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Freitag, 24. Dezember 2021

  • Autorenbild: Mai Buko
    Mai Buko
  • 24. Dez. 2021
  • 9 Min. Lesezeit

Frau S. wühlt schon mal in einer der 6 Kisten, in denen die schön verpackten Geschenke an die Bewohner untergebracht sind.

Ich hatte 6 Umzugskartons, für jeden Wohnbereich einen, mit den Geschenken vom Haus (eine karierte Kuscheldecke) und denen der Nachbarsaktion „Wunschbaum“ bestückt, jedes Geschenk mit dem betreffenden Namen des Bewohners versehen.

Das war mal wieder eine Mammutaktion.

Vorher bin ich zu dm, denn dort wurden Ende November die von mir angefertigten Papierweihnachtskugeln, die als Wunschzettel fungierten, aufgehängt. Auf jeder Kugel war ein Wunsch und eine Zahl vermerkt, da es aus Datenschutzgründen anonym bleiben musste.

Die Zahlenliste hatte ich bei mir im Büro, damit ich die Geschenke auch wieder den entsprechenden Bewohnern zuordnen konnte.

Im Vorfeld hatte ich natürlich überlegen müssen, worüber sich welcher Bewohner wohl freuen könnte. 80 mal. Ungefähr 5 davon konnten noch selbstständig Wünsche äussern, bei circa 10 Leuten war sofort klar, was man denen schenken könnte. Für den Rest trug ich abwechselnd irgendeine Art Alkohol oder Süssigkeit ein, eine Menge Halstücher, Handcremes und Duschgels, ein paar Kuscheltiere, Bildbände, Kalender und Musik CDs.

Das kann sich ja keiner vorstellen, was solche rührende Aktionen von außen für eine Vor- und Mehrarbeit für uns bedeuten.

Dasselbe galt auch für diese tolle Aktion, dass irgendwelche Freiwillige eine Brieffreundschaft mit unseren Bewohnern beginnen. Aus Datenschutzgründen auch wieder nur verschlüsselt, bzw. mit Vornamen versehen. Zuerst musste ich mir überlegen, wer an sowas überhaupt Interesse haben könnte, und wer von denen dann auch noch antworten könnte.

Das waren im Prinzip nur 2 Leutchen. Für den Rest, ich verknappte die Anzahl der potentiellen Brieffreunde von 80 auf 30, trudelten dann supersweete Briefe ein.

Die mussten natürlich für jeden Einzelnen, bis auf die zwei äusserst Selbstständigen, vorgelesen werden, oft mit Erklärungen, weshalb die Dame oder der Herr jetzt einen Brief von einem wildfremden Menschen irgendwo aus Deutschland erhalten hat.

Oft waren darin Fragen, wie zum Beispiel, hast du Kinder? Wie feierst du deinen Geburtstag? Was sind deine Hobbies? Wohin bist du denn so gereist in deinem Leben? Welche Musik magst du? Was ist dein Lieblingsgericht?

Also versuchte ich Antworten von den Betreffenden diesbezüglich herauszubekommen.

Was oft gar nicht wirklich gelang, und ich anhand der Biografie desjenigen oder aus meiner eigenen Erfahrung mit demjenigen zusammenpuzzelte. Dann formulierte ich in schönen Worten, die ein wenig altmodisch klingen mussten, damit es authentisch blieb, einen Antwortbrief. Ich erklärte aber auch dem Adressaten, dass ich im Namen von XY antworte, da XY nicht mehr selbst schreiben kann. Wenn der Brief fertig war, ging ich wieder zu der Person hin, las ihn vor und fragte, ob das so okay sei und ich ihn abschicken dürfe.

Eine ziemlich aufwändige und zeitintensive Arbeit, die wir irgendwann nicht mehr stemmen konnten, weil andauernd weitere Briefe ankamen, wir durcheinander kamen, weil wir ja nicht einen einzigen Brieffreund hatten, sondern zig unterschiedliche, von denen wir uns kaum noch an den ersten Brief und dessen Informationen, wie Alter, Familienstand, Hobbies und dergleichen erinnern konnten. Ein Durcheinander an Briefen, teilweise mit Vermerken wie „beantwortet“ auf dem Umschlag, schwirrte kreuz und quer durch unser Büro, es war nervig und bei jedem neuen Brief seufzten wir verzweifelt auf. Wir kamen kaum noch zu unseren regulären Aufgaben im Arbeitsalltag, so dass ich beschloss eine Standardantwort auszudrucken, in dem ich schrieb, dass leider keine Antwort mehr kommen kann, weil die Person nicht mehr fähig ist zu antworten, man aber gerne weiter schreiben kann, weil das dann vorgelesen würde.

