Sonntag, den 9. Januar 2022
- Mai Buko
- 9. Jan. 2022
- 4 Min. Lesezeit
Hab mir eben eine Doku über die Eremitage angeschaut. Das allein war schon ziemlich beeindruckend, aber dann faszinierte mich der Fluss unmittelbar davor, die Newa, die anscheinend sehr kurz ist, aber doch so kraftvoll wie der Rhein, dann interessierte mich Sankt Petersburg im allgemeinen, ich las Wikipedia Einträge, Reiseblog-Beiträge, schaute mir noch sämtliche Dokus auf Youtube an.
Jetzt hänge ich seit zwei Stunden auf booking.com rum und schaue mir Hotelzimmer in Sankt Petersburg an. Unglaublich. Es gibt wirklich schon Übernachtungen ab 6 Euro. In so „Capsule-Hostels“. Ich könnte auf gar keinen Fall in so einem Mehrbettzimmer schlafen, selbst wenn da nur Frauen sind. Ich dreh ja schon im Krankenhaus durch, wenn ich mit ein bis zwei Leuten das Zimmer teilen muss, weil ich entweder Angst habe zu schnarchen und dadurch die anderen deswegen stören könnte, deshalb krampfhaft wach bleiben will, was ja zur Genesung keinen Schritt beiträgt, oder weil jemand anders schnarcht, und ich deswegen Aggressionen aufbaue.
Aber es gibt auch wunderschöne Zimmer ab 35 Euro. Im Zentrum, in großartigen Altbauten, meist kitschig, pompös, mit Zierkissen und überall Dostojewski-Abbildungen, oder modern, mit Pop-Art-Kacheln auf den Stiegen, alles herrlich.
Die Reise dorthin habe ich auch schon gründlich gecheckt. Flüge waren am günstigsten, aber ich entschied mich für Abenteuer von Anfang an. Also mit dem Zug. Zuerst nach Berlin, dann gibt es verschiedene Möglichkeiten nach Moskau zu gelangen, unter anderem mit dem Trans-Europ-Express (ja, genau! Nicht Trans-Europa-Express wie von Kraftwerk), der aus Paris kommt, aber auch andere Nachtverbindungen mit schönen Schlafkabinen. In Moskau gibt es wiederum zig Möglichkeiten nach Sankt Petersburg zu fahren, man wäre theoretisch in ca. vier Stunden da, aber es gibt auch noch 25 verschiedene Nachtzüge, die die unterschiedlichsten Kabinen anbieten. Ich entschied mich für eine Doppelkabine, alles mit rotem Samt ausgelegt, blitzblankem Edelstahl Bad und Frühstückservice. Die ganzen Zugfahrten kosten insgesamt ungefähr doppelt so viel wie der Flug, aber man spart sich ja zwei Hotelübernachtungen, und reist dazu spannend im Zug!
Im Juni/ Juli kommt es zu den Höchsttemperaturen des Jahres, ca. 21 Grad.
Okay, ich hab gerade gelernt dass Sankt Petersburg die nördlichste Millionenstadt der Welt ist.
Ich habe also alles tippitoppi recherchiert, bräuchte es nur noch buchen.
Aber nein, nicht nur wegen Corona, und der damit verbundenen unvorhersehbaren Entwicklungen, trau ich mich nicht. Ich bin zwar nur einen Millimeter davon entfernt, aber ich behalte diese Idee, die völlig zu Ende gedacht ist, als Plan für irgendwann mal.
Genau so wie meine bis ins Detail geplanten Reisen nach Norwegen wegen der Polarlichter, nach China, zur Mauer natürlich, nach Japan, Indien, Thailand, Hawaii, Irland, Florida, Kalifornien, New York usw.
Ich weiß auch nicht warum mich manchmal diese Reiseplanungsakribie überkommt, irgendetwas flasht mich zufällig, wie heute die Eremitage, und schon geht’s los.
Im Grunde genommen lenke ich mich, heute zumindest, ab.
Von meinen unsagbaren Schmerzen. Seit drei Tagen nehme ich krasse Schmerzmittel rund um die Uhr weil ich in Zahnbehandlung bin, und unschöne Dinge passieren da grad in meinem Mund, von Entzündungen und Druck- oder Hebelschmerzen, Bakterienbefall in der Mundschleimhaut und so ekliges Zeug, dass mir praktisch die ganze rechte Kopfhälfte vom Hals über Kiefer bis zum Ohr und in die Stirn weh tut. Ich kann natürlich jetzt aus zwei Gründen nicht richtig schlafen, einmal wegen meiner „Fresse“, wie ich das ganze Desaster für Tommy liebevoll zusammenfasse, und natürlich auch wegen meiner Hüfte, die ich bei jedem schmerzhaftem Lagewechsel mit diversen Kissen abstützen muss. Ich bin ein körperliches Wrack, nix Neues.
Nach den frühlingshaften Temperaturen um die Jahreswende ist es nun doch noch kalt geworden, es regnet oder hagelt dazu andauernd, es ist furchtbar, klamm, ungemütlich, deprimierend, und immer noch zu dunkel, obwohl die Tage angeblich jetzt wieder länger werden.
Da unsere Stammcafés einfach mal vor Weihnachten bis jetzt Urlaub genommen haben, waren Tommy und ich gezwungen ins Piccola, dem ehemaligen Meister Gerhard, das ja mal über Jahre unser Stammcafé war, auszuweichen. Der junge Kellner ist süß, kennt uns nun schon und quasselt mit uns, aber der Grund weshalb wir damals vom Chlodwigplatz weggingen ist wieder dermaßen präsent und kaum auszuhalten: diese Menschenmengen die eng an einem vorbeiziehen, grölend, telefonierend, mit dem E-Roller, mit Bierflasche in der Hand, mit kreischenden Kindern in überdimensionalen Radanhängern, unfassbar laute Notarzt-, Feuerwehr- und Polizeisirenen mit Strobo-Blaulicht im Minutentakt, die bimmelnde und quietschende Bahn, die mehrmals stündlich fast in ein Auto fährt, das nicht gecheckt hat, im Kreisverkehr anzuhalten wenn eine Bahn kommt, oder Fußgänger zubimmelt, die mit Kopfhörern von der Aussenwelt abgetrennt unbekümmert die Gleise überqueren, das alles ist ein Stress sondergleichen, Adrenalinausschüttung nonstop, mein Herz rast, mein Blick immer schon suchend nach der nächsten Katastrophe.
Unsere kleine Oase, der Zweiertisch draussen am Fenster, der warme Cappuccino oder der leckere Kakao, geben ein wenig Sicherheit, und natürlich ist die Frequenz Bekannte, Freunde oder auf lustige Situationen zu treffen, sehr hoch.
Wir sind ganz ungeduldig, möchten sobald als möglich wieder ins Sette, in unsere halbwegs ruhige Seitenstrasse, wenn auch zwischen Psycho-Klinik und Obdachlosenheim gelegen. Aber die Irren, auf die man hier trifft, sind akzeptabler und gehören irgendwie ja auch schon zur Familie.
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