen und Verantwortungen mindestens geteilt hätte, im Moment komme ich mir ziemlich allein vor, in sämtlichen Aufgabengebieten, dem Anlernen des Sozialarbeiters und der neuen Mitarbeiterin in unserem Soziale-Begleitung-Team, von der Umsetzung der Resultate bei Fallbesprechungen der Bewohner, über die Ideen für Dekorationen der Veranstaltungen und deren Beschaffung, bis hin die Tische und Stühle auf der Terrasse wieder umstellen, weil meine Leute nicht checken, dass dort vielzuviele Bewohner in 10 Minuten in der prallen Sonne sitzen und deswegen umkippen werden, obwohl sie den Lauf der Sonne seit Jahren in unserem Garten auswendig kennen müssten. Mannomann.
Und natürlich dazwischen immer wieder die Planung der Gruppenangebote, das Verändern des Dienstplanes, weil immer wieder neue „freier Tag“-Wünsche oder Krankheitsfälle dazu kommen.
Wenn dann Frau Z., nach ihrer Mutter und Schwester rufend, beruhigt werden muss, Frau D. in Dauerschleife erklärt bekommen muss, wo sie hier ist, Herr N. beschwichtigt werden sollte, wenn er sich anderen Bewohnern gegenüber aggressiv verhält, Frau Sch. an ihrem Sterbebett die Hand gehalten wird, während sie mit geschlossenen Augen nur noch wimmert, dass sie endlich für immer einschlafen will, die 103jährige Frau K. mich völlig misstrauisch aus ihrem Zimmer scheucht, weil ich alles schuld bin, das hätte ich nun davon, das hätte ich mir mal vorher überlegen sollen, der Koffer sei jetzt weg, und wird nicht mehr gefunden, und Frau S. mich täglich daran erinnert, dass sie ja Mitte September 90 wird und ich ihr ja versprochen habe, mich um ein kleines Fest zu kümmern, mit einer Käsesahnetorte, obendrauf mit etwas Mohn, einer bunten Tischdekoration, wobei ich fast sicher bin, dass sie es bis dahin gar nicht mehr schafft, weil sie auch schon sämtliche Kräfte verlassen haben, und sie hauptsächlich im Bett liegt, oder unter der Haube unserer Hausfriseurin kollabiert, und das Ehepaar H., das wieder zurück in seine Wohnung will, die es aber nicht mehr gibt, und der größte Teil ihres Hab und Guts der Überschwemmung zum Opfer gefallen ist, und J., der geistig und behinderte Bewohner in meinem Alter, sich mir endlich öffnet, und gemeinsam mit mir Lösungen finden will um aus seiner Verschuldung herauszukommen, die er sich aus seinen unzähligen Bestellungen von Volkslieder-CDs und Porno-DVDs zusammengeschustert hat, und zum Beweis sämtliche Kataloge und Prospekte vor meinen Augen zerreißt und in den Mülleimer wirft, dann bin ich in meinem Element.
Weil das anscheinend alles ja noch nicht genug ist, kam ich kürzlich auf die Idee ein duales Studium zu beginnen. Also in einer Hälfte der Woche weiter meinen Job zu machen, und in der anderen Hälfte in einer dafür zuständigen Hochschule Sozialarbeit zu studieren.
Ich recherchierte und fand heraus, dass das Arbeitgeber gar nicht mal so ungern sehen, da sie irgendwie auch davon profitieren, denn ich befürchtete, dass wenn ich nächstes Jahr mit 60 Jahren beginnen würde, und mit fast 64 Jahren promoviert hätte, ja nur noch 3-4 Jahre bis zu meiner Pensionierung übrig wären. In denen ich dann allerdings fast das Doppelte verdienen würde. Das war natürlich mein Anreiz.
Ich würde dann gerne die Stelle des Sozialarbeiters, den ich gerade anlerne, übernehmen. Aber das geht nicht, denn die Stelle wird ja dann besetzt sein. von ihm, wenn er sich gut hält, oder von jemand Neues, der in der Zwischenzeit angestellt wird.
Die Heimleiterin hätte also nichts dagegen, aber sie könne mir keinen Job anschließend versprechen. Und ich will ja, wenn, genau da bleiben, ich will genau meinen Job, wenn auch ein wenig erweitert, so wie die Stelle unseres neuen Sozialarbeiters, weitermachen.
Dafür hätte ich einen weiteren finanziellen Abstieg für die Dauer des Studiums, also die Notwendigkeit einer Aufstockung durch Hartz 4, ertragen, um meine letzten Arbeitsjahre, bevor ich endgültig in die Altersarmut rutsche, ohne Geldsorgen hätte genießen können.