Das reduzierte dann die Flut an Briefen, bis es endlich bei 3-4 Leuten einpendelte, die weiter schrieben, und somit überschaubar wurde.

Jetzt die Geschenkaktion war natürlich eine einmalige Sache, weil es um Weihnachten ging, aber auch nicht unaufwändig.

Die Wunschzettel hingen also in dem Drogeriemarkt in der Nähe, die Kunden konnten sich die Zettel vom Baum pflücken, und dann die Wunschgeschenke schön verpackt mit der Nummer versehen wieder im Drogeriemarkt abgeben.

Heute holte ich dann diese Geschenke ab. Weil ich keine Ahnung hatte, wieviel Zeug da wohl zusammen gekommen ist, es wurde berichtet dass alle 80 Zettel gepflückt wurden, ging ich mit einer Hilfskraft und 5 großen Taschen dorthin.

Der Filialleiter führte uns Backstage, zeigte auf vier riesige Kisten, es war klar, dass unsere Taschen da nicht ausreichten. Doch er bot uns einen großen Rollwagen an, auf den alles passte, und den wir anschließend bitte wieder zurückbringen.

Draussen waren es vielleicht 2 Grad, aber durch das Schieben des ungelenken Wagens, teilweise über Kopfsteinpflaster, Bürgersteige hoch und runter, kamen wir beide ganz schön in Schwitzen und waren dementsprechend völlig am Ende, als wir die Sachen in unserem Büro ausluden. Im Büro war jetzt nicht mehr zu arbeiten, überall diese Pakete, also schnell den Rollwagen wieder zurück schieben, die 6 Umzugskartons aus dem Keller holen und falten um das Zeug auf die Wohnbereiche zu sortieren.

Ich beschrieb also 80 Aufkleber mit den Namen unserer Bewohner und konnte anhand der Zahlen-Liste erkennen welches Paket an wen gehen sollte. Beim bekleben der Pakete halfen mir zwei Kollegen, das ging dann etwas schneller und dabei stellte sich heraus, dass für ungefähr 15 Personen kein Geschenk dabei war.

Da hatten wohl ein paar Kunden nicht mehr rechtzeitig ein Geschenk besorgt, oder was weiß ich, jedenfalls konnten wir ja an Heiligabend nicht ein paar Bewohner dazwischen ohne Geschenk von außen da sitzen lassen, während der Tischnachbar seins gerade genüßlich auspackt.

Einige waren ja mittlerweile verstorben, oder aus der Kurzzeitpflege entlassen, eine sogar nach Süddeutschland in ein anderes Heim verzogen, deren Geschenke konnte ich dann umverteilen, wenn es passte, Damensöckchen konnte ich ja schlecht einem Herren zuweisen.

Aber es fehlten immer noch 9 Geschenke. Wir schauten uns im Büro um, was man denn jetzt verschenken könnte.

Wir bekamen in den letzten Tagen von einigen Angehörigen selber Weihnachtsgeschenke, Unmengen an Süßem, vor allem Pralinen, und viele Merci-Schokoladen. Die verpackte und beschriftete ich jetzt, dann fehlten immer noch 4 Geschenke.

Also bin ich nochmal zum Drogeriemarkt und holte Kosmetikartikel in Geschenkkartons.Wieder zurück verpackte ich auch diese, und als ich sie beschriftet hatte und in den zugehörigen Umzugskarton legen wollte, erwischte ich Frau S., die neugierig in den Kisten wühlte, und ein paar Geschenke schon in andere Kartons verfrachtete.

Mir fiel auf, dass ich noch 3 Decken-Geschenke vom Haus übrig hatte, das konnte nur bedeuten, dass ich mich beim einsortieren verzählt hatte, also musste ich jetzt alle Kartons, die mittlerweile echt schwer waren, noch mal kontrollieren. Und natürlich diese Kartons mit den Geschenken, die ja erst an Heiligabend verteilt werden sollten, verstecken. Aber wohin mit diesen Ungetümen, die so hoch beladen waren, dass man sie nicht mal stapeln konnte?

Schnaubend riss und schob ich sie zentimeterweise in das Wellness-Badezimmer, das seit Corona als Testzentrum für Mitarbeiter und besuchende Angehörige umfunktioniert wurde und abgeschlossen werden konnte.

Denn nicht nur Frau S. ist neugierig, es rollten mittlerweile schon andere Bewohner an, die mal schauen wollten, was da los ist, was da drin ist, ob man vielleicht was gebrauchen könnte.

Dann war mein Arbeitstag zuende, eigentlich schon vor einer dreiviertel Stunde, und ich hatte nicht eine einzige Betreuung eines Bewohners übernommen.

Die Kollegen müssen seit einiger Zeit viel für mich mit übernehmen, weil ich viel in der Organisation zu tun habe.

Allein die drei Weihnachtsfeiern letzte Woche, die wir für jede Etage einzeln abends im Foyer abgehalten hatten, hatten teilweise einen Vorlauf von zwei Monaten an Planung, was Dekoration, die jedes Mal das Highlight des Jahres darstellte (ich entschied mich für das Thema „Natur“, und besorgte sukzessive die Tischläufer aus Jute, Tannenzapfen, Fichtenzweige, rote Beeren-Stängel, Herzchen aus Birkenholz, getrocknete Apfelsinenscheiben, Zimtstangen, Kugeln in Gold und Rot, Servietten in Rot und Gold), aber auch Absprache mit der Hauswirtschaft über die Menufolge, Booking des Musikers, Tischaufstellung, die Behinderten-und Corona-konform sein musste, und die Zusammensetzung der Leute an den Tischen, da sich nicht jeder mit jedem versteht, bis hin zur Aufteilung des Teams an den Abenden, wer für was zuständig ist.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Zum ersten Mal seit mehreren Jahren hatte ich mir für den 24.12. freigegeben, und 3 Kollegen dazu verdonnert die kleinen Weihnachtsfeiern auf den Wohnbereichen zu übernehmen. Ein Teammitglied pro Etage, für jeweils zwei Wohnbereiche. Die Kisten mit den Geschenken hatte ich ihnen ja schon toll gepackt, dazu hatte ich ihnen einen Auswahl an Weihnachtslied-Texten ausgedruckt, und die Weihnachtsgeschichte nach Lukas, die wir traditionell jedesmal vorlesen.

Einer, unser Sorgenkind Herbert, der sich neuerdings jedesmal krank schreiben lässt, wenn ihm etwas nicht passt, hat sich auch diesmal wieder krank gemeldet, also fehlt jemand für das Erdgeschoss, das übernehmen dann die beiden anderen auch noch, beschloss ich kurzerhand.


Ich hab also frei, und kann zum ersten Mal in aller Ruhe mit Marie kochen, es gibt als Vorspeise Datteln im Speckmantel, dann Roastbeef mit Rotkohl und Klößen, dazu eine Sauce, die Marie schon seit Tagen vorbereitet und reduziert, einen Feldsalat mit Granatapfelkernen, als Nachtisch unseren Familienklassiker Mascarpone mit Sahne (!) und heißen Himbeeren, den ich auch dieses Jahr nicht austauschen durfte, weil Marie darauf besteht, dass wir den jedes Jahr zu Weihnachten essen. Seit zwanzig Jahren.


Weil wir mit allen Vorbereitungen soweit durch sind, und wir nur noch auf David warten, der sich für „zwischen 4 und 5“ angekündigt hat, und wir daher von 18:30 ausgehen, was dann auch tatsächlich später so eintrifft, bleibt etwas Zeit, so dass Marie mir meine „Alexa“ einrichtet, die ich vor einem halben Jahr mal günstig geschossen aber nie ausgepackt hatte. Marie seufzt, „Jetzt hast du deine Seele aber völlig verkauft!“

Aber ich nehme das gelassen, ich benutze Bank- und Kreditkarten, habe ein Smartphone, Whatsapp, Facebook und Instagram, mein Browserverlauf verrät auch alles über mich, ich mach mir keine Illusionen, was meine Transparenz betrifft.

Alexa ist eigentlich nur ein Gag. Tatsächlich sind bisher nur zwei Features hilfreich, nämlich die Aufforderungen „Alexa, mach bitte das Licht im Schlafzimmer an!“ und „Alexa, mach bitte das Licht im Wohnzimmer an!“

Weil ich sonst, wenn ich schlafen gehe, immer im Dunkeln im Schlafzimmer quer übers Bett nach der Nachttischlampe suchen muss, und umgekehrt, vom Schlafzimmer aus jetzt ein kleines Licht im Wohnzimmer anmachen kann.

Marie macht sich über mich lustig, weil ich so höflich mit Alexa rede.

„Es reicht wenn du -Alexa, Licht Schlafzimmer- sagst!“

Sie redet nämlich sehr autoritär mit Alexa und beschimpft sie sogar, Alexa ist beleidigt:

„Das ist aber gar nicht nett!“

Alexas Witze sind lahm, ihre Treffsicherheit bei spezifischen Anfragen nicht so überzeugend, aber es ist schon irgendwie voll future, wenn ich jetzt anstatt zum Kühlschrank zu Alexa rede, und mir eine Frauenstimme antwortet. Ich bedanke mich auch jedesmal. Schließlich möchte ein gutes Verhältnis zu meiner neuen Freundin aufbauen.