Die Zusatzbelastung eines Studiums, diese Herausforderung, hätte ich angenommen.
Ob aus grenzenloser Selbstüberschätzung kann ich nicht sagen.
In den letzten Tagen, in denen ich soviel krank darnieder lag, reflektierte ich sämtliche Stationen meines Lebens, bedauerte hier und da meine ständigen Unsicherheiten in Bezug auf mich selbst, die mir sämtliche Steine in den Weg gelegt hatten, die mich falsche Entscheidungen hatten treffen lassen. Heute strotze ich vor Selbstgewissheit, ich hab das Gefühl ich könnte alles machen, ich wäre eine fantastische Innenarchitektin, Modeschöpferin, Fotografin, Filmemacherin, Redakteurin, Galeristin, Designerin, Restaurantbesitzerin, Hoteliere, Therapeutin, egal was mir jemand jetzt aus Übermut anbieten würde, ich würde den Auftrag annehmen, klar, ein wenig aufgeregt sein, aber ich würde mich auf mich und meine Ideen verlassen, und es durchziehen und sehr wahrscheinlich tolles Zeug abliefern.
So großkotzig denke ich jetzt über mich, und bin gleichzeitig gelähmt von den ganzen Vorarbeiten, die ich da in die Wege leiten müsste, oder eben von meiner fehlenden Fähigkeit mich zu verkaufen, anzupreisen, darzustellen, und natürlich der fehlenden Zeit, die ich in der Realität gar nicht habe, weil ich entweder in meinem Job arbeite, oder krank und handlungsunfähig bin, und die fehlende Zeit, die ich überhaupt noch habe.
Das Resümee ist also niederschmetternd, zieht mich noch mehr runter, wenn ich so, alle Fakten zusammenziehend, auf meine Zukunftsperspektive sehe.
Das Studium lasse ich also sein, weil sich dieser Aufwand nicht lohnt, da ich als frischgebackene, Sozialarbeiterin, die aber dennoch schon ziemlich alt ist, und kurz vor der Rente steht, keine großen Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätte, und ich woanders ja auch sowieso nicht arbeiten möchte.
Es bleibt also alles vorerst wie es ist, ich werde weiterhin mit Tommy meinen Cappuccino im Sette trinken, wenn es irgend geht, auswärts essen, ich werde weiterhin größere Menschenansammlungen vermeiden, nur wenn sie geordnet ablaufen, wie im Kino, der Philharmonie, oder eben auf Restaurantterrassen, wagen.
Meine Soziophobie hat sich tatsächlich durch die Coronazeit manifestiert, ich muss da wohl etwas aufpassen, kleine Ausbrüche riskieren, damit ich nicht völlig nerdig zuhause versauere. So wie Freitag, als ich mit Britt ins Olympia fuhr. Dort hatten schon Marie und Daniel den letzten freien Tisch für uns belagert, es war proppenvoll, hinter mir der DJ und die Beschallung, zwischen allen Tischen ein Gewusel, die Bewegungen und die Geräuschkulisse ließen mein Herz rasen, mit etwas Wein intus war es erträglicher, aber Tommy begann schon wieder mich auszubremsen, da ich eventuell schon wieder peinlich agierte oder unangenehm auffiel.
Dazu kam meine grenzenlose Müdigkeit, da ich die Nacht vorher nur 2 Stunden schlafen konnte, da mich meine neuartigen und unbegreiflichen Schulterschmerzen wach hielten, und ebenso belastend stellte sich die Abhängigkeit von Britt heraus, da ich nur mit ihr, in ihrem Auto, in dem noch unsere Einkäufe vom italienischem Supermarkt lagen, diesen Ort hätte verlassen können, denn die Bahn streikte, auch die Scheiß-S-Bahnen, und mein Fahrrad stand noch vor ihrem Haus. Das machte mich ganz nervös, denn ich wollte keine Spielverderberin sein und drängeln, andererseits sehnte ich mich nach meinem eigenen Klo und meinem Bett.
Ich bin froh es gemacht zu haben, aber auch wieder überzeugt, dass ich da noch genauer vorausplanen muss, um auf alle Eventualitäten reagieren zu können um unabhängig zu bleiben.
Das Konzert von Gregor heute Abend im Bumann, bei dem auch Tommy auflegt, habe ich vorausschauend schon vor einer Woche abgesagt.
ganz toller Text
🥰🥰🥰