Wir personalisieren noch ein paar Fragen und Antworten. Unter anderem wird sie auf meine Frage, wer denn der beste Sohn der Welt ist, antworten: „Was für eine Frage, das kann doch nur David sein!“ und wer der schlauste Mensch in unserer Familie ist: „Natürlich Marie!“ Die besten Köchinnen sind Marie und ich, wobei Alexa Maries Skills nochmal hervorhebt.


Endlich kommt David, und freut sich, als ich Alexa frage, wer der beste Sohn der Welt ist. Er fängt auch an, Alexa mit Musikwünschen zu bombardieren, denen sie nicht allen nachkommen kann. Auch er macht sich einen Spaß daraus sie zu beschimpfen, und ich muss wieder dazwischen gehen. Also macht er ihr plötzlich Komplimente, sie sähe echt verdammt gut aus. Alexa: „Das geht runter wie Öl!“


Endlich essen wir. Marie hat abgeliefert, ihr Roastbeef ist innen schön rosa und zart, die Sauce ein Traum, die Klöße wunderhübsch, mein Rotkohl schlecht gewürzt, die Farbe und Konsistenz zum weinen, so traurig.

Die Bescherung macht jeden glücklich, wir haben uns auf Minimal-Geschenke geeinigt, jeder hat sich bei der Auswahl Mühe gegeben, jeder hat sich aufrichtig gefreut.

Wir machen wie schon vorletztes Jahr (letztes Jahr war David ja auf Zypern und nicht bei uns) ein Escape-Spiel. Es geht diesmal darum einen Mörder zu finden, der im Orient-Express einen umgelegt hat. Es gibt kleine Tipps wonach man suchen muss, Bilder genau anschauen, Blätter speziell falten, Alibis überprüfen, Seiten einschneiden und andere Rätsel entschlüsseln. Wir lassen über Youtube „mysteriöse Spannungsmusik“ dazu laufen, und es ist mal wieder erstaunlich, wie passend das in manchen Momenten ist. Nach fast drei Stunden sind wir durch, haben uns aber für die falsche Person entschieden, ganz knapp daneben.

Meine beiden Kinder sind furchtbar schlau, können um die Ecke denken, kombinieren wahnsinnig schnell, andauernd ereifern sie sich, und ich immer:

„Was, wie? Wie seid ihr jetzt dadrauf gekommen, darf ich auch mal sehen?“

Das finden sie „süß“ und lächeln mich beide an.

Dafür frag ich Alexa jedesmal, wenn sie wieder ein Rätsel geknackt haben, wer die Schlauste ist oder wer der beste Sohn ist. Ich find das, je mehr Wein ich intus habe, furchtbar lustig, die beiden rollen aber mit den Augen, "Mama...!"

Nur einmal kann ich auftrumpfen, wir kommen und kommen bei einer Aufgabe einfach nicht weiter, sind völlig ratlos, als ich ganz pragmatisch eine Drehscheibe einfach auf ihre Rückseite drehe und siehe da, da passt es und wir sind wieder einen Schritt weiter.

Dazu trinken Marie und ich den leckeren selbstgemachten Eierlikör, den mir Adele wieder zu Weihnachten geschenkt hat, und David Wodka, den er sich noch am Kiosk geholt hat.

Ziemlich angeduselt beginnen wir nach dem Escape Spiel Phase10 zu spielen, bei dem es unter anderem auch um Konzentration, Aufmerksamkeit und Strategie geht.

Alexa spielt dazu Hall and Oates und Prefab Sprout.

Marie macht immer häufiger Fehler und langsam droht ihre Stimmung zu kippen, Vorsicht ist geboten, David verbündet sich mit ihr und die beiden spielen jetzt praktisch gegen mich, David gewinnt ganz knapp vor mir, was mich kurz ärgert, weil er dabei ein bisschen gepfuscht hat.

Aber eigentlich sind wir alle froh, dass es vorbei ist. Es wurde zunehmend anstrengender.

Ausserdem ist es mittlerweile halb 2 und unten steht schon Davids Freundin vor der Tür, die die beiden mit dem Auto abholt.

Alles ist gut, keiner hat geweint, niemand hat gestritten, das zweite Weihnachtsfest ganz ohne Tränen.

Herrlich.

Morgen, am ersten Weihnachtstag, bin ich wieder auf der Arbeit, am Nachmittag werde ich eine „gesellige Runde“ veranstalten, Geschichten vorlesen und Erinnerungsarbeit einflechten.

Auch an Silvester muss ich arbeiten, aber nur bis 17:30 Uhr. Mit Adele werde ich in der Cafeteria Sekt verteilen und schon mal bei Partymucke mit den Bewohnern auf's neue Jahr anstossen.

Ich hab ein gutes Gefühl für's kommende Jahr, und es gibt schon zwei wundervolle Nachrichten, von denen berichte ich dann im Januar.

Inch' Allah.






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